(SZ) Die Bundestagswahl, dies ist erstaunlicherweise keinem der
  zahllosen so genannten Meinungsforscher, Analytiker oder auch Experten
  aufgefallen, fand am letzten Tag des Sommers statt. Die Schwindel
  erregende Wahlnacht also war die letzte Sommernacht. Montag, im
  Morgengrauen, begann der deutsche Herbst. Wer jetzt "Na und?" sagt,
  der hat von den Mysterien der Politik leider noch immer nichts
  begriffen. Hier nun unsere ebenso bestürzende wie quellklare These:
  Hätte diese Wahl nur einen Tag später stattgefunden, im Herbst also
  und nicht im Sommer, dann hätte sie ein anderes Ergebnis gehabt, dann
  hätten wir jetzt einen anderen Kanzler.

  Montag früh. Der Deutschlandfunk weckt den Liedermacher Wolf Biermann
  zum Interview aus dem Schlafe: des Sängers Fluch. Sofort aber legt
  Biermann, wie nicht anders zu erwarten, laut und lustig los. Schimpft
  auf Schröder, auf Stoiber - und am heftigsten natürlich auf die PDS.
  Und dann sagt er den Satz der Sätze: "Ich denke mit dem Herzen!" Bevor
  er erläutern kann, was er denn mit seinem (gewissermaßen arbeitslosen)
  Kopf tut, ist das Interview leider zu Ende. Und genau in diesem
  Augenblick muss man an Shakespeares "Sommernachtstraum" denken und an
  den Weber Zettel und an Zettels Traum, in welchem der gänzlich
  verwirrte Mensch plötzlich mit seinen Augen hört, mit seinen Ohren
  sieht. Kurzum: mit seinem Herzen denkt. Und eben nicht mit Kopf oder
  Gesäß. Haben die Deutschen (so denkt unser Herz nun unerschrocken
  weiter) im letzten Rausch der letzten Sommernacht womöglich Ähnliches
  erlebt? Haben sie, abermals Schröder wählend, mit den Herzen gedacht?
  Und nicht, wie es die Union (Kompetenz! Sachfragen! Arbeitsmarkt!)
  erhofft hatte, mit dem Hirn? War diese politische Wahl also in
  Wahrheit eine zutiefst romantische? War Schröder der Kanzler der
  Herzen, Stoiber der Kandidat des Herbstes? Dessen Pech oder auch
  Tragik es war, einen Tag zu früh antreten zu müssen? Einen Tag, bevor
  die Deutschen bereit gewesen wären zum Wechsel: der Regierung und der
  Jahreszeit?

  Der Mensch ist ein furchtsames Wesen. Misstraut dem Nachbarn,
  verteidigt sein Eigentum, hütet sein Sparbuch. Doch dann packt ihn
  urplötzlich ein Gefühl, das stärker ist als alle Vernunft. Dann
  vergisst er alle Zahlen. Dann schreitet er zur sentimentalen Tat. Dann
  verliebt er sich, dann zeugt er ein Kind (beides ökonomisch eher
  unvorteilhaft). Wolf Biermann, wenn unsere Recherchen zutreffen, hat
  zehn Kinder - hat also auch schon vor dieser Bundestagswahl immer
  wieder energisch mit dem Herzen gedacht. Sein Sängerkollege Pavarotti,
  um auch dies noch zu erwähnen, wird demnächst, und das im hohen Alter
  und mit schwindender Stimme, Vater von Zwillingen werden. Es ist
  Herbst. Doch der Sommer höret nimmer auf.