(SZ) Er ist im Kabinett der Mann fürs Tagewerk, im wahrsten Sinne des
Wortes: Hans Eichel, der Unermüdliche, der Zahlenmystiker im Dienst
des Machers Schröder. Der Bundesfinanz-Sisyphos, der sich tierisch
plagt, Tag für Tag, mit immer neuen Plänen für den nächsten
Bundeshaushalt. Was er heute schafft, er weiß es, wird morgen
Makulatur sein. Während er mit seinen Getreuen in den späten
Arbeitsstunden am Giebelwerk ziseliert, rupfen andere unten schon
wieder kräftig am Fundament. Das zarte Spiel der Zahlen, die
arithmetische Kunst des Filigranen, wird hier ad absurdum geführt. Und
überall Gezänk, das kaum im Zaum gehalten werden kann.
Ein Job ohne Perspektive, ephemer bis zum Gehtnichtmehr. Von keinem
mehr wahrgenommen, geschweige denn gewürdigt. Bis ausgerechnet Stoiber
kam, der zwar für Tiefsinniges nicht unbedingt bekannt ist, der aber
immer wieder, so nebenher, unvermutet Abgründe aufreißt. Ein "Buch der
Lügen" hat er Eichels neuen Haushaltsplan genannt, und siehe da,
plötzlich kriegt das missachtete Werkeln des Finanzministers eine
magische Aura. "Das Buch der Lügen" hatte einst der berüchtigte
Aleister Crowley sein Liber 333 genannt - eins seiner zahlreichen
dubios-poetischen Werke, 1915 erstmals veröffentlicht. Das Tier hat
man ihn genannt, im Sinne der Apokalypse: Crowley, der Magier und
Okkultist, der Satanist und Sexist, der Himalaya-Besteiger und
Schachmeister, der Geheimbündler und Ordensgründer. Und Crowley, der
Zahlenspieler: "Sein ist das Substantiv; Form ist das Adjektiv",
schreibt er beispielsweise im "Zankzaum", Kapitel 9 im Buch der Lügen:
"Materie ist das Substantiv; Bewegung ist das Verb. Weshalb hat das
Sein sich selbst in Form gehüllt? . .. Antworte nicht, O Schweigender.
Denn da ist kein ,Warum`, kein ,Weil` . .. Zerstöre daher die Acht
Teile der Rede; der Neunte ist der Wahrheit nahe. Dieser muss auch
zerstört werden, bevor Du in das Schweigen eintrittst . .."
Aufs Schweigen arbeitet auch Eichel mit seinem Team hin, und wenn sie
das erreicht haben, werden auch griffige Begriffe wie Lüge, Verrat,
Niedertracht, Moral in neuem Licht erscheinen. "Sogar eine Idee wie
Wahrheit ist unsicher", weiß auch Crowley schon, "bis man realisiert
hat, dass alle Wahrheit in gewissem Sinne eine Unwahrheit ist. Denn
alle Wahrheit ist relativ, und hält man sie für absolut, führt sie in
die Irre ..." Dank an Stoiber also, dass er mit seiner subtilen
Anspielung die Absurdität von Eichels Existenz aufgehoben hat, dass er
aus trister Zahlenklauberei eine Glaubensfrage machte. Dass er das
Ephemere geadelt, in den Stand der Poesie gerückt hat. Das erste
Kapitel im Buch der Lügen besteht aus einem einzigen Zeichen, und es
ist das schönste, das tiefste aller denkbaren Zeichen: ein simples
"?".