(SZ)Es fallen schon die ersten Blätter, der Herbst wird früher da sein
  dieses Jahr. Doch was für ein Sommer dies war! Die Städte waren in
  tiefen Schlaf gefallen, in Paris flüchteten die Fremden in den Louvre
  und nach Notre-Dame, wo es noch erträglich blieb. Am Ufer der Seine
  war es nur des Nachts auszuhalten, wenn die Temperaturen unter dreißig
  Grad gefallen waren. Wir haben es überlebt, wir sind noch da, aber die
  Hitze war mörderisch, erinnern sich die Pariser. Andererseits sagt uns
  ein deutscher Dichter, was ihm am schlimmsten erschien: nicht im
  Sommer zu sterben, wenn alles hell ist und die Erde für Spaten leicht.
  Er, Gottfried Benn, hatte sich dafür vor einem halben Jahrhundert
  einen Juli ausgesucht. Nun sind in Frankreich in der ersten
  Augusthälfte, das haben die Ämter in langen Listen festgehalten, 11435
  Menschen an oder wegen der Hitze vor der Zeit gestorben.

  Ob die Regierung daran schuld ist, das beschäftigt jenseits des Rheins
  die Leitartikler. Mehr noch irritieren die Franzosen andere Zahlen,
  die der vergessenen Toten von Paris. Erst waren es Hunderte, und der
  Präfekt musste Kühlhäuser requirieren auf dem Großmarkt, um dort, im
  Bauch von Paris, wo sonst Verderbliches lagert, die Toten frisch zu
  halten. Übrig geblieben sind 66, sechsundsechzig Tote, die keiner
  vermisst, keiner haben will, nach denen keiner fragt. Und doch haben
  sie alle einen Namen, sie stehen in der Zeitung Le Parisien, heißen
  Georgette und Philippe, Odette und Michel. Die alte Georgette war fast
  hundert, sie hatte den Ersten Weltkrieg erlebt und die Zeit der
  Okkupation, und am Ende kannte sie keiner mehr. Philippe hingegen war
  zum Sterben viel zu jung, Jahrgang 1967, aber was er geliebt und
  gelitten hat, das weiß keiner mehr. Einer hieß Minh Than Trong und
  eine Nebsja, die waren von fernher gekommen und hatten in Frankreich
  ihr Glück nicht gefunden. An diesem Mittwoch sollen sie und all die
  andern auf dem Friedhof von Thiais am Rande von Paris begraben werden.
  Der Bürgermeister hat versprochen, dass er kommen wird.

  Thiais ist der traurigste Friedhof der Hauptstadt, extra muros, man
  braucht lange, um dorthin zu finden. Da schafft man die Armen unter
  die Erde und die Clochards. Und doch hätten wir Grund, ihn zu
  besuchen, weil zwei Dichter dort liegen. Dort hat man, als er nicht
  mehr leben wollte und sich in die Seine gestürzt hatte, Paul Celan
  hingebracht, und eine Generation früher schon den großen Joseph Roth,
  der sich ums Leben getrunken hatte. Sie bleiben beide unsterblich.
  Damit sie es auch wissen, legen ihre Leser noch nach all den
  Jahrzehnten Blumen und Kiesel auf ihren Gräbern ab. Odette aber und
  Philippe, die von morgen an für immer namenlos bleiben, werden dort,
  wo sie sind, vergeblich darauf warten, dass sich jemand ihrer
  erinnert.