The Project Gutenberg EBook of Henriette Goldschmidt. Ihr Leben und ihr
Schaffen by Josephine Siebe, Johannes Pruefer
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Title: Henriette Goldschmidt. Ihr Leben und ihr Schaffen
Author: Josephine Siebe, Johannes Pruefer
Release Date: May 5, 2013 [Ebook #42651]
Language: German
Character set encoding: US-ASCII
***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HENRIETTE GOLDSCHMIDT. IHR LEBEN UND IHR SCHAFFEN***
[Illustration: Phot. a. d. Jahre 1919]
*Henriette Goldschmidt*
Ihr Leben und ihr Schaffen
Dargestellt von
_Josephine Siebe_
und
_Dr. Johannes Pruefer_
Oberstudiendirektor
_Mit 2 Bildern_
Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H. in Leipzig
1922
Otto Wigand'sche Buchdruckerei G. m. b. H., Leipzig.
[Illustration: Henriette Goldschmidt
im Schillerjahr 1859]
INHALT.
Inhalt
Zur Einfuehrung
Henriette Goldschmidts Leben
1. Jugend
2. Die Bewegung der vierziger Jahre
3. Die ersten Ehejahre in Warschau
4. Die ersten Jahre in Leipzig
5. Schaffensjahre
6. Ausklang
Henriette Goldschmidts Schaffen
1. Die geistigen Grundlagen ihrer Arbeit
a) Anfaenge der Frauenbewegung
b) Friedrich Froebel
2. Ihr Wirken fuer die Kindergartensache
a) Petition an die deutschen Regierungen
b) Streitschrift gegen K. O. Beetz
3. Ihre Reform der Frauenbildung
a) Kindergaertnerinnen-Ausbildung
b) Allgemeine Frauenbildung
Die Nachwirkung und Fortentwicklung ihrer Ideen an der Leipziger
Hochschule fuer Frauen
Anmerkungen
Bemerkungen zur Textgestalt
ZUR EINFUeHRUNG.
Als der Allgemeine Deutsche Frauenverein, schon mitten in den Wirren des
Weltkrieges, seine Fuenfzigjahrfeier in Leipzig beging, sass unter den
Ehrengaesten auch eine kleine alte Dame. Silberweisse Loeckchen - die
Haartracht einer vergangenen Zeit - umrahmten die Schlaefen, und unter dem
schwarzen Spitzentuch blickten die grossen, klugen Augen klar und guetig auf
das Treiben umher, anteilnehmend und doch schon von der Warte des hohen
Alters aus das Leben ueberschauend. Es klangen grosse, mutige Worte in den
Saal hinein; Worte von Erreichtem und zu Erhoffendem, auch Worte von
deutschem Siege, deutscher Kraft, und vielleicht war in dem uebervollen
Saal niemand so tief, fast prophetisch klar von der Angst um das Vaterland
erschuettert, das Land, das sie seit ihrer Kindheit mit Bewusstsein liebte,
wie die alte Frau _Henriette Goldschmidt_. Sie, die einst in der fruehesten
Jugend des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins mit ihren, ihr laengst in
die unbekannten Weiten vorangegangenen Genossinnen, Luise Otto-Peters und
Auguste Schmidt, oeffentlich fuer die Rechte der Frauen aufgetreten war,
hoerte nun, wie im Krieg laut der Ruf nach der Mithilfe der Frauen ertoente.
Aus den wenigen von einst waren viele geworden, eine gewaltige Masse, und
die alte Frau sah Erreichtes, sah die Frauen, sich ihrer Bestimmung
bewusst, auf ihrem Posten stehen, sie sah aber auch das um die
Jahrhundertwende aufgerichtete Ideal eines Frauenweltbundes in Scherben am
Boden liegen. Wuerde sich die kraftvolle Hand finden, die Zerbrochenes,
Zertruemmertes wieder zusammenfuegte?
Es gehoert heute weniger Mut dazu, rechts oder links den steilen Gipfel zu
besteigen und Kampfrufe ueber die Masse hinauszuschreien, als ihn vor mehr
als einem halben Jahrhundert Henriette Goldschmidt aufbringen musste, die
aus dem wohlumhegten Frieden des Hauses hinaustrat und zuerst die Frage
stellte: "Wir haben Vaeter der Stadt, wo bleiben die Muetter?"
Damals von der Gleichberechtigung der Frau im oeffentlichen Leben zu
sprechen war eine Tat; die Frauen aber, die zuerst diese Tat ausfuehrten,
hatten im Grunde wohl viel weniger das stolze Bewusstsein auf einer hohen
Lebenswarte zu stehen, wie es dann viele ihrer Nachfolgerinnen bei
geringeren Leistungen aufgebracht haben. Sie begannen ihr Werk, weil ihr
innerstes Fuehlen und Erkennen sie dazu trieb, sie standen im Bann einer
grossen, sie erfuellenden Idee, und so wurden sie Pionierinnen in jener
unbewussten Sicherheit, die das Kind leicht auf einer lose schwankenden
Bruecke ueber den Abgrund schreiten laesst.
Eine solche Pionierin, die bei aller Kraft des Wollens, unverrueckt ein
hohes Ziel vor Augen, doch immer jene Kindlichkeit des Wesens wahrte, die
sie Abgruende nicht sehen liess, war Henriette Goldschmidt. Sie blieb bis
ueber das biblische Alter hinaus eine Kaempferin und wurde dann mehr und
mehr die weise, guetige Lebensueberwinderin, die noch mit zitternder Hand
nach Lessing das Wort niederschrieb: "Muesste, so lange ich das leibliche
Auge haette, die Sphaere desselben auch die Sphaere meines inneren Auges
sein, so wuerde ich, um von dieser Einschraenkung frei zu werden, einen
grossen Wert auf den Verlust des ersten legen."
Die Schwere des hohen Alters machte sich auch ihr fuehlbar. Das Leben
rauschte immer lauter, draengender an ihr vorbei; fremde Melodien toenten
auf, die Menschen redeten nicht mehr die Sprache ihrer Jugend, und der
Geist von Weimar wurde in Deutschland von anderen Stimmen uebergellt, aber
Henriette Goldschmidt fand doch immer in der anmutigen Beweglichkeit ihres
Geistes die Kraft, Verbindungswege herzustellen, sie fand das weise
Laecheln des "Alles verstehen heisst alles verzeihen." Bis zuletzt aber
blieb ihr auch das ungeteilte Interesse an dem Werk ihres Lebens, dem
Leipziger Verein fuer Familien- und Volkserziehung und seinen Anstalten.
