(SZ) Hundertster Geburtstag hin oder her: Wie sich Adorno über das
  Laienmusizieren ausgelassen hat, das war schon ätzend. Der Hausmusik
  hat er einmal ins Stammbuch geschrieben, dass das, was sie leistet,
  dank der gesellschaftlichen Arbeitsteilung andernorts besser und
  sinnvoller geleistet werde, weshalb sie "zum unzulänglichen Tun nur um
  des Tuns und des Tuenden willen" herabsinke. Der Chorgesang, selbst
  wenn er in aller Regel außer Hauses betrieben wird, konnte sich da
  durchaus mitgemeint fühlen, und richtigerweise waren es auch dessen
  Funktionäre, die auf Adorno losteufelten und ihm rieten, er solle sich
  seine Musiksoziologie an den Hut stecken. Die Sängerinnen und Sänger
  aber stellten, wie so oft beim Singen, ihre Ohren auf Durchzug und
  erfreuten sich als Tuende ihres Tuns, so unzulänglich es von Fall zu
  Fall auch sein mochte.

  Das heißt nun nicht, dass man sich die Chöre als lauter Inseln der
  Seligen vorstellen darf. Dass sie das nicht sind, dafür sorgen schon
  die Sänger selbst: die Tenöre, indem sie in der Höhe erbärmlich
  forcieren, die Bässe, indem sie bei der Probe Bierflaschen unterm
  Stuhl stehen haben, die Soprane, indem sie sich über Melismen durch
  Jaulen hinwegmogeln, die Altistinnen, indem sie jeden zweiten
  Schlussakkord durch unsaubere Terzen versauen, und die Damen
  insgesamt, indem sie das Fell des Chorleiters verteilen, noch ehe sie
  ihn - jede für sich natürlich - gejagt haben. Dazu kommt die
  verzwickte gesellschaftliche Stellung, in der die Sangesbrüder und
  -schwestern sich befinden. Einerseits gibt es mittlerweile kaum noch
  einen Politiker, der nicht öffentlich erklärt hat, dass unser Volk
  besser dastünde, wenn mehr gesungen würde; andererseits sind es oft
  die nämlichen Politiker, die, während der Chor "Heil'ge Nacht, o gieße
  du" singt, heftig raschelnd in ihrer Festrede herumkorrigieren.

  Auf ein strukturelles und wahrscheinlich auch existenzielles Problem
  wies dieser Tage Ernst Leopold Schmid von der Landesmusikakademie
  Nordrhein-Westfalen hin. Demnach stehen die deutschen Chöre vor einem
  "katastrophalen Männermangel", weil die Buben nicht mehr singen, die
  Erwachsenen weder Lust noch Erfahrung haben und die alten Herren
  wegsterben. Wer selber alt genug ist und seiner Lebtage gesungen hat,
  wird das bestätigen, ja sogar von einem Paradigmenwechsel sprechen
  können. Es gab Zeiten, da waren die Tenöre noch Tenöre, und wenn sie
  gut drauf waren, dann rechneten sie es sich als Ehre an, den Damen vom
  Alt krähend aus vorhersehbaren Patschen zu helfen. Mittlerweile müssen
  sie oft froh sein, wenn sich die tieferen Altistinnen stimmlich zu
  ihnen herablassen, ohne sich körperlich allzu deutlich zu ihnen zu
  gesellen - bei den Aufführungen wenigstens, wo das peinlich wirken
  könnte. Adorno hätte die Entwicklung mit Interesse gesehen.