(SZ) Gelegentlich wird behauptet, der heutige Mensch könne niemals
  Ruhe finden, weil er ständig in einem Meer von Geräuschen bade. Das
  ist natürlich Unsinn. Die Wahrheit ist: Geräusche hat es immer
  gegeben, auch in der guten alten Zeit, die, wenn man genau hinhört,
  eine ziemlich laute Zeit gewesen sein muss, sogar nachts. Ein
  wichtiger Faktor der mittelalterlichen Stadtsicherung war zum Beispiel
  der Türmer, dem in einem Wachturm über der Stadt allerlei Glocken und
  Tröten zur Verfügung standen, mit deren Hilfe er die Bürger auf
  Gefahren und sonstige Besonderheiten hinwies. Er wirkte also, in
  bestem Sinne, von oben herab. Brannte es irgendwo, schlug er die
  Feuerglocke, zog ein Gewitter auf, bimmelte er mit der Wetterglocke,
  bei einem natürlichen Tod läutete das dezente Sterbeglöcklein, bei
  Hinrichtung die Arme- Sünder-Glocke. Sobald es dunkel wurde, legte der
  Türmer erst richtig los, dängelte zur Sperrstunde die Sperrglocke,
  pustete - zunehmend schwitzend - in eine Trompete, wenn Terroristen
  sich den Stadtmauern näherten, stieß jede Stunde ins Horn, worauf
  unten der Nachtwächter aus einem Blasinstrument eine Antwort
  hervorzulocken hatte. So versicherten sich Nachtwächter und Türmer
  gegenseitig, dass sie nicht eingeschlafen waren - und nahmen billigend
  in Kauf, hellhörige Bürger mit ihrem Krach ebenfalls um den Schlaf zu
  bringen.

  An diesem Wochenende hat in Chemnitz die Zunft ihr Jahrestreffen
  abgehalten, 101 Nachtwächter und 20 Türmer aus acht Ländern waren da,
  Rekord! Während die heutigen Vertreter dieses erloschenen
  Berufsstandes eher die Pflege der Tradition im Blick haben, ist auch
  an jene Kollegen zu denken, die damals nachtwächternd in echte
  Schwierigkeiten gerieten oder bestraft wurden, weil sie ihr
  Instrumentarium nicht mehr im Griff hatten. In den Ratsbüchern der
  Stadt Auerbach ist verzeichnet, dass ein Türmer mit dem
  verheißungsvollen Namen Sigmund Muckensturm am 9. Juli 1660 getadelt
  wurde, weil er "die schweren Gewitter nit rechtzeitig angeschlagen und
  weggeläut'" habe. Irreparablen Schaden nahm seine Karriere zwei Jahre
  später, nachdem er voreilig die Ankunft des Bamberger Bischofs
  signalisiert hatte. Gleich machte sich die Auerbacher High Society
  auf, den hohen Gast zu empfangen, da musste der Türmer eingestehen,
  nicht die bischöfliche Reiterei sei da im Anmarsch, sondern eine
  Kuhherde. Muckensturm verbrachte die folgenden drei Tage im Gefängnis.

  In Chemnitz aber ist am Wochenende nichts Schlimmes passiert. Chemnitz
  lag so da, beschützt von Hellebarde, Hut und Horn. Nachts rief der
  Türmer zu jeder vollen Stunde vom Hohen Turm des Rathauses. Es war
  ziemlich laut in Chemnitz, aber es blieb alles ruhig, und das von den
  Meteorologen angekündigte Gewitter? Einfach weggeläut'!