(SZ) Im "Esopus" (1548) findet sich die Schnurre von der
Kaufmannsfrau, die ihren nach zwei Jahren heimkehrenden Mann mit einem
Kind überrascht. Auf seine zu Recht verwunderten Fragen antwortet sie,
sie habe, da mit ihm ja nicht zu rechnen war, aus Schnee ein Kind
geformt und gegessen, und davon habe sie das vorliegende Kind
bekommen, einen Knaben. Der Mann schweigt und lässt ihn heranwachsen.
Dann nimmt er ihn eines Tages mit auf Reisen und verkauft ihn an einen
Geschäftsfreund. Nun ist es an der Frau zu fragen. Was sie von ihrem
Mann erfährt, ist dies: Der Knabe sei, seiner schneeigen Herkunft und
Konsistenz entsprechend, in der Sonne zerflossen. Wie man sieht, ist
es nicht nur mit der Treue, sondern auch mit dem Schnee ein eigen Ding
- nicht grundlos zitiert Johannes Kepler die Schote in seiner Schrift
"Vom sechseckigen Schnee" (1611), deren Ruhm die Anzahl ihrer Leser um
ein Vielfaches übertrifft.
Das Wesen des Schnees ist neuerdings wieder ins Gerede gekommen, weil
Georg Tetzlaff vom Institut für Meteorologie an der Universität
Leipzig sich darüber mokiert hat, dass die Weihnachtsdekorationen
meist völlig falsche Schneeflocken zeigten: vier-, fünf- oder auch
achteckige. Echte Flocken hingegen seien immer sechseckig. Nun hat
sich Tetzlaff als Hintergrund für seine Botschaft freilich die
dürftigste aller Folien ausgesucht, denn an dem weihnachtlichen
Dekozauber stimmt so gut wie nichts. Falscher Schnee, falsche Engel,
falsche Lieder, falsche Sterne, nicht zu reden von der mächtig
anschwellenden Flut besinnlicher TV-Filme, in denen die weiße
Weihnacht eine Hauptrolle spielt, die aber schon im Sommer gedreht
wurden, mit Tonnen von wirbelnden Flocken, die weder aus Schnee sind
noch gar sechseckig. Umso dringlicher also gerade jetzt die Frage,
wieso Schneeflocken eigentlich sechseckig sind. Kepler war seinerzeit
ziemlich nah an der Wahrheit, als er eine "materielle Notwendigkeit"
in Erwägung zog, einen in den Tröpfchen des Wasserdampfs verborgenen
Widerstand gegen die Kälte. In der Tat sind es elektrostatische
Kräfte, welche die Wassermoleküle sechseckig anordnen.
"Schneeflöckchen, Weißröckchen" hat also eine vergleichsweise
spannende Prozedur hinter sich, ehe es geschneit kommt.
Je mehr wir uns in die Kristallsymmetrie der Schneeflocken vertiefen,
desto schmerzlicher wird uns bewusst, dass "die weiße Pracht" sich
wieder einmal verweigert, dass sie eines Winters wahrscheinlich ganz
ausbleiben wird. Auf die eheliche Treue hat das keine Auswirkungen,
wohl aber auf die Ausredenkultur. Mit obiger Geschichte könnte heute
keine Frau mehr herausrücken, denn selbst der gutgläubigste Ehemann
würde den kalten Braten riechen: "Wenn ich das richtig sehe, hat es
nun schon drei Jahre nicht mehr richtig geschneit...!"