Und bis zur letzten Bewusstseinsstunde zehrte an ihr tief die trauernde
Sorge um das Vaterland.
Das Leben dieser Frau ist von einer seltenen Geschlossenheit; es geht die
ganz klare Linie folgerichtiger Entwicklung hindurch; es gibt keine
Brueche, kein sprunghaftes Hinundher in ihren Anschauungen, keine
Seitenpfade und Irrwege. Wir begegnen in diesem Leben nicht
unbegreiflichen Verwirrungen des Gefuehlslebens, es quellen nicht ploetzlich
aus dunklem Unterbewusstsein seltsame Lebensaeusserungen und Empfindungen
auf, und schon das junge Maedchen findet ganz klar den Weg heraus aus der
Verstrickung, in die es sein Familiensinn fuer kurze Zeit hineingetrieben
hatte.
Wollte jemand diesen Lebensweg bildlich darstellen, er muesste die lange
gerade bergansteigende Landstrasse waehlen, ohne Seitenwege und Biegungen,
Baumschatten und Sonnenflecke darueber und in der Ferne das hohe, helle,
klare Ziel: die geistige Befreiung der Frauen, die Erziehung der Frau zum
taetig bewussten Glied der Volksfamilie, die innerliche Versoehnung dieser
Volksfamilie und das Ueberbruecken sozialer Unterschiede durch den Einfluss
und die Teilnahme der Frau am oeffentlichen Leben.
Ehrenbezeigungen, wie Ordensverleihungen vermochten die ueberzeugte
Demokratin, die alte Achtundvierzigerin nicht zu beeinflussen und den Weg
des neuen Deutschland ging sie innerlich nicht mit, und vielleicht sah sie
gerade darum von Anfang, von der Stunde an, da England in den Weltkrieg
gegen Deutschland eintrat, so klar, dass Deutschland unterliegen wuerde. Bei
allem Siegesjubel der ersten Zeit blieb immer ihr Wort: "Ach, ich will
mich ja so gern irren!"
Bei der grossen Schaerfe ihres Verstandes, ihrem philosophischen Erkennen
des Lebens war Henriette Goldschmidt immer die Frau voll Anmut und
Kindlichkeit, sie besass eine Grazie des Geistes, die immer ohne Schaerfe
das richtige Wort fand. Sie sah aber daher auch das Dunkle, Lauernde am
Wege nicht; ein Ja war ihr ein Ja, ein Nein ein Nein, und sie hat es nie
verstanden, dass im Handumdrehen aus Neinsagern Jasager werden konnten. Und
wohl darum ist sie auch mitunter verkannt worden, auch von ihren
Mitarbeiterinnen in der Frauenbewegung; ihr unverrueckbares Zielsehen wurde
nicht immer gewuerdigt. Sie suchte immer die Einheit in der
Mannigfaltigkeit, nach der Lehre ihres Meisters Friedrich Froebel. Sie aber
war selbst eine Einheit.
Leider sind die Aufzeichnungen, die Frau Henriette Goldschmidt
hinterlassen hat, nur lueckenhaft. Sie hatte nie das Gefuehl der
Verpflichtung, ueber jeden Lebensabschnitt der Nachwelt gewissermassen
Rechenschaft abzulegen. Sie lebte dem Tag und seiner Arbeit, lebte mit
grosser Leidenschaft ihrem Ziel, und die Vergangenheit war ihr goldenes
Buch, das sie selbst, dank ihres glaenzenden Gedaechtnisses, zu jeder Stunde
aufschlagen konnte, sich heiter daran freuend oder nachdenklich darueber
sinnend. Selbst schrieb sie darueber: "Ich bin haeufig von aelteren und
juengeren Freunden, denen ich im geselligen Beisammensein Einzelheiten aus
meinem Leben mitteilte, gebeten worden, meine Lebensgeschichte zu
schreiben, doch konnte ich mich nicht dazu entschliessen. In den Jahren
lebensvoller Betaetigung war es nicht nur der Mangel an Zeit, es war
vielmehr der Mangel an Selbstbewusstsein. Durch meine oeffentliche
Wirksamkeit sind biographische Notizen in Zeitungen und Zeitschriften
gelangt, so dass ich es fuer ueberfluessig hielt, meine Persoenlichkeit noch
oeffentlich vorzustellen."
Ueber manche Zeit ihres Lebens, so ihre Anteilnahme an der deutschen
Frauenbewegung, sind schon Niederschriften vorhanden, und es ist nicht der
Zweck dieses kurzen Lebens- und Arbeitsbildes, zu schnell Festgelegtem
vielleicht, eine neue Beleuchtung zu geben, vielmehr soll hier das ganz
eigene persoenliche Wirken Henriette Goldschmidts, besonders, wie sie neben
ihrer Pionierarbeit in der deutschen Frauenbewegung sich ihren eigenen
Wirkungskreis schuf, in den zwei Abschnitten "Leben" und "Schaffen"
dargestellt werden.
Aus Niedergeschriebenem, Erzaehltem, Erinnerungen, gefuehrten Gespraechen und
fluechtig hingeworfenen Worten ist dieses kurze Lebensbild gewoben. Es
zeigt nicht die modernen grellen Linien derzeitiger Gewebe, der Hauch der
vergangenen, der wirklich guten alten Zeit ruht ueber diesem Leben, denn
seine Wurzeln hingen noch in der klassischen Zeit. Der Geist von Weimar
war es, der dieser Frau die Kraft und den Aufschwung gab, sich selbst zu
einer Persoenlichkeit von ganz eigenartigem Gepraege zu entwickeln. Dem
Geist von Weimar blieb sie ihr Leben lang treu, von ihm wich sie nicht um
eines Halmes Breite ab, und so lebte sie ihr inneres und in seiner
Einfachheit auch ihr aeusseres Leben in dem Lichte, das uns von Weimar
gekommen ist.
