(SZ) Der Volksmund hat gut reden. Er darf sich auf die einfachen
  Wahrheiten zurückziehen. Also sagt er zum Beispiel, dass er es Quatsch
  gefunden hätte, wenn Boris Becker ins Gefängnis gemusst hätte: "Denn
  da liegt er doch wieder den Steuerzahlern auf der Tasche." Oder er ist
  ein sehr hübscher Volksmund, gehört laut dpa einer
  Einzelhandelskauffrau namens Evelyn und ruft: "Freiheit für Boris!"

  Was aber sagt der große Mann aus dem Volk, der gerade im Namen des
  Volkes zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und insgesamt 500000 Euro
  Geldstrafe verurteilt worden ist? Er gibt zu Protokoll: "Das war mein
  wichtigster Sieg." Und das ist ersichtlich keine einfache Wahrheit.
  Sondern ein abgründiger, paradoxer Satz von der Art, wie wir sie von
  den Dichtern kennen: "Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles."
  Ein großes Vernichtungspotential verbirgt sich in den fünf dürren
  Worten des frisch Vorbestraften. In ihnen bringt der geniale
  Tennisstar dem mäßig erfolgreichen, nicht eben gesetzestreuen
  Geschäfts- und Lebemann seine Karriere zum Opfer. Um den Titel des
  wichtigsten Sieges konkurrieren nun nicht mehr die großen Matches
  gegen Lendl, gegen Ivanisevic oder jene 6Stunden und 39 Minuten von
  Hartford, an deren Ende in der Saison 1987 mit 4:6, 15:13, 8:10, 6:2
  und 6: 2 der Sieg über John McEnroe stand. Der 24.Oktober 2002, der
  triste kurze Gerichtstermin, verweist sie alle auf die Plätze.

  Ach, aus Boris Becker, dem Leimener, spricht längst nicht mehr Volkes
  Stimme, sondern nur noch das Drama des begabten Kindes. Wäre es
  weniger begabt gewesen, es hätte die Siege nicht gegeben, die den
  Grundstein zum bitteren Triumph am Landgericht München I legten. Die
  Zelle, in die es nicht muss, ist der Grund, dass es den Tag seiner
  Verurteilung als Sieg feiert. Dabei hat das Kind, erwachsen geworden,
  zur Not in engen Besenkammern seinen Mann gestanden. Von Luciano
  Pavarotti sagt man in Italien: Wenn er wegen Steuerhinterziehung
  verurteilt würde und seine Schulden zahlen müsste, wäre nicht nur der
  italienische Staatshaushalt saniert; es müsste auch eine extra Zelle
  gebaut werden, in der er Platz fände. Wäre der Geschäftsmann Boris
  Becker ins Gefängnis eingeliefert worden, so hätte das begabte Kind,
  das ihn hätte begleiten müssen, darin keinen Platz gefunden. Kein
  Michael Stich hätte ihm Auslauf geben können. Es hätte sich womöglich
  mit Tischtennis begnügen müssen. Tennis als Gefängnissportart steckt
  noch in den Kinderschuhen. Zwar muss auch beim Tennis, wie im Fall
  Pavarotti, in gewisser Weise das Runde ins Eckige. Aber eben nichts
  ins Enge. Schon wegen der Lobs und Passierschläge. Das weiß das
  begabte Kind. Darum hat es seine strahlende Jugend an diesem tristen
  Urteilstag von München verleugnet.