(SZ) Haben heute viel, viel Zeit, so viel Zeit wie die Leute vor 100
Jahren. Können uns unnütze Gedanken machen. Sitzen im Ohrensessel, der
unterm Hintern schon leicht durchgedrückt und von blasser Farbe ist,
und schließen die Augen. Hören die Standuhr pendeln, klick-klack,
klick-klack. Ja, das ist schön: Zu hören, wie die Sekunden vergehn,
sie ins Ohr rieseln zu lassen wie Sandkörner in einen Eimer, eine
endlose Folge klingender Sekunden, eine ununterbrochene Kette
singender Augenblicke. - Moment: Augenblicke? Blinzeln vor
Überraschung, schnellen hoch, aufgeschreckt von einer Frage, die sich
noch niemand gestellt, irritiert von einem Widerspruch, den noch
keiner erkannt hat, keiner! Ja lieber Gott, wieso heißt es eigentlich
Augenblick, obwohl doch mit diesem Wort - Augenblick - jener Moment
beschrieben wird, in dem man gerade nicht mit den Augen blickt? Man
blinzelt doch, richtig? Man sieht nichts, oder? Korrekt, ein
Augenblick währt genau so lange, wie man seine Lider geschlossen hält,
dadurch zeichnet er sich aus. Also benutzen alle, alle den falschen
Ausdruck. Lidschluss müsste es heißen, ja, so und nicht anders,
wunderbar, was man alles erkennt, wenn man einmal Zeit hat, Zeit,
Zeit, Zeit!
Sinken zurück in den Sessel, dämmern weiter, beglückt durch
Erkenntnis, schon hat der Tag sich gelohnt, da klingelt es, der
Postbote, er überreicht mit bedeutungsvoller Geste ein Heft, die
Physical Review Letters, Band 89, sagt mechanisch, "ich empfehle
aufzuschlagen die Seite 230801". Das ist der Einbruch des
Informationszeitalters, das ist die Rückkehr der Atemlosigkeit, wenn
der Postmann schon gelesen hat, was er verteilt, wenn er zum ... zum
verdammten Datenträger wird! Sträuben uns zunächst ein wenig. Wollen
nicht. Erliegen bald doch der Neugier. Falzen das Heft auf der
angegebenen Seite und erfahren, dass es Physikern aus Braunschweig
geglückt ist, eine Atomuhr zu bauen, die eine Sekunde noch feiner
unterteilen kann als alle bisherigen Uhren, nämlich nicht mehr nur auf
15, sondern auf 17 Dezimalstellen. Lautlos zerlegen die
Wissenschaftler immer weiter die ehedem klumpige, hörbare Zeit, in
unbegreiflich kleine, nicht mehr erfahrbare Bestandteile.
Die klumpige Zeit? Ah, welch wohliges Gefühl, noch einmal einen
unnützen, verwegenen Gedanken aufkommen zu spüren. Jawohl, die Zeit
soll ein Klumpen sein, am besten einer aus Gold; schwer soll er
wiegen, der Klumpen, man muss ihn anfassen können, genau, im Sessel
sitzend, werden wir von nun an unsere Zeit auf dem Schoß hin- und
herrollen, wir werden sie nicht hergeben, niemandem, schon gar keinem
Physiker, der neues Material sucht, weil ihm seines ausgegangen ist,
und sollte er betteln, bitte, bitte, nur für einen Augenblick, so
werden wir ihn korrigieren: Lidschluss muss es heißen, Herr,
Lidschluss, verstehen Sie?