HENRIETTE GOLDSCHMIDTS LEBEN
1. Jugend.
Zwischen dem Weimar des Jahres 1825 und dem deutsch-polnischen Staedtchen
Krotoschin von damals, welche ungeheure, geistige Entfernung! In der
kleinen Provinzstadt spuerten wohl nur wenige den Hauch des Geistes von
Weimar; es war ein richtiges Philisternestchen, in dem am 23. November
1825 Henriette Benas als sechstes Kind eines juedischen Kaufmanns geboren
wurde. Das wohlhabende Haus, in dem sie aufwuchs, war durch die kuehle
Strenge der unmuetterlichen zweiten Frau des Vaters der hellen Waerme einer
echten Heimstaette beraubt worden. Es ist bezeichnend fuer die geistige
Wertung des Fraueneinflusses in damaliger Zeit, dass der geistig
hochstehende Vater, von dem die Tochter sagte, er haette seinen Kindern
"die Anregung fuer die Auffassung der Lebensverhaeltnisse ueber das ewig
Gestrige hinaus gegeben", die zweite Frau waehlte, weil sie nicht lesen und
schreiben konnte, seinen fuenf mutterlosen Kindern also eine fuersorgliche
Mutter sein wuerde, deren Geist nicht durch ueberfluessige Lektuere abgelenkt
werden wuerde. Trotz ihrer Unbildung besass die Frau aber eine gewisse Wuerde
des Wesens, sie war sich ihrer Stellung als Hausfrau bewusst, und der
Haushalt mit allen seinen Verzweigungen nahm, nicht immer zur Freude der
Kinder, ihr ganzes Denken in Anspruch, und sie verlangte dies gleichfalls
von den heranwachsenden Toechtern. Henriette schrieb spaeter von dem Einfluss
der Stiefmutter: "Leider war unsere Stiefmutter keine muetterliche Natur,
und wie alle Vorurteile genaehrt und gestaltet werden durch die
Gedankenlosigkeit der Menschen, so wurde auch dies schwierige Verhaeltnis
der Stiefmutter durch liebevolle Verwandte und Freunde fuer uns Kinder
unnoetig bedrueckend gemacht. Es entwickelten sich nach und nach alle die
Unstimmigkeiten, die in solchem Verhaeltnis gang und gaebe sind. Ich kann
nicht behaupten, dass ich im Verkehr mit meiner Stiefmutter mich als
praedestiniert fuer eine Schuelerin Froebels betrachten kann, doch hatte das
Missverhaeltnis einen Kampf in mir erzeugt, der mein Wesen, vielleicht mein
Leben haette vernichten koennen."
Von ihren Vorfahren wusste Henriette Goldschmidt-Benas nicht allzuviel; an
ihre eigne Mutter erinnert sie sich nicht mehr, sie war etwas ueber fuenf
Jahre alt bei deren Tode. Den tiefsten Eindruck hat auf ihr Kindergemuet
das Schicksal ihres Grossvaters gemacht. Sie schrieb von ihm: "Vor meinem
geistigen Auge steht mein Grossvater so, wie er aus den Erzaehlungen seiner
Frau und seiner Kinder hervortrat. Ich selbst lernte ihn infolge seines
fruehen Todes nicht kennen. Er war in Krotoschin geboren, wurde, wie es
damals ueblich war, mit achtzehn Jahren verheiratet und entschloss sich,
seine Heimat, Frau und Kind zu verlassen, um sich eine umfassendere
Bildung zu verschaffen; seine einzigen Vorkenntnisse waren die des
hebraeischen Schrifttums. Er wandte sich zuerst nach Berlin an Moses
Mendelssohn, den bekannten Philosophen ..... Mein Grossvater suchte ihn auf
und erhielt durch seine guetige Vermittlung die Stelle eines Hauslehrers in
Fridericia in Daenemark. Im Hause eines begueterten Glaubensgenossen, namens
Ree, wurde er Lehrer des Hebraeischen und blieb mehrere Jahre in dessen
Hause. Er nahm teil an dem wissenschaftlichen Unterricht seiner Schueler
und hatte somit Gelegenheit, sich ein gruendliches Wissen anzueignen. Ja,
bei einem Besuche des Koenigs von Daenemark in Fridericia erhielt er den
Auftrag von der dortigen juedischen Gemeinde, den Koenig in franzoesischer
Sprache zu begruessen. Dass es ihm schwer fiel, das Land und die
Verhaeltnisse, die ihn zum Manne gereift hatten, zu verlassen, ist
begreiflich, aber seine Frau war nicht zu bewegen, von Krotoschin
fortzugehen, und so musste er sich entschliessen, in seine ihm fremd
gewordene Heimat zurueckzukehren."
Dieser Grossvater, der in seinen letzten Lebensjahren immer weiss gekleidet
ging, stand seiner Frau wie ein hoeheres Wesen vor Augen, und die Ehrfurcht
vor der Weisheit des Mannes ging auch auf die Enkelkinder ueber. Die
Grossmutter selbst mit ihrer liebevollen Guete lebte noch lebendig in der
Erinnerung der Enkelin. Von den Kindern blieb nur der Vater Henriettes in
Krotoschin. Henriette war Art von seiner Art, war es innerlich und wohl
auch aeusserlich, denn noch in spaeteren Lebensjahren erinnerten die Greisin
selbst manche ihrer Bewegungen an den Vater. Dieser, ein sehr lebhafter,
fortschrittlich gesinnter Mann, pflegte manchmal zu sagen, wenn seine
Kinder allzu leidenschaftlich in politischen Fragen Partei nahmen: "Ich
habe doch sonderbare Kinder!"
Dass er selbst in seiner Art Vorbild der Kinder war und erheblich in seinem
Wesen von dem seiner Mitbuerger abstach, kam ihm dabei kaum zum Bewusstsein.
Seine Tochter schildert ihn im Anschluss an den aus Kaufleuten bestehenden
juedischen Teil der Bevoelkerung Krotoschins:
"Meinem Vater sagte der Kleinkram des dortigen Geschaeftslebens wenig zu,
er konnte sich nicht beschraenken, an den zwei Markttagen der Woche von den
Bauern Getreide zu kaufen und an den Mueller zu liefern, er trat in
Beziehung zu Geschaeftshaeusern in Stettin, Berlin und Hamburg. So waren
seine Unternehmungen als Kaufmann grosszuegiger Natur. Da seine Jugend in
den Anfang des 19. Jahrhunderts fiel, erlebte er die Befreiungskriege mit,
und sein Sinn blieb stets der Geschichte und den politischen Erscheinungen
der Gegenwart zugewendet. So verfolgte er, der ueberaus beschaeftigte
Kaufmann, mit waermster Anteilnahme und lebhaftestem Interesse die innere
Bewegung der vierziger Jahre, die auf allen Gebieten des Geisteslebens die
Gemueter ergriff."
