(SZ) Die großen Menschheitsfragen, mit denen man sich seit Renaissance
  und Aufklärung abmüht, sind ein Prozess, der bisweilen irritierende
  Nebenfolgen freisetzt. Das kann nicht überraschen, denn Freiheit und
  Fortschritt stellen allemal überkommene Gewissheiten, eingelebte
  Gewohnheiten und lieb gewordene Abhängigkeiten in Frage. Damit kommt
  etwas in Gang, was notwendig ambivalent erlebt wird: Was die einen
  begrüßen, wird von anderen verdammt.

  Die jüngste Illustration dieser Dialektik des Erlebens wird
  ausgerechnet aus einer Weltgegend vermeldet, von der man hier zu Lande
  die Vorstellung hatte, dass sich dort die Uhren nach wie vor nach dem
  Gang der Sonne richten: in den vorzugsweise von Kurden besiedelten
  Gebieten fern hinten im Osten und Südosten der Türkei. Um als Mitglied
  in die Europäische Union aufgenommen zu werden, hat sich die Türkei
  einer ganzen Reihe von Reformen unterzogen, die alle den Maßgaben von
  Freiheit und Fortschritt verpflichtet sind. Dazu gehört die vom
  Modernisierungsverständnis des Kemal Atatürk lang verweigerte
  Anerkennung der Rechte und Bräuche ethnischer Minderheiten. Die
  zahlenmäßig größte davon sind die Kurden, die in der kemalistischen
  Türkei als "Bergtürken", will sagen, als mindere, zivilisatorisch
  irgendwie zurückgebliebene Brüder und Schwestern verleugnet und nicht
  als eine Ethnie mit einer ihr spezifischen Kultur und Sprache geachtet
  wurden. Das soll sich nun ändern, weshalb die Kurden als eine wichtige
  Reformmaßnahme die Sprachfreiheit zugestanden erhielten. Das hatte
  unmittelbar zur Folge, dass der erste Pornofilm in kurdischer Sprache
  "Die Phantasien des Großvaters", im kurdischen Original "Xashiki
  Kaliki", reißenden Absatz findet.

  Zwar drängt sich einem spontan die Vermutung auf, dass in einem
  Pornofilm ausgerechnet die Sprache nicht das Medium sei, das die
  Botschaft transportiert, aber in der kurdischen Kultur, die ein Teil
  des rätselhaften Orients ist, mag es sich damit ganz anders verhalten.
  Westlicher Erfahrung hingegen entspricht, dass der Anbruch von
  Freiheit nicht nur einen Fortschritt von Sitte und Anstand, von Kultur
  und Bildung zur Folge hat, sondern vor allem auch Schweinkram
  befördert. Das Exempel dafür liefert der einschlägig notorische
  Marquis de Sade. Als der von der verfassunggebenden Versammlung zu
  Beginn der französischen Revolution aus zwölfjähriger Kerkerhaft
  befreit wurde, in die ihn das Ancien Regime wegen seines lasterhaften
  Lebens gesteckt hatte, dankte der seine Freiheit damit, dass er im
  Sommer 1791 sein bekanntestes Skandalbuch Justine ou les malheurs de
  la vertu veröffentlichte. Sein Verleger war übrigens der Buchhändler
  Girouard, der seinem Gewerbe in der Pariser Rue du Bout du Monde, der
  Straße am Ende der Welt, nachging.