(SZ) Wenn früher das Gespräch auf Kleidungsfragen kam, hieß es
  schnell, dieses oder jenes Accessoire sei "der neueste Schrei".
  Heutzutage sollte man vielleicht eher vom neuesten Gegackere, Gekrähe
  oder sogar Gekakele sprechen, denn auffällig oft finden sich
  Meldungen, in denen berichtet wird, jemand habe sich ein Hühnerkostüm
  übergeworfen. Warum, wieso? Gefiederte Aktivisten stürmten mehrere
  Filialen der amerikanischen Fastfoodkette Kentucky Fried Chicken und
  schmierten - um die Reduzierung des Huhns auf seine Rolle als
  Schenkellieferant anzuprangern - mit Ketchup alles voll. Der
  Schauspieler Larry Hagman will die Spießigkeit seiner Mitbürger
  karikieren, indem er sich im Hühnerkostüm auf seine Harley setzt und
  über kalifornische Highways braust. Gerade hat Hagman, bekannt als
  J.R. Ewing, in einem Interview die Debatte um einen Begriff erweitert:
  sein größter Wunsch wäre ein Hühnerhelm. Schließlich hat das
  Boulevardblatt Sun einen als Huhn verkleideten Mann zur französischen
  Botschaft in London geschickt, wo sich das Huhn eine weiße Feder aus
  dem Kleid riss und sie dem Botschafter überreichte, als Dank für die
  Feigheit der Franzosen vor dem irakischen Feind.

  Das Phänomen ist also weit mehr als ein flüchtiger Modegag,
  tatsächlich hat der Mensch im Huhn ein neues Symbol gefunden, um
  seinem Protest ein Gesicht zu geben, ein Gesicht mit echsenartigem
  Gebaumel am Hals und auf dem Kopf. Er zündelt nicht länger, der
  Mensch, er skandiert nicht, er lässt sich keine lange Matte wachsen,
  er tritt nicht in Hungerstreik, und auch die Pace-Plakate an den
  Häuserwänden sind schon ausgeblichen, von der sengenden Sonne im so
  genannten Jahrhundertsommer. Er greift stattdessen zum Huhn, das -
  sesshaft in der ganzen Welt, aber keiner Ideologie verhaftet - seinen
  revolutionären Zauber längst auch am verstecktesten Ort entfaltet. Auf
  jenem Fußballfeld in Brasilien zum Beispiel, wo soeben ein Fan aus
  Protest gegen die Leistung seiner Lieblingsmannschaft sehr laut
  herumgebrüllt hat. Als niemand ihm zuhörte, setzte er schweigend sechs
  Hühner aus. Da gab es gleich eine Schlägerei auf dem Platz.

  In das Huhn, auch in den Hahn, wurde bislang viel hineingedeutet - und
  gleichzeitig gar nichts. Den Chinesen galt es als Symbol des
  männlichen Geschlechts, auf hiesige Kirchtürme montierte man einen
  Hahn, als Inbegriff von Wachsamkeit, aber auch als Wetterprophet. In
  Traumdeutungsbüchern finden sich verwaschene Mutmaßungen dieser Art:
  "Wollen Sie ein Huhn fangen, werden Sie keine Befriedigung in
  Liebesdingen erfahren." Jetzt aber sagt sogar die in Liebesdingen
  befriedigte Badenixe Pamela Anderson, es sei an der Zeit, in den Augen
  dieser Tiere zu lesen. Sie las darin und fand: Würde, Stolz,
  Entschlossenheit. Also, das Huhn hat seine Rolle gefunden.