Neben dem Vater, der Stiefmutter und den Geschwistern (vier waren zwischen
ihr und der zehn Jahre aelteren Schwester noch im fruehesten Kindesalter
gestorben), mit denen die junge Henriette innige Liebe verband, waren es
noch einzelne Gestalten, die schattenhaft in der Erinnerung der alten Frau
auftauchten. Vor allem war es eine Tante Ninon, an die sie sich lebhaft
erinnerte. Diese Tante Ninon hatte offenbar ein grosses schauspielerisches
Talent besessen, sie wusste ganze Rollen auswendig, mimte sie den Kindern
vor und fesselte die kleine Schar auch immer wieder durch phantastische
Erzaehlungen von einer Reise nach - Breslau. Dann lebte noch ein greiser
Onkel in der Erinnerung der alten Frau fort, der noch mit etwa neunzig
Jahren zu sagen pflegte, wenn jemand vom Tode sprach: "Zu was brauche ich
mich zu sputen auf das, was mir so gewiss ist."
Ganz fruehe Kindheitserinnerungen knuepften sich noch an einen Brand, bei
dem eine Anzahl Haeuser vernichtet wurde, und der ihrem Vater, der sie
selbst aus seinem gefaehrdeten Hause trug, beinahe Freude bereitete, da er
in seinem Optimismus bereits an Stelle der engen, ungesunden, winkeligen
Quartiere neue helle Heimstaetten erstehen sah.
Sonst hatten sich ihr die fruehen Kindheitserinnerungen durch ihr reiches
spaeteres Erleben ziemlich verwischt; lebhaft gedachte sie noch eines
Gartens, in dem die Kinder fuer wenige Pfennige so viel Beerenobst essen
durften, wie sie wollten, und dabei manchmal des Guten etwas zuviel taten.
Es ist bezeichnend fuer das Kindheitserinnern, dass diese beiden zeitlich
auseinanderliegenden, ganz verschiedenen Tatsachen den staerksten Eindruck
hinterlassen haben.
Die Schule vermittelte der jungen Henriette nur geringe Bildungswerte, sie
war aber dennoch die Ursache, dass die Greisin, schon fast neunzig Jahre
alt, einige kurze Aufzeichnungen machte. Zur Eroeffnung der Hochschule fuer
Frauen in Leipzig 1911 sandte naemlich der Direktor der Toechterschule in
Krotoschin einen Glueckwunsch, verbunden mit einer Einladung zum
fuenfundsiebzigjaehrigen Jubilaeum der Schule, zu deren ersten Schuelerinnen
die junge Henriette gehoert hatte. Sie schrieb davon spaeter nieder:
"Dieser Rueckblick auf die lange hinter mir liegende Vergangenheit brachte
mir den Weg zum Bewusstsein, den ich zurueckgelegt. Nur einem inneren Drange
folgend, bin ich von der kleinen Stadt in der Provinz Posen in die
deutsche Kulturwelt hineingewachsen. Ohne einen anderen Unterricht als den
duerftigen einer Elementarschule und den Besuch eines Jahreskursus in
einer, aus einer Klasse bestehenden Toechterschule, bin ich zur Gruendung
einer Hochschule fuer Frauen gelangt in einer der anerkanntesten
Kulturstaedte des Vaterlandes.
Mit vierzehn Jahren hatte ich meine Schulzeit beendet. Eine grosse
Bereicherung hat sie mir nicht gebracht, dennoch ist sie natuerlich nicht
ohne Einfluss auf meine innere Entwicklung gewesen, brachte sie mich doch
in Beziehung zu Mitschuelerinnen aus einem anderen, als dem gewohnten
Lebenskreise. Zum erstenmal trat ich Toechtern aus dem deutschen Beamten-
und Offizierstand nahe, empfand zum ersten Male, dass diese sich in
bevorzugter Stellung den juedischen Mitschuelerinnen, also auch mir
gegenueber zu befinden glaubten, und es kam zu kleinen Zwistigkeiten
zwischen uns. Einen Streit hatte ich mit einer adeligen Majorstochter, die
das vertrauliche Du, das wir fast alle untereinander gebrauchten, auch bei
mir anwendete, sich aber berechtigt fuehlte, sich von mir den gleichen
Gebrauch ihr gegenueber zu verbitten. Ich war darueber derartig entruestet,
dass ich den Eintritt des Lehrers ueberhoerte, so dass er Zeuge des Streites
wurde. Zur Ehre dieses Lehrers sei erwaehnt, dass er sich meiner, der
Herausgeforderten, annahm und das junge Fraeulein von Soundso in seine
Schranken zurueckwies. So jung ich damals war, so hatte ich doch in einer
Zeit und in Verhaeltnissen, in denen es als selbstverstaendlich galt, die
Juden nach Belieben zu behandeln, so viel Persoenlichkeitsgefuehl, um gegen
solche mich beleidigende Behandlungsweise gewappnet zu sein!"
Das starke Gerechtigkeitsgefuehl, das leidenschaftliche Temperament rissen
die junge Henriette auch manchmal zu unbedachten Aeusserungen hin. An den
Wortlaut des Streites mit einer Mitschuelerin aus einer anderen
Gesellschaftsschicht erinnerte sie sich nicht mehr genau. An eine Szene
aber dachte die Greisin noch mit heiterem Lachen. Der Lehrer wandelte in
der Klasse auf und ab, und stiess von Zeit zu Zeit tiefe Seufzer aus und
jedesmal sagte er, vor Henriette Benas stehenbleibend, dumpf: "Wem gelten
diese Seufzer? Dir, Benas, gelten sie!" Die Szene machte einen tiefen
Eindruck auf die junge Henriette, noch schluchzend trat sie mit der
Freundin den Heimweg an und sagte zu dieser, auch einem Jettchen: "Du
wirst sehen, dass ich nie mehr im Leben lachen werde." Sie hat dann
freilich das gute herzbefreiende Lachen wieder gelernt, hat es bis in ihr
Alter sich bewahrt und pflegte spaeter lobend von einem Menschen zu sagen:
"Er hat so ein gutes Lachen."
Uebrigens blieb sie mit dieser Freundin bis zu deren Tode in tiefster
Zuneigung verbunden, und als sich die alten Damen, so um die Wende ihres
achtzigsten Lebensjahres herum, endlich einmal wiedersahen, da standen die
kleine Stadt, das ganze Leben von damals vor beiden auf, und herueber und
hinueber toente die Frage. "Jettchen, weisst du noch? - Jettchen denkst du
noch an unseren saechsischen Klavierlehrer, der immer verlangte, ich sollte
mit mehr "Gefiehl" spielen." Jettchen hin, Jettchen her, es war die gute
alte Biedermeierzeit, die vor beiden aufstand.
