(SZ)Gerade dieser Tage gilt es daran zu erinnern: Es gibt kein wahres
Leben im falschen! Kanzlerkandidat Edmund S. kann das aus jüngster
Erfahrung bestätigen. Obwohl seine Lebensführung, wie andeutungsweise
bekannt, von mehr als religiöser Enthaltsamkeit ist, was den Genuss
alkoholhaltiger Getränke anbelangt, versprach er zu Beginn des
Wahlabends, er werde in dessen späteren Stunden "ein Glas Champagner
öffnen". Das Versprechen haben wir uns gemerkt und seiner Einlösung
den ganzen Abend vor dem Fernseher geharrt. Das war nicht vergebens,
denn zu später Stunde, der Kandidat war unterdessen aus Berlin kommend
in München gelandet, wusste uns einer der Hofberichterstatter des
Bayerischen Rundfunks zu vermelden, Edmund S. habe einen Schluck
"Sekt" zu sich genommen.
Dass Sekt aber nicht Champagner ist, Vergleiche zwischen beiden auch
nicht zulässig sind, ist seit dem Versailler Vertrag zweifelsfrei
aktenkundig. Wer also öffentlich Champagner verspricht, dann sich aber
am Sekt heimlich labt und dabei erwischt wird, der bestätigt damit
nur, was seine spin doctors umsichtig zu verbergen suchten, dass
nämlich sein Image, sein "öffentliches Gesicht", durch eine
Glaubwürdigkeitslücke beschädigt ist. Das verschreckt Wähler weitaus
weniger als Wählerinnen, die sich deshalb in hellen Scharen von Edmund
S. abgewendet und dafür Gerhard S. ihr Kreuzchen geschenkt haben.
Dass Männer das Risiko, in eine Glaubwürdigkeitslücke zu stolpern, als
nur sehr gering einschätzen, ist bekannt. Häufiger als Frau neigen sie
zu Übertreibungen und Behauptungen, was als Großmannssucht
diagnostiziert wird. Das lässt sich aber nicht nur sprachlich, sondern
auch berufssoziologisch nachweisen: Der Hochstapler wie der
Heiratsschwindler sind eindeutig männliche Domänen. Sehr weit
verbreitet ist jedoch das ebenfalls aus spezifisch männlicher
Eitelkeit geborene Verlangen danach, mehr zu scheinen als zu sein. In
Deutschland und Österreich gibt es dafür eine Variante, die in der
zivilisierten Welt sonst ohne Beispiel ist: die Vergötzung
akademischer Titel. Da kann einer selbst als Buchautor so erfolgreich
sein, wie keiner seiner Zeitgenossen, es fehlt ihm zum Glück der Dr.
oder Prof. vor dem Namen. Karl May gehörte zu diesen erfolgreich
Unglücklichen. Weil er als Literaturwissenschaftler und nicht bloß als
Literat gelten wollte, kaufte er sich in Rouen, China und Chicago
falsche Doktortitel, wie der May-Forscher Dr. Christian Heermann jetzt
aufdeckte. Thomas Mann, dem dieses Problem keineswegs fremd war,
identifizierte die Untertanensehnsucht seiner Landsleute in den sehr
politischen "Betrachtungen eines Unpolitischen" mit der Figur des
"General Dr. von Staat". Das indes ist so falsch, dass es schon wieder
wahr ist.