(SZ)Stellen wir uns folgende indische Alltagssituation vor: Ein Taxi,
  Marke "Hindustan Ambassador", bahnt sich seinen Weg durch die Straßen
  Delhis. Der Fahrer macht Tempo, weder anderer Autos noch kreuzender
  Menschen achtend. Plötzlich schleudert ein gewagtes Ausweichmanöver
  mit anschließender Vollbremsung Chauffeur und Fahrgast nach vorn. Die
  Ursache für den Nothalt bleibt ruhig im Staub der Straße liegen und
  käut wieder. Es ist ein Zebu, eins jener falben Höckerrinder, die
  sämtliche Wege und Plätze Indiens bevölkern. Nun bremst der Taxifahrer
  nicht etwa, um das Leben der Wageninsassen zu schonen. Er tut's in
  Kenntnis einer brahmanischen Verfügung, nach der jeder zum
  Unberührbaren wird, der ein Rind tötet.

  Derart ehrfürchtiges Gebaren wird vielen Okzidentalen wohl stets
  ebenso unverständlich bleiben wie die Tatsache, dass im indischen
  Khagaria ein Lokführer seinen Zug entgleisen ließ, um den
  Zusammenprall mit einer Heiligen Kuh zu verhindern. Wir sind es
  gewohnt, unsere Rinder im Zweifel etwas robuster zu behandeln. Bei
  Viehtransporten nehmen wir Bruch und Schwund in Kauf: Man verfrachtet
  einige Dutzend schwarzbunte Holsteiner von ihrer Weide weg nach
  Triest, wo sie umgehend eine achttägige Schiffsreise nach Beirut
  antreten. Dort wirft man die Überlebenden auf Lastwagen, die sie flugs
  zum Schächthof bringen. Wer Solches als notwendige Folge der
  Sachzwänge moderner Tierverschickung hinnimmt, hat gewiss nur ein
  Kopfschütteln übrig für das metaphysische Gewese, das der Hindu um
  sein Hornvieh macht. Im übrigen streunen die Tiere in Indien ja herum
  und müssen sich ihr Futter selbst suchen. Unsere Rinder dagegen
  nennen, zumindest bis zum Abtransport, saftige Wiesen und wärmende
  Ställe ihr Heim.

  Darf es daher als Geste boviner Undankbarkeit gelten, was sich
  unlängst in Oberbayern zutrug? Dort attackierten ohne erkennbaren
  Anlass vier Kühe einen Mann, der an ihrer Weide vorbeispazierte und
  traktierten ihn derart mit Horn und Huf, dass er ins Krankenhaus
  musste. Ein Rätsel war dieses Verhalten dem örtlichen Amtstierarzt,
  der beteuerte: "Unser Fleckvieh ist in der Region sehr bedächtig."
  Sind also die vier Rinder Einzeltäter? Oder ist ihre Aggression ein
  erstes Zeichen, dass hier die Kreatur zurückzuschlagen beginnt - sei
  es aus Solidarität mit transportgeschädigten Artgenossen, sei es als
  vorweggenommene Rache für zukünftige eigene Unbill? Bricht ein
  Nutztier- Aufstand aus wie in George Orwells "Animal Farm"? Dann
  müssten wir uns vorwerfen lassen, nicht rechtzeitig auf den
  amerikanischen Historiker William H. Prescott gehört zu haben, der
  schon vor 150 Jahren mahnte: "Je würdiger ein Volk ist, desto edler
  verhält es sich gegen Schwächere - ritterlicher gegen Frauen,
  barmherziger gegen Tiere."