Der grosse Weise von Weimar lebte noch, als die junge Henriette zum ersten
bewussten Leben erwachte, doch seine Sonne stand nicht ueber ihrer Jugend,
ihr kam der Glanz von seinem fruehe dahingegangenen Freund, von Schiller.
Dieser verklaerte ihr Leben, und der Glanz blieb hell, verblich nicht bis
zu ihrer Todesstunde; Schiller war und blieb "ihr" Dichter. Als sie mit 94
Jahren einen Unfall erlitt und sich in ihrer Wohnung eine schwere
Kopfverletzung zuzog, die mehrfach genaeht werden musste, fuerchtete der
treue Arzt nach der Aufregung und dem grossen Blutverlust Fieber. Ihre im
Hause wohnende juengere Freundin uebernahm die Nachtwache, und als sie an
das Bett der Kranken trat, sah diese mit grossem tiefen, aus schoenen Weiten
kommenden Blick zu ihr auf und sagte: "Mein Kind, eben habe ich mir die
Ideale von Schiller vorgesagt, wie schoen sind sie doch!"
Die junge Henriette lernte ihren Schiller nicht durch Literaturunterricht
kennen, sie las, sie erlebte ihn. Als Elfjaehrige fand sie den Weg zu ihm.
Da die Mutter Lesen abends bei Licht fuer ueberfluessig hielt, sass sie im
Mondenschein auf dem kleinen engen Haushof und las mit klopfendem Herzen,
das Buch dicht vor die Augen haltend. Sie trank des Dichters Worte in sich
hinein, und sie war Johanna, sie war Maria Stuart, sie lebte und litt mit
den Gestalten seiner Werke und einmal ergriff sie sogar im Eifer eine
Stange, die auf dem Hofe stand, und rief mit lauter Stimme ueber den Hof:
Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften!
Ein so grosses Verstehen der Werke unsrer schoepferischen Paedagogen sie
spaeter als Henriette Goldschmidt zeigte, und so viel sie in ihrer Arbeit
der Jugend diente, auch einer unserer besten von den aelteren
Jugendschriftstellerinnen, Emma Wuttke-Biller freundschaftlich nahe trat,
so hielt sie doch lange Schillers Werke fuer die geeignetsten
Jugendschriften. Sie fand, die Jugend, die Schiller besass, brauche keine
anderen Buecher. Ihren drei Stiefsoehnen las sie in Krankheitstagen
besonders gern Schiller vor, und der eine, damals zehnjaehrig, fragte sie
einmal: "Mutter, warum ist es denn Unrecht, dass Don Carlos seine Mutter
liebt, ich liebe dich doch auch!" Die Begeisterung fuer Schiller fand auch
bei den Geschwistern Widerhall, besonders wurde die fuenf Jahre juengere
Schwester Ulrike bald die vertrauteste Freundin der jungen Henriette. Das
hochbegabte Maedchen teilte ihre geistigen Interessen fruehe, waehrend die
anderen Schwestern etwas ausserhalb standen, die aelteste hatte sehr fruehe
geheiratet, eine andere Schwester aber war schon als Kind schwer krank.
Mit dem Bruder dagegen waren die Schwestern innig vertraut, dennoch fand
er sich manchmal zurueckgesetzt, und den Vorzug, der einzige Sohn im Hause
zu sein, nicht recht gewuerdigt. Er klagte dann wohl: "Ich bin doch euer
einziger Bruder, den ihr habt."
In dies herzliche Geschwisterleben fiel ein schwerer, dunkler Schatten,
als die aelteste Schwester, noch nicht dreissigjaehrig, waehrend einer
Typhusepidemie starb. In ihren Aufzeichnungen schreibt die Greisin
darueber: "Meine Schwester hinterliess drei Kinder, deren juengstes noch bei
der Amme war. Wir Geschwister waren tief erschuettert, tiefer und
nachhaltiger, als es sonst die Natur solch jungen Geschoepfen gestattet.
Mir, der nunmehr aeltesten Schwester, fiel die Sorge um die kleinen Nichten
zu, waehrend fuer den Haushalt des Schwagers eine aeltere Verwandte eintrat.
Es ist bei solch traurigem Familienereignis wohl die beste und einfachste
Loesung, wenn die zweite Schwester den Schwager heiratet und die Mutter
ersetzt. Mein Schwager war ein gebildeter Mann, er stand vor dem Abschluss
seines Studiums, als er meine Schwester kennen lernte. Da entschloss er
sich zu verzichten und trat in das Geschaeft meines Vaters ein. Wir lebten
in gutem geschwisterlichem Verhaeltnis miteinander und als er nach Ablauf
des Trauerjahres mit meinem Vater ueber die Verbindung mit mir sprach,
sagte dieser: "Sie koennen ja mit meiner Tochter ueber die Verbindung selbst
reden, ich glaube, Sie verstehen sich gut miteinander."
Und auch ich glaubte es, die ich nur von dem Wunsche beseelt war, die
verwaisten Kinder vor dem Schicksal einer anderen Stiefmutter zu bewahren.
Es dauerte ziemlich lange, ehe ich mir klar wurde, dass mein Gefuehl fuer die
Kinder sich nicht auf den Vater uebertragen liess. Und so kaempfte ich in
jungen Jahren einen harten Kampf, dessen Bedeutung ich erst viel spaeter
erkannte. Es war ein Kampf des unbewussten Gefuehlslebens, das sich zu
behaupten suchte, trotz des eigenen Widerstandes. Dieser Abschnitt meines
Lebens koennte in einer Biographie einen Raum einnehmen, der fuer die
Kenntnisse des Seelenlebens wertvollen Stoff lieferte."
Die bald sich zeigende Eifersucht des Schwagers, der die junge,
ungewoehnlich reizvolle Schwaegerin misstrauisch ueberwachte, war der tiefste
Grund dieser immer mehr wachsenden Abwehr. Die junge Henriette fuehlte, von
ihrem inneren Leben sollte Besitz ergriffen werden, und sie wehrte sich
mit aller Kraft dagegen; sie spuerte es, nur der Mann, der ihrer eigenen
Natur gerecht wurde, der ihr den Eigenwert ihres inneren Menschen liess,
konnte der sein, dem sie sich einmal zu eigen gab. So hatte sie schon
mehrfach Bewerber abgewiesen und so fand sie auch hier den Mut des
Neinsagens in diesem schweren seelischen Konflikt. Sie selbst bekannte:
"Ihn zu ueberstehen half mir die revolutionaere Bewegung der vierziger
Jahre, das Jahr 1848."
