(SZ) Die Deutschen, ein Volk von Radfahrern. Wem dabei Heinrich Manns
"Untertan" einfällt, der denkt nicht an Körperertüchtigung. Er sieht
Dichter, Denker und Bürokraten, die ihrer Karriere Schub zu
verschaffen suchen, indem sie nach oben buckeln und nach unten treten.
Solche Leute gibt es kaum mehr, wie jeder weiß. Aber ein Volk von
Radlern sind wir immer noch - inzwischen jedoch von Bürgersinn,
Umweltbewusstsein und Fitness-Sehnsüchten bewegt. Bei einem
internationalen Velo-Treffen in Paris wurden die Zahlen verkündet: Mit
72 Millionen Fahrrädern ist Deutschland absolut Spitze. Nationen, die
sich einst die Tour de France oder den Giro d'Italia ausdachten,
liegen mit 21 oder 26 Millionen beschämend weit zurück. Auf tausend
Deutsche treffen derzeit 900 Räder. Bloß zwei kleine Völker haben noch
etwas dichteren Besatz. Doch wo Dänen und Niederländer radeln, sind
Steigungen selten und die Distanzen gering. China strampelt außer
Konkurrenz.
Um unser Netz von Fahrradwegen beneidet uns die Welt. Hingegen genügt
ein Tag im Verkehr der französischen Hauptstadt, um bei deutschen
Gast-Bikern akutes Heimweh hervorzurufen, wenn nicht sogar
patriotische Aufwallungen. Gefährlich schwankend manövrieren sie
zwischen Bussen, Motorrädern und Lieferfahrzeugen. Dabei nennen die
Franzosen ihr Velo zärtlich la petite reine - "die kleine Königin".
Aber im Alltag sind sie Republikaner, und Royalisten des Velozipeds
riskieren auf den schmalen Pisten kaum weniger als Königstreue nach
der Revolution von 1789. Wenigstens für den gestrigen Montag wurde zu
Ehren des Rades die Pariser Innenstadt als autofreie Zone ausgerufen,
von der Place de la Concorde bis über die Bastille hinaus, vom
Boulevard St.-Germain bis zu den Grands Boulevards im Norden.
Gerade noch hatten alle in Europa drei Monate lang Kohlenstoff und
Stickstoff gen Himmel geblasen wie nie zuvor und damit, ganz nebenbei,
Tausende von angeschlagenen Mitmenschen unter die Erde befördert.
Danach sind zehn Stunden Verkehrsruhe als Balsam fürs Gewissen fällig.
Mit Heuchelei huldigt das Laster der Tugend - gallische Volksweisheit.
Von der autogerechten Stadt redet niemand mehr. Immerhin hat der
Motorverkehr in Paris im vergangenen Jahr um ein Prozent abgenommen.
Aber dass wir in eine abgasfreie Zukunft radeln, ist auch nicht
sicher. Denn die Zahl der Radfahrer ist gleichzeitig um vier Prozent
zurückgegangen. Man muss weder Verkehrspolitiker noch Soziologe sein,
um auf die Ursache dieser widersprüchlichen Phänomene zu kommen. Es
wird die Krise sein. Wenn jemand seinen Job verliert, dann fährt er
nicht mehr zur Arbeit, weder mit dem Auto noch mit dem Rad. Und wer
kein Geld hat, begibt sich seltener in Einkaufsstraßen und
Amüsierviertel.