(SZ) Wer heute Abend ins Theater geht, zum Beispiel in der deutschen
  Hauptstadt, der hat die Wahl zwischen der Freude und dem Schrecken. Er
  kann im Berliner Ensemble nach Jerusalem reisen und staunend
  miterleben, wie Nathan der Weise alle Gewalt beendet. Oder er kann, im
  Maxim-Gorki-Theater, auf Tauris sein und dem versöhnlichen, verteufelt
  humanen Ende von Goethes "Iphigenie" beiwohnen, dem Sieg der
  hochherzigen Vernunft über alle Barbarei. Er kann aber auch den
  Rosenkavalier liebestoll schmachten und Maria Stuart wortmächtig
  sterben sehen. Oder in ein Stück geraten, dessen Titel "Gefährliche
  Besessenheit" nicht gerade Freundliches verheißt. Doch wo auch immer
  der Theaterbesucher heute Abend sein mag, er wird sicherlich, selbst
  wenn die Künstler ihr Allerbestes geben, aus seinem Theater
  hinausdenken müssen - ostwärts, zu einem anderen Theater. Nach Moskau,
  zum Musical "Nord- Ost". Zum Schauplatz von Terror und Tod.

  Wer eine Theaterkarte kauft, so die uralte Verabredung, verlässt die
  Wirklichkeit - und ist in Sicherheit. Natürlich hört man im Theater
  nicht nur die Zauberflöten, sondern auch den Lärm der Geschütze.
  Trifft man nicht nur die Rosenkavaliere, sondern auch die Killer. Ja,
  vielleicht wird im Theater noch schmerzensreicher gestorben und noch
  grässlicher gemordet als im wirklichen Leben. Natürlich ist auch das
  Theater ein Schauplatz ewiger Schrecken, aber vollkommen trostlos ist
  es doch nie. Weil alles Grauen endet, wenn der Vorhang fällt. Weil
  alle Toten zum Schlussapplaus fröhlich auferstehen. Weil Desdemona,
  gerade noch von Othello erwürgt, jetzt bald mit ihrem Kollegen Mörder
  ein Bier in der Kantine trinkt. Oder, schöner noch: selbzweit im
  Mondschein wandelt.

  Auch dieses Kinderglück, auch diese Ruhe ist nun hin. Gewiss, ein
  vollkommen geschützter Ort war das Theater nie. Abraham Lincoln wurde
  in einer Loge in Washington erschossen, ausgerechnet von einem
  Schauspieler. Im Mai der Stürme, 1968, wurde das Pariser Odéon zum
  Revolutionsparlament. Im Oktober 1985 besetzten Frankfurter Juden die
  Bühne und verhinderten eine Fassbinder- Uraufführung - und diese
  Theaterverhinderung samt Debatte wurde ein wichtigeres
  Theaterereignis, als es das verhinderte Stück je hätte werden können.
  Aber so wie jetzt in Moskau bei "Nord-Ost" hat die Wirklichkeit noch
  niemals ein Theater überfallen, das Paradies des Unwirklichen
  zerstört. Wer heute Abend ins Theater geht, oder morgen, oder
  irgendwann demnächst, der wird es kaum noch so leichtherzig tun wie
  bisher. Der wird an Russland und die Russen denken, auch wenn nicht
  Tschechows "Drei Schwestern" gespielt werden, mit ihrem ewigen
  Refrain: "Nach Moskau!" Sondern, zum Beispiel, "Iphigenie". Das Stück
  mit den letzten Worten: "Lebt wohl!"