2. Die Bewegung der vierziger Jahre.
In vielen Dingen hatte der Kaufmann Benas in Krotoschin sehr moderne
Anschauungen, so verlangte er, damals etwas ganz Ungewoehnliches, von
seinen Toechtern, sie sollten jeden Tag spazieren gehen. Und da die Auswahl
der Spaziergaenge gerade nicht gross war, gingen die beiden Maedchen
Henriette und Ulrike beinahe taeglich die Landstrasse entlang, die nach
Zduny fuehrte. Den Reiz der grossen Weite, die dem freien Blicke keine
Grenzen zu geben scheint, hatte man damals noch wenig erkannt, die beiden
Schwestern fanden daher ihren taeglichen Weg einfoermig genug. Die junge
Ulrike rief da manchmal verzagt: "Und von hier aus soll man eine
Weltanschauung bekommen?"
Sie gab damit einer Sehnsucht Ausdruck, die ueber das allgemeine
Maedchensehnen jener Tage weit hinausging. Aber in den Schwestern war
damals doch schon eine Weltanschauung im Werden, sie bildete sich an der
Bewegung der vierziger Jahre. In dem vaeterlichen Hause wurden viel
politische Gespraeche gefuehrt, und Henriette schrieb davon spaeter nieder:
"Das Jahr 1848 fand uns nicht unvorbereitet fuer die Erkenntnis seiner
Bedeutung. Bereits im Jahre 1847 hatte Friedrich Wilhelm IV. das Patent
vom 3. Februar erlassen, durch welches die sonst einzeln tagenden Landtage
als vereinigter Landtag nach Berlin berufen wurden. Einige Rechte wurden
eingeraeumt, die ihm einen parlamentarischen Charakter geben sollten. Die
Veroeffentlichung der Reden der Abgeordneten war von weittragenden Folgen.
In Krotoschin, das keine Zeitung besass, wurde die Breslauer Zeitung jeden
Abend von der Post geholt und am anderen Morgen vom Vater am
Familientische vorgelesen. Wir hoerten mit die Reden der damaligen
Abgeordneten Vincke, Beckerath, Hansemann u. a., und Begeisterung erfuellte
uns fuer die Redner. Die Verhandlungen betrafen meist Fragen, die ausserhalb
der Sphaere unseres Verstaendnisses lagen - aber die Art der Behandlung
erhob sie in das Gebiet des allgemein Menschlichen, das auch politischen
Fragen nicht fehlt.
Das Hauptinteresse erregten natuerlich die Verhandlungen ueber die
Emanzipation der Juden. Das war eine Menschheitsfrage, die den Herzpunkt
unseres Fuehlens und Denkens bezeichnete. Diese Frage wurde von den
freisinnigen Abgeordneten, losgeloest vom konfessionellen, nationalen
Standpunkt, von dem ehemals noch ungekannten, neuesten Standpunkt, rein
menschlich behandelt. Vincke, der damals das Wort praegte: Von einem
christlichen Staat duerfte man nicht reden, das hiesse ein Haus bauen wollen
und die Steine dazu vom Mond holen. - Beckerath, der in schmerzlichem
Mitgefuehl die Ungerechtigkeit schilderte, die die Juden seit Jahrhunderten
erlitten, - es waren unausloeschliche Eindruecke, die diese Redner uns
gaben. Das war im Jahre 1847! In demselben Jahr lasen wir taeglich einige
Stunden "Die Weltgeschichte von Rotteck und Welcker" ohne zu ahnen, wie
bald die Stimmen der Geschichte, der Zeit, in der wir lebten, sich
vernehmen lassen wuerden."
In diese Zeit fiel eine Reise, die die junge Henriette als Begleiterin
ihres Vaters unternahm, die erste Strecke wurde im eignen Wagen
zurueckgelegt, dann stiegen die Reisenden in die Postkutsche. Ein junger
Mann stieg in Schmiedeberg in Schlesien zu ihnen, und waehrend der Vater
schlief, begann zwischen den beiden jungen Menschen ein seltsames
Wechselgespraech. Sie redeten nicht von der Sommernacht draussen, nicht von
dem, was sonst wohl junge Menschen zusammen plaudern, von dem Schreiben
sprachen sie, das Georg Herwegh an den Koenig Friedrich Wilhelm IV.
gerichtet hatte nach dem Verbot seiner Schriften. Von dem, der die
Gedichte eines Lebendigen geschrieben, sprachen sie beide, von ihm, der
alle nach Freiheit sehnsuechtigen Herzen entflammt hatte. Draussen verging
die Sommernacht, der Vater schlief ruhig weiter, aber den jungen Menschen
schlugen die Herzen heiss. Der Mann kannte die Gedichte auswendig, und da
erlebte die junge Henriette wieder einen Dichter ganz tief im Herzen, sie
rief endlich aus: "Haette ich doch die Gedichte!" und ihr Reisegefaehrte,
gluecklich, ihr diesen Wunsch erfuellen zu koennen, legte ein schmales
Baendchen in ihre Hand. Davon schrieb noch spaeter die Greisin: "Ich darf
wohl sagen der 'Lebendige', dessen Wirkung auf seine Zeitgenossen eine
wahrhaft lebenerweckende war, hat kaum eine so bewegt, als mein junges,
nach Freiheit begehrendes Maedchenherz. Der Funken, der so schnell zuendete,
hat waehrend meines langen Lebens seine leuchtende und waermende Kraft
bewahrt. Noch wenn ich nach Jahrzehnten mit meinem Manne durch Thueringens
Waelder zog, marschierten wir nach dem Rhythmus des Herweghschen Liedes:
"Eure Tannen, eure Eichen
Habt die gruenen Fragezeichen
Deutscher Freiheit ihr gewahrt?
Nein, sie soll nicht untergehen!
Doch ihr froehlich Auferstehen
kostet eine Hoellenfahrt!"
Ja, noch viel spaeter, als sie die 90 schon ueberschritten hatte, konnte die
Greisin wohl eins der Herweghschen Gedichte mit starker, ganz junger
Stimme sagen, und in den Augen lag der Glanz jenes Erlebnisses.
Und der junge Reisegefaehrte?
In den Erinnerungen heisst es von ihm: "Mein Reisegefaehrte war Julius
Behrens, evangelischer Theologe, der aber damals schon entschlossen war,
die Theologie mit der Politik zu vertauschen. Er war es, der spaeter als
der "rote Behrens" bekannt wurde und in der ersten Kammer, nach der
Revolution, den Antrag auf Anerkennung der Revolution von seiten der
preussischen Regierung gestellt hatte. Ich habe ihn in den fuenfziger Jahren
in Berlin nochmals wiedergesehen, aber die Reaktion war damals schon in
vollem Gange, so dass er in sehr gedrueckter Stimmung war und den Entschluss
gefasst hatte, nach Australien zu gehen, den er spaeter auch ausgefuehrt hat.
