(SZ) Unter Brechts "Fragen eines lesenden Arbeiters" findet sich auch
  die folgende: "Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer
  fertig war, / die Maurer?" So schwer, wie das klingt, ist es nicht zu
  beantworten. Die einen gingen unter die Dusche und dann ins Bett, die
  anderen auf ein Bierchen in den "Grünen Mauerspecht" von Zunhua,
  wieder andere zum Schattenboxen. Einige aber, so die Überlieferung,
  trafen sich auf freiem Felde, um zum Mond zu schauen und wie so oft
  die Frage zu erörtern, was für ein großer Kaiser das sein müsse, der
  dort oben die vielen Ringmauern habe errichten lassen. "Man sieht sie
  ganz deutlich", sagten sie zueinander, und da sie daraus folgerten,
  dass man vom Mond aus auch ihre Mauer sehen müsse, zogen sie ihre
  Schneuztücher heraus und winkten den fernen Kollegen zu. Seitdem gilt
  es als ausgemacht, dass die Chinesische Mauer als einziges irdisches
  Bauwerk vom Weltraum aus zu erkennen ist.

  In China heißt die Chinesische Mauer übrigens nicht "Chinesische
  Mauer", sondern Wan-li-tschang-tscheng, also "Mauer von 10 000 Li",
  und da 1 Li ungefähr 600 Meter misst, kommt man auf beiläufig 6000
  Kilometer. Ein menschenfreundliches Bauwerk war sie nie, weder aus der
  Sicht derer, die durch sie abgehalten werden sollten, noch aus der
  Sicht derer, die sie erbauen mussten. Millionen von Zwangsarbeitern
  sollen dabei umgekommen sein, und da man die Opfer praktischerweise
  gleich dem Baumaterial zuschlug, wurde die Mauer nebenher auch zum
  größten Friedhof der Welt. Die Legende berichtet von weißhaarigen
  Menschen, die der Fron entkommen waren, sich im Wald von Rinden und
  Graswurzeln ernährten und jeden Passanten fragten, ob die Mauer
  endlich fertig sei. Vom Landvolk wurden sie gelegentlich als lokale
  Gottheiten verehrt, eine kleine Kompensation dafür, dass das
  Monumentalbauwerk, für das sie und andere sich krummgeschunden hatten,
  nicht einmal militärisch sinnvoll war. Insofern empfindet man eine
  sozusagen Brecht'sche Genugtuung, wenn man nun hört, dass der
  chinesische Astronaut Yang Liwei die Große Mauer vom Weltall aus nicht
  habe sehen können.

  Wenn man daraus auch keine allgemeinen Lehren über die Schändlichkeit
  bestimmter Mauern und über ihre Winzigkeit angesichts welträumlicher
  Dimensionen ableiten sollte, so muss es doch erlaubt sein, bei dieser
  Gelegenheit an die weiland deutsch-deutsche Mauer zu erinnern. Die
  Kleinstkaiser, die sie errichten ließen, hätten sich mächtig gefreut,
  wenn ihnen ein Kosmonaut gesagt hätte, dass ihn nichts so fasziniert
  habe wie der Anblick dieses Bauwerks. Hat aber keiner gesagt. In der
  Tat wäre die Ul-bricht-tschang-tscheng allenfalls im Sinkflug zu
  erkennen gewesen, doch wäre es keinem Raumfahrer eingefallen, hier zu
  sinken oder gar zu landen.