(SZ)Im Deutschen gibt es das Sehnen und die Sehnen, das kann ein
  Fremder, der unsere schöne Sprache zu erlernen versucht, nicht
  verstehen, das muss er einfach pauken. Sehnen gl. Sehnsucht, nicht
  selten sich steigernd zur Qual, siehe dazu Goethe: "Nur, wer die
  Sehnsucht kennt / Weiß, was ich leide." Das Sehnen ist nicht, im
  Wortsinn, greifbar, die Sehnen hingegen sind es schon, man kann sie
  leicht ertasten. Und sehen kann man sie: Wie sie sich dehnen, wie sie
  sich spannen, wie sie jemanden aus den Startblöcken katapultieren,
  jetzt gerade bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften, dem Fest der
  kontrahierenden Muskeln, der stampfenden Beine, der pumpenden Lungen,
  der gebannten Zuschauer auch; wir wollen wissen, wer der Mensch ist,
  der am schnellsten rennen, am höchsten springen kann, unbedingt, wir
  fühlen uns hingezogen zum Superlativ, diese Sehnsucht brennt in uns.

  Schnellster über 100 Meter: Kim Collins (St. Kitts und Nevis), 10,07
  Sekunden. Am höchsten springender Mensch: Jacques Freitag (Südafrika),
  2,35 Meter. Die beiden sind seit Montag Weltmeister. Doch was für
  Pfeifen sie auch sind! Collins schaffte 35,57 Stundenkilometer, eine
  lahme Ente im Vergleich zum Geparden mit seinen 120 km/h. Und wie
  bleiern uns der brave Freitag erscheint, denken wir uns nur einen Floh
  als Konkurrenten! Freitag, 2,02 Meter groß, übersprang nicht das
  Anderthalbfache seines Körpers, der Floh aber - mir nichts, dir nichts
  60 Zentimeter in die Höhe hüpfend - überbietet sich um das
  Zweihundertfache. Und er darf sich, jüngsten Forschungen zufolge,
  nicht mal mehr Champion der Tiere nennen, denn diesen Rang nimmt die
  Wiesenschaumzikade ein. Sie misst nur sechs Millimeter und wiegt
  0,012Gramm und springt 70 Zentimeter.

  Eine vergleichbare Leistung des Menschen? Er sollte sich schon auf
  einen 210Meter hohen Wolkenkratzer katapultieren. Aber das schafft er
  nie, über den ersten Stock gelangt er nicht hinaus, so ist es überall,
  andere Kreaturen übertreffen ihn spielend. Und, was kann er tun? Kann
  er etwas tun? Er muss einfach die Ruhe bewahren, dann wird sich alles
  wie von selbst ergeben. Muskeln lockern, Sehnen wärmen in den letzten
  Sommersonnenstrahlen. Zur Entspannung Rosen züchten, ja, die kann er
  anschauen, kann er atmen. Und siehe, dabei entdeckt er: jede Menge
  Wiesenschaumzikaden. Sie lieben es, Rosensaft zu saugen. Ist es nicht
  ihr Doping, dieses Elixier der Rose? Unbedingt, die Schaumzikade ist
  eine triebhafte, unverbesserliche Doperin. Der Mensch aber hat es
  erkannt, hat wieder einmal seine konkurrenzlose Fähigkeit zum
  komplexen Denken bewiesen. Sofort sprüht er die Rose ein. Da fällt die
  betrügerische Zikade tot herunter, sie war sechs Millimeter lang,
  0,012 Gramm schwer und wird es nie, nie mehr wagen, ihn
  herauszufordern.