(SZ) Jetzt, wo sie uns, nach der vierstelligen Postleitzahl, dem "ß"
bei "muß", der D-Mark und all dem anderen, auch noch die
Lohnsteuerkarte wegnehmen wollen - jetzt kommt dieses Blatt Karton,
dieses im Grund jämmerliche Stück Bürokratie auf DIN A 5, uns
plötzlich vor, als wär's ein Stück von uns, ein guter Kamerad in allen
Lebenslagen. Kennen wir sie wirklich? In der Rückschau fällt uns nur
ein, dass die Lohnsteuerkarte ihre Farbe von Jahr zu Jahr wechselte.
Mal war sie rosa, mal grün, mal ocker, aber immer pastellen, immer
gedeckt, nie grell. Blau war sie auch nie, oder doch? Wenn man sich
nur erinnern könnte, ob die Jahrgangsfarben in irgendeiner Beziehung
zur jeweiligen Ertragslage standen. Kaum, denn so ein Kontext hätte
sich eingeprägt, und man könnte heute noch damit renommieren, dass
beispielsweise der 87-er Jahrgang (grün plus Aufstieg zum "Leitenden")
insgesamt doch recht vollmundig war, außerdem fetzig im Abgang.
Es liegt in der Natur von Rührung, die Wirklichkeit zu vernebeln, und
ehe es so weit kommt, werfen wir noch einen möglichst nüchternen Blick
auf das, was "Sache ist". Sache ist, dass die Lohnsteuer gar keine
eigenständige Steuer ist, sondern gewissermaßen ein Derivat der
Einkommensteuer. Sache ist ferner, dass wir Lohnsteuerzahler zwar das
Kleinvieh sind, dass wir unseren Mist aber nicht selber machen dürfen.
Das besorgen für uns die Arbeitgeber, die in diesem Sinn die
Erfüllungsgehilfen des Finanzamts sind. Eichels Vollstrecker, um es
mal so zu formulieren, wenn auch nicht seine willigen. Es verbirgt
sich hinter der Lohnsteuerkarte also viel Elend: Zweitrangigkeit,
Unselbständigkeit, Fremdbestimmtheit. Die Sensibleren unter uns kamen
nie weg von dem Gefühl, sie hätten mit der Lohnsteuerkarte ihr inneres
ökonomisches Gerüst, das Koordinatensystem ihrer ohnedies dürftigen
Existenz, für ein Jahr im Personalbüro abgestellt, und wenn sie das
Papier zurückbekamen, beklebt mit der neuesten Statistik ihres ewig
gleichen Brutto/Netto-Jammers, mussten sie es gleich wieder
weitergeben - an "die Steuer", wie das so schön heißt.
Andererseits ist ein Papier ein Papier, und was man ohne ein Papier
ist, wusste keiner besser als der Schuster Voigt im "Hauptmann von
Köpenick", der weder eine Arbeitserlaubnis noch eine
Aufenthaltsgenehmigung hatte, von einer Lohnsteuerkarte ganz zu
schweigen. Der sah sich bereits vor dem letzten Richter: "Jeh wech!
sagt er. Ausweisung! sagt er. Dafür hab ick dir det Leben nich
jeschenkt, sagt er." Ganz so wild wird es für uns nicht kommen, da man
uns ja ein elektronisches Äquivalent in Aussicht stellt, mit dem alles
noch einfacher wird. Dennoch geht wieder ein Stück Leben dahin und sei
es nur eines aus pastellfarbener Pappe. Gerne würde man sagen: Jeh
wech, Eichel, Finger wech von der Lohnsteuerkarte! Aber dafür ist es
wohl zu spät.