(SZ)Wenn Kinder vor einem großen Meer stehen oder vor einem kleinen
Meer, das ihnen groß erscheint, rennen sie nicht gleich hinein,
sondern bleiben ein paar Trippelschritte vom Wasser entfernt stehen.
Sie reiben mit einem Fuß verlegen am Spann des anderen Fußes und
starren nach vorn, auf den spiegelglatten Ozean, das geht eine ganze
Weile so, sie reiben und schweigen und schniefen, schniefen vor
Aufregung, und endlich nehmen sie sich ein Herz und fragen: Gibt es
hier Haie? Nie aber fragen sie nach Riesentintenfischen. Warum nicht?
Warum haben sie keine Angst vor den monströsen Kraken mit ihren
meterlangen Tentakeln, mit ihren pfannengroßen Saugnäpfen, mit ihrem
kochenden blauen Blut, mit dem sie alle Meere gefärbt haben, ja, die
Meere sind mit dem Blut der Riesentintenfische gefüllt, Kinder!
Also warum? Weil auf allen Bildern und in allen Trickfilmen das
Hervorstechendste an den Haien die Zähne sind, an den Tintenfischen
aber die Augen. Und so ist es auch in Wirklichkeit. Jene Augen sind so
groß wie Basketbälle, wie Kohlköpfe, wie Mercedeslampen, die
Tintenfische haben überhaupt die größten Augen aller Lebewesen,
während bekanntlich Donald Rumsfeld die kleinsten hat, sie sind
schmaler als die Schlitze von Geld- und Parkscheinautomaten, aber das
nur nebenbei. Und es ist nicht allein die Größe. Es ist auch der
Blick. Dieser Blick hat nichts Fischiges, nichts Starres, sondern
etwas Wissendes, etwas Beruhigendes. Der Krake betrachtet den Taucher
wie einen guten Bekannten. Er begrüßt ihn mit den Augen in seinem
Terrain. Jacques-Ives Costeau hat gesagt, wer jene Augen auf sich
gerichtet sehe, empfinde "eine Art Respekt, so, als begegne er einem
sehr klugen, sehr alten Tier".
Sehr klug? Sehr dumm soll der Tintenfisch sein, heißt es immer, keine
Gräten, kein Geist, aber das stimmt nicht, denn wenn wir nur einmal
die Augen untersuchen, so entdecken wir eine Arbeitsteilung: Mit dem
einen Auge konzentriert sich das Tier auf seine Beute, mit dem anderen
auf seine Umgebung. Und mehr noch, auch sprechen kann das Tier,
sicher, es spricht, indem es in Millisekundenschnelle die Farbe
wechselt: Einmal wird es grell und bunt, dann schreit es etwas heraus,
dann will es sich unbedingt zeigen, und im nächsten Moment wird es
ganz blass, dann flüstert es, dann will es nicht auffallen. Und doch
lässt sich manchmal ein Krake fangen. Gerade ist Fischern in der
Antarktis ein fünfeinhalb Meter großes Exemplar ins Netz gegangen, ein
Weibchen, 150 Kilogramm schwer, aber wir sind geneigt, auch in dieser
Gefangenschaft eine Art Schachzug zu sehen, ja, aus tausendmetriger
Tiefe war das Tier absichtlich nach oben getrieben, nur, um uns jetzt
eine Geschichte zu bieten, in der mal wieder das Meer vorkommt und ein
Kinderspann und ein suppentellergroßes Auge und solche Sachen.