(SZ)Als es das Gesundheitswesen noch nicht gab, wurde mancher freie
  Blick in die Abgründe der Medizin geworfen, ohne dass sofort einer
  rief: Leichtfertiger Umgang mit dem hohen Gut Gesundheit! Da konnte
  die satirische Zeitschrift Simplicissimus nach der Devise "Zynismus
  ist die Wahrheit ohne Narkose" ein Gespräch der Geister über den
  Gräbern wiedergeben: "Bei der Homöopathie stirbst du an der Krankheit,
  bei der Allopathie an der Kur". Kein Protest der Apothekerkammer!
  Oder: "Von den Ärzten allein wird man nicht krank, die Natur muss
  dabei mithelfen." Heiterkeit bei den Gesunden, Nachdenken bei den
  Kranken, Erinnerung an das leidige, aber klassische Thema der
  "iatrogenen" Krankheiten oder Störungen.

  Das sind, so der Brockhaus, "durch Handlungen (Kunstfehler) oder
  Äußerungen des Arztes (auf dem Wege über neurotische Reaktionen
  seitens des Kranken) verursachte Leiden". Unser iatros (griechisch:
  Arzt), der demnächst vielleicht "Dienst nach Vorschrift" macht, kennt
  das oberste Gebot dieser Vorschrift, des so genannten Hippokratischen
  Eides: Nicht schaden! Trotzdem gibt es Medizinökonomen, die den Anteil
  der iatrogenen Krankheiten auf 20 Prozent schätzen. Genaueres weiß man
  nicht und wird es niemals wissen, weil in unserer Hochzivilisation die
  Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit verschwindet, wenigstens
  durchlässig geworden ist. Bei einer Blinddarmentzündung braucht es
  keinen eingebildeten Kranken, aber einen ausgebildeten Arzt; dagegen
  werden subtilere Beschwerden in oft längeren Behandlungszyklen
  zwischen dem ausgebildeten Kranken und dem eingebildeten Arzt erörtert
  - gespeist vom Solidarsystem der Krankenkassen.

  So etwas darf man allerdings nicht laut sagen. Der Kulturkritiker und
  Theologe Ivan Illic hat zwei geheiligte Zustände erkannt, die im
  Wohlfahrtsstaat wie Schutzgebiete wirken: Urlaub und Krankheit. Der
  betrügerische Bankdirektor geht in Urlaub, selbstverständlich, den hat
  er verdient, Urlaub muss sein. Der Politiker wird nach einem
  skandalösen Manöver erst einmal krank, das muss man respektieren, da
  kann man nichts machen. Deshalb kommt der Patient bei der
  gegenwärtigen Rundumschuldzuweisung gut weg. In seinem Namen rufen
  Ärzte, Kassenfunktionäre, Apotheker und Politiker: "Nicht auf dem
  Rücken des Patienten!" An diesen obersten Kostenfaktor (Kunde, Zahler,
  Wähler) traut sich keiner ran. Kann der Arzt es wagen, ihm bei
  Halsschmerzen Gurgeln mit Salzwasser zu empfehlen, statt ihm die
  verlangte grell geschminkte Pille plus Nebenwirkungen zu verschreiben?
  Der Patient muss wohl mit der Gesundheitsreform bei sich selbst
  anfangen, damit für den Kranken Geld übrig bleibt. Der Versuch lohnt.
  Es heilt mehr von selbst, als allgemein bekannt ist.