(SZ) Von Walter Benjamin stammt ein seinerzeit viel beachteter Essay
mit dem Titel "Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker
schrieben". Benjamin entwickelt darin das, was man eine Binsenweisheit
nennen könnte. Bei dieser Binse handelt es sich jedoch um ein Arkanum,
das der Berufsstand der Verleger und Buchhändler als Geheimnis seines
geschäftlichen Erfolgs seit jeher hütet und mit Klauen und Zähnen
verteidigt, und wer daran zu rühren wagt, dem wird der unweigerliche
Verfall der Kultur, wenn nicht gar der Untergang des Abendlands
verheißen. Nun ist dies Geheimnis nicht erst seit Benjamins Essay
keines mehr, aber es wird immer noch so getan. Der kulturelle Anspruch
gehört nun einmal zum Marketing, auch wenn es in Wirklichkeit längst
nach dem Grundsatz funktioniert, der im Angelsächsischen pragmatisch
trash sells lautet - "Schund verkauft sich". Ein Verräter jedoch, wer
das öffentlich eingestände.
Beinahe wäre diese Wahrheit im vergangenen Jahr ans Licht gekommen,
denn als sich die Verleger anschickten, ihre Büchertische unweit des
Frankfurter Bahnhofs aufzuschlagen, sah die ganze Branche am Horizont
ihrer geschäftlichen Erwartungen nur düstere Wolken sich ballen. Die
Umsätze waren im freien Fall, der Handel drohte zu erliegen. Da
erschien als deus ex machina ein Mann: der weiten, kulturell durchaus
interessierten und vor allem vorurteilsfreien Kreisen völlig
unbekannte Musikpromoter Dieter Bohlen. Er wird von der Bildzeitung
seitdem als "Pop-Titan" apostrophiert. Dieser Bohlen veröffentlichte
in einem Verlagshaus, das zum Gütersloher Kulturriesen gehört, ein
Buch mit dem wahrlich programmatischen Titel "Nichts als die
Wahrheit". Auch wenn dessen Leser darüber, was die Wahrheit denn nun
sei, nicht schlauer wurden als weiland Pontius Pilatus, wuchs sich das
Buch dennoch zu einem so gewaltigen Kassenschlager aus, dass die
Verleger und Buchhändler unisono neue Hoffnung schöpften - und die hat
sie nicht getrogen, denn Bohlens Lebensbeichte löste eine gewaltige
Masche aus. Jetzt tut sie ihrem Urheber angeblich Leid. Im
Zentralorgan seiner Titan-Werdung, das nun sein neues Buch "Hinter den
Kulissen" mit großem Lärm auszugsweise vorstellt, hat sich Dieter
Bohlen entschuldigt, "und zwar für die vielen schlechten Nachahmer,
die jetzt im Herbst mit ihren Autobiografien auf den Markt kommen.
Sorry, das habe ich nicht gewollt!"
Das verrät, dass sich Bohlen aufs Geschäft versteht, das sich als
Monopol am besten verzinst. Vielleicht schwant ihm, dass sein
schärfster Konkurrent in diesem Bücherherbst Fritz J. Raddatz ist, der
sich im Umgang mit der Wahrheit viel von ihm abgeschaut hat. Freilich,
im Titel seiner Memoiren nennt er sich "Unruhestifter" und lenkt so
bescheiden davon ab, dass auch er ein Titan ist.