Mein Onkel, bei dem ich in Berlin wohnte, war einigermassen entsetzt ueber
meine Bekanntschaft mit dem "roten Behrens", die allerdings eine Aufregung
nach sich zog. Man hatte naemlich bei ihm, dem politisch Geaechteten, eine
Haussuchung abgehalten und dabei einen Brief von mir gefunden, der sich
auf eine Erkundigung eines Berichterstatters ueber die Verhaeltnisse der
Provinz Posen fuer die Nationalzeitung bezog. So kam auch ich ganz
unverdienter Weise zu der Ehre einer Haussuchung, der man in damaliger
Zeit sehr leicht teilhaft werden konnte."
Mit den "Gedichten eines Lebendigen" als Reiseergebnis kehrte die junge
Henriette nach Krotoschin zurueck. In dem kleinen Nest waren es mehr oder
weniger Seifenblasen, die die Revolution erzeugte. Nur die Juden dort
wurden durch die polnische Frage ganz besonders erregt. "Mein Vater,"
schrieb Henriette Goldschmidt, "empfand den Segen der Kultur, den die
preussische Regierung der Provinz Posen gebracht. Als der Aufstand 1848
ausbrach, fuehlte er sich als preussischer Buerger, ja - wir muessen im Geist
jener Zeit sagen, als preussischer Untertan." Dass dies nicht buchstaeblich
zu nehmen ist, sehen wir daraus, dass er sich einen
Majestaetsbeleidigungsprozess zuzog.
Der Anlass war eine Volksversammlung, bei der er das Wort ergriff, um einen
Protest zu veranlassen gegen das Reaktionsministerium, das Friedrich
Wilhelm IV. an Stelle des Maerz-Ministeriums berufen wollte. Er tat es
leidenschaftlich und heftig, denn das Wort sorgsam und vorsichtig abwaegen,
war seine Sache nicht." Der Prozess verlief ergebnislos im Sande, uebrigens
nahm ihn der Vater Benas sehr gelassen hin. Es gab damals Petitionen ueber
Petitionen, jeder Stand petitionierte, und die beiden politisch so stark
erregten Schwestern wollten auch eine Petition erlassen, im gleichen Sinne
wie der Vater gesprochen hatte. Sie schrieben sie nieder, da aber damals
die Frauen keinerlei oeffentliche Rechte hatten, mussten sie schon die
Unterschriften von Maennern dazu haben. Henriette Goldschmidt erzaehlt: "Da
wir in einer Stube im Parterre unseres Hauses wohnten, riefen wir vom
Fenster aus alle voruebergehenden Maenner herein und baten sie, die Petition
zu unterschreiben. Wir bekamen eine stattliche Anzahl Unterschriften und
sandten die Petition auch nach Berlin. Da unsere Stube durch die vielen
Maennerstiefel recht unsauber geworden war, baten wir die Mutter, sie
scheuern zu lassen, denn wir hatten viele dienstbare Geister im Hause. Sie
aber sagte: Ihr koennt sie selbst scheuern, ich habe fuer solche Sachen
keine Bedienung." Den Schwestern erschien es nicht allzu schwer, dies
Opfer fuer ihre politische Meinung zu bringen. "Wir schuerzten unsere Roecke
und scheuerten darauf los. Die Glieder taten weh ob der ungewohnten
Arbeit, aber wir lachten und sagten: Wenn man eine Nacht durchtanzt, hat
man auch Gliederschmerzen."
Die jungen Revolutionaerinnen haben dann noch einmal herzhaft gelacht in
dem tollen Jahr, sie uebten eine Schelmerei aus, freilich dazu nur von
ihrem Gerechtigkeitsgefuehl getrieben; auch davon erzaehlte die Greisin,
immer noch ein wenig mit dem Lachen und dem Glanz in den Augen der fuer
Recht und Freiheit begeisterten Jugend: "Es gab in der Provinz Posen
Aufstand und auch in Krotoschin rueckte Militaer ein. So kam es, dass
preussische Offiziere auch in juedische Familien einquartiert wurden und
sich ein gemuetlicher Verkehr zwischen den Offizieren und ihren
Quartiergebern bildete. Die deutsche Beamtenwelt Krotoschins hatte eine
gesellige Vereinigung, Ressource genannt, gegruendet und diese
veranstaltete einen Ballabend zu Ehren der preussischen Offiziere. Diese
sprachen recht angeregt bei ihren Wirten von dem bevorstehenden Vergnuegen
in der angenehmen Erwartung, mit den jungen Toechtern des Hauses tanzen zu
duerfen. Das war eine grosse Verlegenheit fuer die guten Kinder, denn sie
schaemten sich zu gestehen, dass sie keinen Zutritt zu diesem Balle hatten.
Wir hoerten von andrer Seite, der Vorstand der Ressource haette in einer
Sitzung die Frage aufgeworfen, ob Juden in die Gesellschaft aufgenommen
werden sollten. Das Jahr 1848 klopfte mit dieser Frage an die Tore einer
neuen Zeit, denn bis dahin dachte niemand an die Moeglichkeit, dass Juden zu
den Beamten- und Offizierskreisen Zutritt bekaemen. Wir hoerten nun, dass der
Vorsitzende der Gesellschaft sich entschieden gegen die Aufnahme der Juden
ausgesprochen haette. Obgleich die Sache mich persoenlich gar nicht
beruehrte, da unser Haus keine Offiziere beherbergte, kraenkte meine junge
Schwester und mich das Vorkommnis tief und wir beschlossen, dem besagten
Herrn Vorsitzenden einen Schabernack zu spielen. Eine grosse Schlafmuetze
wurde aus Papier gefertigt, ein dicker Zopf von Stroh geflochten, beides
in eine Kiste gelegt und obenauf ein Schreiben: 'Die Schlafmuetze und den
Zopf, die Deutschland abgeworfen, senden wir Ihnen zum morgenden
Ballabend. Die Gesellschaft ist vorbereitet, Sie in diesem Schmucke zu
begruessen!'
