(SZ)Etwas vergessen wollen, heißt nur, erst recht daran denken. Der
  Fußballer drischt immer wieder den Elfmeterball, der die Meisterschaft
  entscheiden musste, an den Pfosten, ach, an den Innenpfosten, der
  verlassene Mann wiederholt ständig die unerhörte Beleidigung, mit der
  er seine Frau aus dem Haus trieb. Und das sind noch Kleinigkeiten. Ein
  Mädchen ist einmal vergewaltigt worden und wird es, in ihren Gedanken,
  immer wieder. Ein Junge hat dem Mörder seines Vaters in die
  stahlblauen Augen gesehen und kennt gar keine andere Farbe mehr, nur
  dieses eine eisige Blau. Und für alle, alle spricht aus versunkener
  Zeit Euripides: "Ich erinnere mich an Dinge, die ich vergessen will,
  und vergesse die, die ich nicht vergessen will."

  Keine Rettung in Sicht? Doch, israelische Wissenschaftler hoffen,
  bald, nein, irgendwann helfen zu können, sie sind jetzt erst einmal in
  der Lage, bei Ratten und bei Fischen bestimmte Gedächtnisinhalte zu
  löschen. Sie benutzen dazu Medikamente. Sie setzen sie dann ein, wenn
  ein Tier sich an etwas erinnert, in dem Moment, sie greifen das
  aktivierte - und nur das aktivierte - Gedächtnis des Tieres an, leeren
  und tilgen es. Und sie vermuten nun, das könne auch beim Menschen
  funktionieren. Gezielt, so stellen wir uns vor, werden sie dereinst
  unser unheimliches, stures Gedächtnis durchlöchern, sie werden die
  Seite unserer unseligen Erinnerung, die wir in einer bestimmten
  Sekunde unseres Lebens aufschlagen, noch in ebendieser Sekunde
  bleichen, wäscheweiß, ja, so wird es gehen.

  Danach werden wir uferlos glücklich sein. "Glück", sagt Albert
  Schweitzer, "ist gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis."
  Werden wir? Vielleicht tritt ja das Gegenteil ein, und uns kommen
  nicht die traurigsten, sondern die schönsten Augenblicke abhanden. Wie
  wir ein grandioses Tor geschossen, eine bezaubernde Frau um den Finger
  gewickelt, ein fremdes Kind vorm Ertrinken gerettet haben. Das können
  all die Wissenschaftler doch gar nicht wissen, woran wir uns erinnern,
  in welchen Winkel unseres Speichers wir zufällig greifen, während sie
  uns behandeln, und erst recht nicht können sie das natürlich bei einem
  Fisch herausbekommen haben. Vielleicht hat auch er, hat auch der
  Fisch, als man ihm jüngst ein Serum spritzte, gerade an etwas Schönes
  gedacht, an einen vertilgten fetten Wurm etwa, und nun ist es weg, für
  immer, und tiefe Traurigkeit erfasst ihn. Aber wenn die
  Wissenschaftler eines fernen Tages tatsächlich imstande sein sollten,
  sauber nur die schmerzhaften Erinnerungen zu filtern und zu zerstören:
  Werden wir uns dann mit ihnen einlassen? Nein, wohl nicht. Das hielten
  wir nicht aus, ewiges Gedächtnisglück; wir brauchen keine
  Grausamkeiten, aber ein Pfosten, von dem der Ball zurückspringt,
  vermag dem Leben doch die rechte Würze zu geben.