(SZ) Angeblich ist es, nach wie vor, der romantische Wunsch so gut wie
  jedes kleinen Jungen, Lokomotivführer zu werden. Aber in Wahrheit gibt
  es die Jungen mit einem solchen Wunsch nicht mehr. Sie sind dahin,
  jene Träumer, sind mit dem rußigen Industriezeitalter verschwunden,
  sind in die ewigen Jagdgründe gegangen wie die behenden Indianer, die
  immer die Züge gestürmt und den Heizer von der Plattform gestoßen
  haben, so dass der Heizer Kobolz schlug im spitzen Gras der Prärie,
  und dann hat er sich geschüttelt, der Heizer, und ist in den nächsten
  Saloon geschlenkert und hat Branntwein inhaliert und neuen Mut
  gefasst, und nachdem er genug neuen Mut beisammen hatte, ist er hinter
  die natürlich blonde, vollbusige Wirtin getreten und hat ihr an den
  strammen Hintern gelangt, und dann sind die Wirtin und der Heizer ein
  paar Minuten nicht gesehen worden, und was war gleich der
  Ausgangspunkt dieser schönen Entwicklung? Richtig, die Eisenbahn, das
  dampfende, fauchende, zitternde, kreischende, klopfende Ding, das
  immer in die Freiheit fuhr, ins Unbekannte, ins Ungewisse, und nie von
  Dortmund nach Frankfurt am Main.

  Was früher Inbegriff des Abenteuers war, ist heute Ausdruck von
  Strenge, von Einengung, ach, mehr noch: von Kerker. Wie starr die
  Schiene einem jetzt erscheint, wie unflexibel. Wie klein die
  Triebwagenkanzel ist: klein wie eine Zelle. Und die Zelle ist
  zugeklebt mit Fahrplänen. Und vor dem Fenster der Zelle ein dichtes
  Gitter von Signalanlagen, zwei Reihen stummer Wärter, die lauter
  Befehle senden. Und kein Freigang für den Zugführer während der Dauer
  seines Aufenthaltes. Der Mann ist gekettet an seinen Zug, den
  pünktlich von A nach B zu bringen er beauftragt ist. Und er versucht,
  seinen Auftrag zu erfüllen, immer, er ist vollkommen domestiziert
  durch Verantwortung, bloß im Traum bricht er - vielleicht, vielleicht
  - mitten auf der Strecke aus, er lässt seinen Zug stehen und schlägt
  sich durchs Unterholz, sieht, aus der Ferne nun schon, die von ihm
  stillgelegte Bahn und lacht schallend, wie irre, über diese Bahn und
  über alle, die auch gern einmal eine Tür zuschlügen, es aber nie, nie
  tun werden.

  Bloß im Traum? Herrgott, gerade ist es passiert, zwischen Dortmund und
  Frankfurt! Der 46-jährige Zugführer des ICE729 hat vor einem Signal
  bei Siegburg halten müssen, da ist er einfach ausgestiegen und
  davongegangen und ist nicht zurückgekehrt. Manche Leute sprechen jetzt
  von einem höchst bedauerlichen Blackout, Spinoza aber sprach: "Der
  freie Mensch erwählt mit derselben Willenskraft oder Geistesgegenwart
  wie den Kampf so die Flucht." So wollen wir ihn feiern, den
  geistesgegenwärtigen Zugführer, er soll alles haben, was er will,
  Pferde, Branntwein, blonde Frauen oder einfach nur seine Ruhe.