(SZ) Hoch im Norden, wo die Gletscher ins Meer reichen, herrscht ein
  greiser König, Snaer genannt, der Sohn des Jökull. Seit
  Menschengedenken regiert er den ganzen langen Winter über, ohne
  Minister, Hofschranzen und Steuereintreiber. Snaer ist ein König, der
  nichts nimmt, aber überreichlich gibt, und dafür hat er seine Töchter:
  Fönn, die den dichten, nassen Schnee auf die Erde legt; Drifa, die für
  Flockengestöber sorgt; und Mjöll, die den feinen, samtenen Teppich auf
  der Erde ausrollt. So kommt oben im Norden der Schnee, und die
  Menschen freuen sich über den weichen Tritt ihrer Füße und die Stille.
  Er ist ihnen wie eine Liebschaft, die kommt und geht und wiederkehrt,
  ohne mehr zu verlangen, als immer willkommen zu sein.

  Weiter unten im alten Europa haben sie statt Snaer die Frau Holle -
  eine Alte mit großen Zähnen, die arme Mädchen Plumeaus ausschütteln
  lässt in der perfiden Absicht, den schönen und fleißigen unter ihnen
  Gold zu schenken, den hässlichen und faulen aber einen Kübel Pech.
  Wahrlich auch eine Form der Pädagogik, aber eine, die die Seelen
  verkrüppelt. Und das sieht dann so aus: Ist kein Schnee, sehnen sie
  sich hier nach den schöneren Märchen der Kindheit. Träumen von ganzen
  Bergen in Weiß, von dickbepelzten, runden Hausfirsten und von
  Schlittengespannen mit Glöckchen. Wenn es aber schneit? Ein Jammern
  und Zetern, Snaer sei's geklagt. "Bayern versinkt im Schnee", heißt es
  dann. Es war an diesem Donnerstag, am frühen Morgen, als die
  Katastrophe übers Land kam: 13 Zentimeter in München, 12 in Passau, 27
  in Hof, und überall Chaos. Weil im Winter Schnee gefallen ist.

  Wo Snaer nie regiert hat, fühlt sich der Mensch allmächtig. Hat er
  nicht gelernt, selber so etwas wie Schnee zu machen, zur richtigen
  Zeit und dort, wo er ihn haben will? Frau Holle sitzt nun im schweren
  Gerät, sie schiebt weiße Masse über Pisten und Loipen, hin und her,
  hinab und hinauf, sogar die Arenen des Ruhrgebiets überzieht
  Sacharin-Schnee. Umgekehrt glaubt der Mensch nun, er könne auch den
  Urstoff beherrschen. Lustig ist das wohl von ganz oben anzusehen, wie
  Myriaden von Fahrzeugen ausschwärmen, als sei nichts gewesen. Drinnen
  die Denker und Lenker, benebelt vom Wahn, Autos könnten fahren,
  könnten tatsächlich fahren auf Schnee! Bizarres Treiben auch auf den
  Gehwegen der Städte - so genannte Übersprungshandlungen: Wie Berserker
  schieben sie überall den weichen, gut begehbaren Schnee an die Ränder,
  damit die Trottoirs sich schnell in Rutschbahnen verwandeln. Hart
  dringt das Kratzen und Schaben ins Ohr. Dazwischen ein Lachen, von
  fern, aus den Sphären des Nordens. Das sind die drei Schönen: Fönn,
  Drifa und Mjöll. Wenn sie lachen, dann klingt es, als würden Kristalle
  durch die Luft schweben. Das zu hören, ist im Süden nicht allen
  gegeben.