(SZ)Es stand in der Zeitung, und es hat wahrlich jeden, der es las,
erschreckt: 800000Deutsche leiden in diesem Jahr an einer
Winterdepression. Wir haben nachgezählt und müssen sagen: Die Meldung
stimmt. Allerdings ist eine kleine Korrektur vonnöten. 800000Deutsche
leiden - und ein Franzose. Ein hochberühmter Franzose, derzeit zu Gast
bei den Deutschen. Ein Mann, noch berühmter, noch kühner, noch schöner
sogar als Monsieur Chirac. Die winterdepressiven Deutschen also
müssten sich an seinem Anblick erfreuen. Doch, leider, es geht nicht.
Denn eine geradezu zerschmetternde, nicht bloß winterliche, sondern
schier endzeitliche Schwermut geht von dem hohen Gaste aus. Man kann
ihn nicht anschauen, ohne selber sofort verzweifelt zu sein. Dieser
Mann ist "der Denker". Die sagenhafte Monumentalplastik des Bildhauers
Auguste Rodin. Sie steht, und das noch bis zum 9.März, vor dem
Brandenburger Tor, gleich neben der neuen französischen Botschaft. Das
heißt, der Denker steht nicht, er sitzt - nackt, auf einem Felsklotz,
den schweren Kopf auf die mächtige Faust gestützt. Und der Denker
schaut nicht, er starrt: Nicht zum gestirnten Himmel geht sein Blick,
sondern trostlos hinab, zur eiskalten Erde. Als stünde in seinem
Rücken wahrhaftig das Höllentor - und nicht The Brandenburg Gate,
mitsamt seinen munteren Gäulen.
Gewiss, direkt lebenslustig hat der Denker noch nie ausgesehen - das
weiß jeder, der ihn schon einmal daheim, im Pariser Rodin-Museum,
besucht hat. Aber noch niemals kam er einem so abgrundtief, so
unwiderruflich verzweifelt vor wie jetzt, an seinem Ehrenplatz Unter
den Linden. Liegt es an den Nachrichten dieser Tage und Wochen, die
den Bedrückten noch tiefer auf seinen Felsen niederdrücken? Macht
denken traurig, und wenn ja, warum? Und sind Denker nicht noch viel,
viel einsamer als sogar Präsidenten und Bundeskanzler? Betrachten wir
nur den aktuellen Zweikampf zwischen den Staatenlenkern Bush und
Schröder, den Männern George und Gerhard. Da stehen einander, in
beinahe antikischer Pose, gegenüber: der Täter und der Nicht-Täter.
Einen Denker aber wird man keinen von beiden nennen können. Wohin er
also auch schaut: Denker sieht der Denker keine - auf dem Schlachtfeld
vor der Schlacht.
Doch so trübe, wie es jetzt ist, muss es nicht bleiben in der
Hauptstadt der Deutschen. Irgendwann werden Unter den Linden die
Lindenbäume wieder blühen. Der Biergarten im Tiergarten wird seine
Theken öffnen, und die Verliebten werden wieder in die Ruderboote
steigen. Und 800 000 Deutsche werden ihre Winterdepression gegen einen
Frühlingsrausch eintauschen. Das würde auch dem Denker gefallen. Doch
leider ist er dann schon weg. Wir werden ihn vermissen. Oder auch
nicht.