(SZ) Es wird immer wieder versucht, ganze Nationen mit einem einzigen
Adjektiv zu charakterisieren. Das geht subtil, wie im Bonmot Kaiser
Karls V.: "Der Spanier scheint verständiger, als er ist, der Franzose
ist verständiger, als er scheint, der Italiener scheint es und ist es
auch." Geht auch weniger subtil, wie in einem deutschen
Kinder-Kartenspiel aus dem Ersten Weltkrieg, das "Nationenquartett"
hieß und dem Spieler unter anderem und mangels spezifischerer
Klischees anvertraute, "der Bulgare" sei "bös". Doch selbst
vermeintlich positive Eigenschaftszuschreibungen, zum Beispiel der
"Schwarze Humor" der Briten, sind in ihrer pauschalen Freundlichkeit
mit Vorsicht zu genießen. "Nazionalkarakter ist Manier", schreibt Jean
Paul.
Im Sinne des "Nationenquartetts" stellen wir fest: Die Deutschen sind
ängstlich. Sie haben Angst vor der Arbeitslosigkeit, vor steigenden
Rentenbeiträgen, der Globalisierung und vor dem Zahnarzt. Angst beim
Aufstehen, Angst beim Zubettgehen, Angst beim Vorsingen für irgendeine
Superstar-Show. In ihrer Angst drängen die Deutschen sich zu Gruppen
zusammen, von denen sie sich Schutz und Halt erhoffen. Diese
virtuellen Herden nennt man Interessengruppen. Sie sind der Kitt der
deutschen Gesellschaft. Die schlimmsten Ängste bleiben jedoch die, die
so individuell sind, dass eine Herdenbildung als Gegenmittel nahezu
unmöglich erscheint: Gephysrophobie (Angst, Brücken zu überqueren),
Trichophobie (Angst vor Haaren), Pocrescophobie (Angst vor
Gewichtszunahme) oder gar Gynäkophobie (Angst vor Frauen). Schlimme
Erfahrungen, die nicht aus dem Gedächtnis schwinden wollen, sind meist
für solche Ängste verantwortlich. Gerade gegen die Wirkmächtigkeit
solch böser Erinnerungen aber soll es jetzt ein Mittel geben. Der
Psychiater Michael Davis von der Emory University im US-Staat Georgia
hat entdeckt, dass der Wirkstoff D-Cycloserin, kurz DCS, die Angst
schlicht gesprochen auslöscht.
Das ist hocherfreulich für Individualphobiker, die Dank DCS nun wieder
Brücken überqueren, Haare kämmen, Buttercrème löffeln oder Frauen zum
Tanztee einladen können. Aber zugleich stellt sich die Frage,
inwiefern sich das Mittel auch auf die anderen, die
gesellschaftskonstitutiven Ängste auswirkt. Was sollte werden, wenn
mit einem Male jeder Deutsche so gelassen wäre wie sagen wir: der
Brasilianer? Eine stille Revolution von Gleichmut und Heiterkeit
bräche sich womöglich Bahn in Deutschland. Statt aus furcht- und
interessengeleiteten Herdentieren bestünde die Bevölkerung schon nach
mehrwöchiger Einnahme von DCS aus lauter relaxten Einzelgängern. Wäre
es nicht so schrecklich manieriert, man könnte in Versuchung geraten
zu sagen: Dieses Mittel hat das Potenzial, den deutschen
Nationalcharakter zu verändern.