SZ)Wie hat man sich einen Riesenvogel vorzustellen? Was berechtigt zur
  Führung dieses Titels? Eine Handhabe findet sich bei Mao Zedong, der,
  wie zu vielem, auch zu diesem Thema Essentielles zu sagen hatte. "Der
  Riesenvogel schlägt die Schwingen, stößt neunzigtausend Li empor",
  schreibt er in seinem Gedicht "Gespräch zweier Vögel", zu singen auf
  die Melodie Niän Nu Djiao. Was für Schwingen man für 90000 Li braucht,
  kann man nur ahnen. Sie müssen jedenfalls gigantisch sein, Spannweite
  10 Kilometer oder so, weil 1 Li immerhin zwischen 400 und 700 Meter
  misst, weil also schon bei kleinster Umrechnung 36000 Kilometer zu
  bewältigen wären. Das sind wahrhaft chinesische Dimensionen, vor denen
  der kürzlich in Alaska gesichtete "mysteriöse Riesenvogel" (dpa) doch
  besser die Segel striche. Der Pilot John Bouker, der ihn gesehen haben
  will, schätzt seine Spannweite so ein wie die Flügellänge einer
  Cessna: etwas über vier Meter.

  Auf der anderen Seite ist körperliche Größe nicht alles. Die Welt
  befindet sich augenblicklich in einem Zustand, der eine Konjunktur für
  Mysteriöses förmlich heraufbeschwört, jedenfalls begünstigt. Bei
  dieser Lage der Dinge können heute selbst kümmerlichste Unglücksraben
  ihr Schäfchen ins Trockene bringen, um wie viel mehr einer von der
  Breite einer halben Cessna. Wahrscheinlich ist er ja ein ganzes Stück
  schmäler, weil ein Biologe bereits darauf verwiesen hat, dass Vögel
  von vier Metern Spannweite seit 100000 Jahren nicht mehr leben -
  "meines Wissens", wie er mit feiner Wissenschaftler- Ironie
  hinzufügte. Seines Wissens! Unseres Wissens gab es auch später noch
  Vögel, die jeder Cessna spotteten, vielleicht nicht durch ihre
  Geschwindigkeit, sicher jedoch durch ihre Größe. Denken wir nur an den
  Vogel Roch, dessen Ei so jumbomäßig groß war, dass Sindbad sechzig
  Schritte tun musste, um es zu umrunden. Sindbad flog mit ihm später
  ins Tal der Diamanten, indem er sich an den Krallen festhielt.
  Gewissermaßen eine Fahrt im Radkasten, auf der Roch-Air.

  Uns in Deutschland kann der Riesenvogel von Alaska egal sein. Zurzeit
  sind wir mit Pleitegeiern gut versorgt, möglicherweise sogar
  überversorgt. Die Situation ist fast wie in Hitchcocks "Vögeln":
  Überall sitzen die Geier herum, während wir Türen und Fenster
  vernagelt haben und hoffen, dass die Luder nicht am Ende durch den
  Kamin hereinkommen. Unvermeidlich gehen die Gedanken in so einer
  Stunde nach Berlin, zum Bundesfinanzminister, der in letzter Zeit viel
  leiser herumgeht als früher. Auch er weiß: Jeder Laut, jedes
  unbedachte Wort kann die Geier wecken. Gut vorstellbar, dass er jetzt
  manchmal an Mao Zedongs Riesenvogel denkt und sich nichts sehnlicher
  wünscht, als die Schwingen schlagen und abschwirren zu können,
  neunzigtausend Li und auch noch weiter, wenn's sein muss.