(SZ)Der Ehrgeiz von Politikern, in die Geschichtsbücher einzugehen,
  beweist vor allem, dass sie keine Geschichtsbücher lesen. Die
  wirkliche Größe eines Staatsmannes zeigt sich ja gerade darin, dass
  von ihm auch außerhalb der Geschichtsbücher die Rede ist, in Romanen,
  in Kreuzworträtseln oder im Fernsehen. Leute aber wie Olybrius oder
  Glycerius würden bei Günther Jauch nicht einmal in der
  Eine-Million-Euro-Frage auftauchen. Sie bleiben versunken im fahlen
  Dämmer der Geschichtsbücher, und das, obwohl sie einmal den höchsten
  Posten der Welt bekleideten: den des Kaisers von Rom. Gewiss, Rom
  hatte seine starken Zeiten da schon hinter sich - aber hätte es nicht
  eben deswegen starke Kaiser gebraucht? Dummerweise läuft die
  Geschichte immer umgekehrt. Als das von Bismarck geschmiedete Deutsche
  Reich nur noch durch ganz starke Männer hätte gerettet werden können,
  wer war da Kanzler? Georg Michaelis zum Beispiel oder Georg Graf von
  Hertling. In Rom versprach 457 ein Kaiser Majorian innere Reformen...

  Aber Vorsicht! Größe, Stärke, Nachruhm, was heißt das schon? Dass die
  wirkliche Stärke eines Staatsmannes gerade in seiner Schwäche liegen
  könnte, führte Friedrich Dürrenmatt in seiner Komödie über den
  allerletzten weströmischen Kaiser vor. Die Ironie der Geschichte hat
  es gewollt, dass ausgerechnet dieser Mann gleich zwei glanzvolle Namen
  trug, den des Gründers von Rom sowie, in einer Verkleinerungsform, den
  des ersten Kaisers: Romulus Augustulus. "Romulus der Große" heißt das
  Stück, dessen Titelheld der Versuchung, groß zu werden, weise
  widersteht. Die Aufgabe eines Staatenlenkers sieht er gerade darin,
  sich der Entwicklung, ja sogar dem Niedergang der Dinge auf gar keinen
  Fall in den Weg zu stellen.

  So gesehen begreift man ohne weiteres, wieso Gerhard Schröder genau
  der Kanzler ist, den dieses Land in diesem Moment braucht, und wieso
  ihm seine Partei mit Recht die Treue hält. Was denn sollten die
  Genossen mit einem an ihrer Spitze anfangen, der wirklich etwas will?
  Oder wenigstens schon einmal etwas gewollt hat, irgendetwas außer
  Kanzler werden und Kanzler bleiben? So einer würde doch am Ende nur
  jemand Gefährlichen - nicht die SPD-"Linke", jemand wirklich
  Gefährlichen! - vor den Kopf stoßen, die Gewerkschaften, die
  Arbeitgeber, die globalen Kapitalsammler und -vermehrer. Was Schröder
  indessen noch fehlt, ist die heitere Einsicht in die eigene Schwäche.
  Dürrenmatts Romulus füttert Hühner, Schröder seinen Terminkalender.
  Nicht dass dabei etwas herauskäme, aber es steht doch etwas drüber:
  Agenda 2010. "Wir wuppen das", ruft Schröder unentwegt. Züchtete er
  stattdessen Hühner, zur Not auch Currywürste, sein Nachruhm wäre ihm
  sicher. Wenigstens als Held einer Komödie.