(SZ)Im Märchen befragt die eitle Königin ihren Spiegel, wer denn die
Schönste sei im Land, woraufhin dieser sinngemäß sagt: Du natürlich,
Königin, aber leider nur hier, denn das Schneewittchen dort hinter den
sieben Bergen bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner. An
Silvester mag manch einer mit seinem alten Smoking gerungen und dabei
ebenfalls im Märchenton gefragt haben: Spieglein, Spieglein in der
Schlafzimmerschrankwand, bin ich womöglich bald wirklich der Dickste
im ganzen Land? Die Spiegel, diskret wie immer, werden ihr Wissen für
sich behalten haben, und das ist auch gut so, denn da konnte unsereins
die Antwort doch ein wenig freundlicher gestalten. Dick, nun ja,
sicher, wird sie gelautet haben, aber gibt es nicht Dickere, den
Altkanzler etwa oder neuerdings den Siegmar Gabriel, zu schweigen von
den Sumo-Ringern hinter den sieben Weltmeeren oder, noch weiter
hinten, von Taufa'ahau Tupou IV., den sie den dicken König nennen?
Diese Ausrede kann nicht länger aufrechterhalten werden, weil der
König von Tonga sich neuerdings "leicht wie ein Vogel" fühlt. Er hat
70 Kilo abgenommen, und das ist nicht wenig, schon gar nicht in einem
Kulturkreis, der Dicksein als Leistung, als Ausweis von Schönheit
gelten lässt. Tupous Fülle brachte es mit sich, dass er hierzulande
immer als lustige Figur gehandelt wurde, eine groteske Verkennung der
Realität - generell und besonders im Hinblick auf hiesige herrschende
Dicke. Unserem Gefühl nach war um ihn mehr Würde als Lustigkeit, und
was nun die 70 Kilo angeht, so hat ihr Verschwinden für uns Pfund- und
Grammfuchser etwas vollends Überirdisches. Möglicherweise hängt das
mit dem Mythos zusammen. Tupou gilt als Nachfahre jenes Gottes
Tangaloa, der sich mit der Erdenfrau Ilaheva zusammentat und mit ihr
den 'Aho'eitu zeugte. Da waren freilich himmlische Stiefbrüder, die
den irdischen Konkurrenten kurzerhand verschlangen, und es bedurfte
Tangaloas ganzer Autorität, sie zum Auswürgen des Buben (und
nachmaligen ersten Inselkönigs) zu bewegen. Wo Fragen des
Stoffwechsels schon früh so großzügig angegangen werden, sind auch
spätere Diäten jenseits kleinlicher Erbsen- beziehungsweise
Kalorienzählerei.
Als zur Jahrtausendwende an der bei Tonga eigenwillig verlaufenden
Datumsgrenze um das Recht des ersten Tages gerungen wurde, wies die
Zeitschrift Geo auf das tonganische Zeitgefühl hin, eine ebenfalls
sehr eigenwillige, durchaus lockere Sache. Taufa'ahau Tupou sei, so
hieß es in der Reportage, der lebende Beweis für Einsteins These,
wonach in der Nähe eines massiven Körpers die Zeit langsamer vergeht.
Da scheint uns der Pazifik einiges voraus zu haben. Dicke Körper gibt
es auch bei uns genügend, doch wirkt der von ihnen ausgelöste
Zeitverzug nicht heiter, sondern eher bleiern.