(SZ) Erinnerung und Vergessen sind zwei menschliche Eigenschaften, die
auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind. Menschlich, allzu
menschlich ist es, eine unangenehme Erfahrung durch Vergessen zu
entsorgen, sie zu verdrängen, wie der Freudianer listig anmerkt. Es
ist dies ein Prozess, der bisweilen damit beginnt, dass eine
Erinnerung sich selbst fremd wird: durch andere Ereignisse und
Erlebnisse, die mit ihr in einem Zusammenhang stehen, sie verformen
oder gar auslöschen. Das kennen nicht nur alte Ehepaare, bei denen der
eine Partner den Hochzeitstag vergisst, was dem anderen Gelegenheit
gibt, ihn vorwurfsvoll ins Gedächtnis zu rufen.
Ähnlich verhält es sich mit den Erinnerungen von Völkern und Nationen,
die zur Geschichte geronnen sind, also zu einem vermeintlich
objektivierten Erfahrungsschatz, mit dem sich allerlei anstellen lässt
- etwa der Beweis, wie weit man es gebracht hat, wie herrlich und groß
man im Verhältnis zu anderen in der Welt dasteht. Damit Geschichte
aber zur Selbstfeier, zur "Identitätsstiftung" tauglich wird, muss das
Gedächtnis fassoniert, über den Leisten politischer, ideologischer
oder sonstiger Geltungsansprüche geschlagen, sprich manipuliert
werden. Also muss, was in diesem schönen Selbstbild störend auffiele,
möglichst ins Dunkel der Archive verbannt und so dem allmählichen
Vergessen überantwortet werden. Das gelingt nicht immer und überall,
weshalb mancher aus diesem Land gern mit stillem Neid nach Frankreich
hinüberblickt, dessen Geschichte sich ungeachtet aller Brüche und
Abstürze als makellose Kontinuität darzustellen scheint.
Oft nur wird dabei übersehen, dass es, will man diese schöne Ansicht
erhalten, umsichtiger Anstrengungen bedarf. Das illustriert die
Entscheidung des französischen Ministerrats, der unter Vorsitz von
Staatspräsident Chirac jetzt beschloss, den 5. Dezember zum nationalen
Gedenktag für die Gefallenen des Algerienkriegs von 1954 bis 1962 zu
erklären. Das ist insofern bemerkenswert, als dieser Kolonialkrieg
erst vor vier Jahren durch ein Gesetz überhaupt als solcher anerkannt
wurde. Bis dahin war im offiziellen Sprachgebrauch nur immer von den
Ereignissen in Algerien oder ordnungserhaltenden Maßnahmen die Rede.
Dieser späten Anerkennung folgend, wurde im vergangenen Jahr von
Chirac am Pariser Quai Branly auch ein Denkmal für die über 24000
französischen Gefallenen des Algerienkriegs eingeweiht. Das geschah
ebenfalls am 5. Dezember, der jedoch mit dem Krieg in keinem
chronologisch zurechenbaren Erinnerungszusammenhang steht. In
Cagnes-sur-Mer, wo viele Algerienfranzosen leben, gibt es eine
Sackgasse, die bezeichnenderweise "Impasse General de Gaulle" heißt.
Wir sind gespannt, ob der Gemeinderat sich nun zur Umbenennung
durchringt.