(SZ) Nach Feierabend bleiben Freizeit, Privatsphäre, Alkohol, diese
drei; am größten aber unter ihnen ist die Privatsphäre. Was man
manchmal erlebt, degradiert den Begriff jedoch zum tönenden Erz: Kaum
heimgekommen, muss man sich schon wieder aus dem Fernsehsessel
wuchten, weil das Telefon klingelt. "Hallo?" "Guten Abend, mein Name
ist Manfred Hmblznd, sicher kennen Sie die Firma Frostmann
Gefrierkost? Sie haben die Chance, sich von uns ab sofort mit einem
großen Sortiment von Tiefkühlprodukten beliefern zu lassen!"
Direktmarketing heißt man diese Belästigung, eine mediale Verfeinerung
des Klinken putzenden Vertreters. Dem konnte man wenigstens noch einen
ordentlichen Tritt geben. Wer sich hingegen feierabendlicher Anrufe
erwehren will, dem bleibt nur jene Taktik, die der Komiker Jerry
Seinfeld einmal vorschlug: Rrriing! "Hallo?" "Guten Abend, mein Name
ist Manfred Hmblznd..." "Bevor Sie weiterreden, geben Sie mir doch
Ihre Privatnummer. Ich rufe Sie dann zu Hause zurück." "Äh, das machen
wir eigentlich nicht." "Mögen Sie es etwa nicht, wenn Fremde Sie
daheim anrufen?" "Nein." "Sehen Sie, ich auch nicht." Klick.
Dass der Fluch allerdings auch zum Segen geraten kann, das erfuhr Dan
Kinkade, Einwohner des Direktmarketing-Mutterlandes Amerika. Bei ihm
meldete sich unlängst ein Anrufer namens Al Kinkade, der eindeutig
kommerzielle Absichten verfolgte. Die Nachnamensgleichheit weckte
jedoch Dans Interesse, und es entspann sich ein Gespräch. In dessen
Verlauf stellte sich heraus, dass es sich bei Al um keinen anderen als
Dans seit Jahren verschollenen Vater handelte. Die beiden telefonieren
seitdem regelmäßig.
In milderem Lichte erscheint plötzlich, was wir eben noch schmähten.
Erheblich Schlimmeres als einen abendlichen Anruf muss manch anderer
erdulden, dem der leibliche Vater abhanden gekommen ist. Kleists
Käthchen von Heilbronn entgeht nur knapp Feuersbrunst und
Giftanschlag, bevor sich endlich herausstellt, dass kein Geringerer
als der Kaiser ihr Erzeuger ist. Fjodor, Protagonist des
Nabokovs-Romans "Die Gabe", muss sich den unwiederbringlich verlorenen
Vater literarisch herbei-imaginieren - ein ziemlich schwacher Ersatz.
Der bedauernswerte Ödipus schließlich erfährt von seinen
verschlungenen Verwandtschaftverhältnissen gar erst, als bereits alles
zu spät ist: Er hat den Vater erschlagen und die Mutter geehelicht.
Wie schön, dass es in der Realität bisweilen nur eines erlösenden
Anrufs bedarf. Das Leben lässt halt doch mehr Gnade walten, als die
Literatur uns glauben machen will. Im aktuellen Fall muss es - das
Leben - sich allerdings vorhalten lassen, einen Kniff angewandt zu
haben, der jedem Dichter als völlig unglaubwürdig angekreidet würde:
den deus ex telemachina.