(SZ) Es war einmal ein armer, struppiger Hirtenhund. Er lief an einem
  Strand entlang. Dort erblickte er eine Purpurschnecke, die damals
  allerdings noch nicht Purpurschnecke hieß; so lange ist das her. Der
  Hund fraß die Schnecke, vielleicht mehr aus Neugier denn aus Hunger,
  wer weiß. Sofort färbte sich seine Schnauze rot. Der herbeigeeilte
  Hirte glaubte, sein Hund habe sich verletzt, und wischte dessen
  Schnauze mit einem Tuch ab. Doch er vermochte keine Wunde zu
  entdecken. Auf geheimnisvolle Weise musste das Rot, das ein noch nie
  gesehenes, märchenhaft leuchtendes Rot war, von der unscheinbaren
  Schnecke übertragen worden sein. Und so, genau so kam der Purpur auf
  die Welt!

  Der Purpur, einst Farbe der Würde. Doch wie selten sah und sieht man
  das, echten Purpur, tatsächliche Würde. In Persien trugen nur die
  Könige purpurne Gewänder, niemand sonst. Vor Ägyptens Küste stach
  Kleopatras Schiff in See, und der Wind bauschte ein purpurnes Segel,
  und kein anderes Segel, kein anderes Schiff allüberall, das erhaben
  wie jenes gewesen wäre. Und warum? Na, weil jedes Erhabene so schwer
  zu erlangen ist. Weil es ein weiter Weg ist bis dahin. Lange, lange
  muss man an den Stränden des Südens wandern und suchen, ehe man
  ausreichend viele Schnecken gesammelt hat, um aus ihnen ein Gramm
  echten Purpur pressen zu können, denn für jenes eine Gramm benötigt
  man 8000 Schnecken, ja, 8000 Schnecken braucht man für ein Gramm.

  Jetzt kann dieser prächtige Farbton leicht nachgemacht werden, jetzt
  hat er an Bedeutung verloren, jetzt sehen wir ihn beliebig oft, sogar
  in unseren Träumen: als irritierendes längliches Rot. Länglich? Nun
  ja, wir vermuten, es handelt sich hierbei um Abbilder von Teppichen,
  sicher, denn so begegnet uns doch jetzt die Farbe Rot, auf Teppichen,
  die vor Staatsmännern, Hotelgästen, Starlets, Musicalbesuchern - kurz:
  vor jedem - ausgerollt werden. Jene Zeremonie war 1821 am englischen
  Hofe eingeführt worden, mit Stil, wie wir vermuten. Und nun, da er
  verloren gegangen ist, der Stil, was soll werden? Das Rot, denken wir,
  wird gerettet werden. Schon sind Männer oder Frauen oder Männer und
  Frauen unterwegs in dieser Mission, gerade haben sie im Züricher Hotel
  Atlantis Sheraton des Nachts einen roten Teppich mitgehen lassen, der
  war über vier Meter lang und fast 5000 Euro teuer. Er war sogar mit
  Schrauben am Boden fixiert. Sie haben sie gelöst, immer in Gefahr,
  entdeckt zu werden, und das war keine Gier, das war Idealismus, es war
  ein Anfang, weitere Teppiche werden auf mysteriöse Weise verschwinden,
  und nur einige werden übrig bleiben, und das verknappte Rot wird allen
  wieder lieb und teuer werden, und die Menschen werden an die Strände
  pilgern, um Schnecken zu sammeln, viele Schnecken...