Die Urheber wurden entdeckt, und der betreffende Herr wandte sich an
meinen Vater, der dadurch die Geschichte erfuhr. Dieser nahm die Sache
nicht sonderlich schwer, ja im Grunde leitete ihn wohl bei seiner
Beurteilung das gleiche Gefuehl wie seine Toechter, aehnliche Empoerung fuer
eine offenbare Ungerechtigkeit. Und in dem Brausen und Fluten der Zeit,
die damals ueber Deutschland dahinzog, wurde leicht ein toerichter
Maedchenstreich vergessen."
Von dem gewaltigen, ihr innerstes Wesen aufwuehlenden Eindruck, den diese
Zeit aber auf Henriettes ganzes Leben und das Gleichgesinnter gemacht,
heisst es in ihren Erinnerungen: "Wie maechtig das Jahr 1848 die
Zeitgenossen erregte, zeigt die Nachwirkung, die es ausuebte. Kein spaeteres
Ereignis, selbst nicht der Krieg von 1870/71 hat eine gleiche
Erschuetterung hervorgerufen. Meine beiden Kolleginnen Luise Otto-Peters
und Auguste Schmidt, namentlich die erstere, waren gleich mir der
Ueberzeugung, dass die Frauenbewegung der politischen Bewegung jener Zeit
ihre Entstehung verdankt."
Die Bewegung ebbte ab, die Reaktion der fuenfziger Jahre trat ein. Fast
gleichzeitig verlor Henriette Benas die Heimat. 1850 siedelte die Familie,
gar nicht zur Freude der Kinder, nach Posen ueber. Sie fuehlten sich dort
fremd und entwurzelt, und die Schwestern blieben auch fremd in der so viel
groesseren Stadt. Nur einen kleinen Nachklang des Jahres 1848 gab es noch,
die erstmalige Teilnahme an einer sozialen Arbeit. "In Posen habe ich
mich", erzaehlt Henriette Goldschmidt, "zum erstenmal an freiwilliger
sozialer Hilfsarbeit beteiligt. Ein alter Herr hatte die Idee, einen
Verein zu gruenden fuer 'Frauen und Jungfrauen', die sich armer Kinder nach
den Schulstunden annehmen sollten, ihre Schularbeiten beaufsichtigen,
ihnen Handarbeitsunterricht erteilen, ihnen ueberhaupt Schutz und Pflege
angedeihen lassen." Die junge Henriette interessierte sich lebhaft fuer
diese Gruendung, nicht ahnend, dass sie damit etwas tat, das mit ihrer
spaeteren Lebensarbeit in tiefstem innerem Einklang stand. "Zuerst sollten
eine Anzahl junger Damen Mitglieder fuer diesen Verein werben", schreibt
sie. "Ich unterzog mich in Begleitung eines anderen jungen Maedchens dieser
Mission. Wir trugen damals Schuhe, die mit Baendern zusammengebunden waren,
die sich leicht loesten. So musste bald meine Begleiterin stehenbleiben, um
wieder zu binden, bald musste sie warten, weil ich dasselbe vorzunehmen
hatte. Ob dieses oefteren Stehenbleibens wurde ich ungeduldig und sagte:
Warum koennen wir nicht, wie die Maenner mit Gummieinsatz die Schuhe
festhalten?
Da sah mich meine Begleiterin verwundert an und sagte: 'Was Sie fuer Ideen
haben, Sie werden wohl noch einmal eine Revolution machen!' Ich erwiderte
lachend, dass diese ja schon gewesen sei." Doch hat sie spaeter bei dem
Kampf um das Recht der Frau oft an das prophetische Wort denken muessen!
Aber ehe Henriette Benas diesen Kampf begann, ehe die in den vierziger
Jahren gesaete Saat reifen konnte, trat erst noch eine grosse Veraenderung in
ihrem Leben ein, sie wurde Frau, folgte einem Gatten in die wirkliche
Fremde, sie, die Freiheitssehnsuechtige, kam in Europas unfreiestes Land,
nach Russland, und mit dem Gatten zugleich waren es drei mutterlose Kinder,
die ihre Sorge und Liebe verlangten, die sie treu an ihr Herz nahm.
3. Die ersten Ehejahre in Warschau.
Henriette Benas heiratete im Jahre 1853 einen Verwandten, den Prediger an
der deutsch-juedischen Gemeinde in Warschau, Dr. Abraham Goldschmidt.
Diesmal brauchte es keiner schweren Ueberlegung, sie fuehlte rasch heraus,
dieser Mann war ihr geistesverwandt, und in einer langen, beide Gatten
beglueckenden Ehe hat sie niemals den Schritt bereut, der sie, wie sie es
spaeter oft nannte, nach Halbasien fuehrte.
Der Mann ihrer Wahl, ein Neffe ihres Vaters, stammte aus einer
kinderreichen, in bescheidenen Verhaeltnissen lebenden Familie. Auch seine
Studien erstreckten sich zuerst wie die des Grossvaters auf das Hebraeische,
doch auch wie dieser strebte er weiter und suchte sich deutsche
Geistesbildung anzueignen. Er ging nach Breslau, um dort zu studieren. Er
ging im wahrsten Sinne des Wortes, denn seine beschraenkten Mittel reichten
nicht zu einer Postfahrt aus. Kuemmerlich genug musste er sich
durchschlagen, es gelang ihm aber doch, das Gymnasium zu besuchen, sich
weiterzubilden, und nach einigen Jahren erhielt er eine Anstellung an der
juedischen Elementarschule in Krotoschin. Damals wurde kurze Zeit die junge
Henriette seine Schuelerin, und von diesem Lehrer hoerte sie auch die erste
Predigt in deutscher Sprache. Es war bei einem Besuche, den er seiner
Mutter in Krotoschin machte, als man ihn aufforderte, in einem sehr
duerftigen Betsaal eine deutsche Predigt zu halten. Zu dieser nahm der
Vater Benas seine kleine Tochter mit, er stellte diese auf seinen
Sitzplatz, damit sie in dem ueberfuellten Saal geschuetzt blieb. Die
Erinnerung an dies Ereignis hielt sie fest, und als nach Jahren der
Vetter, ein gereifter Mann, vor sie trat - er hatte in Breslau
weiterstudiert, war jetzt Prediger in Warschau, hatte geheiratet und seine
Frau verloren - gab sie ihm nach kurzem Sichkennenlernen das Jawort; es
schreckte sie nicht, dass sie gleich die schwere und verantwortungsvolle
Pflicht auf sich nahm, drei Knaben zu erziehen, von denen der aelteste zehn
Jahre alt war(1).
Dr. Goldschmidt war ein freigeistiger Mann, dem jede Orthodoxie fernlag,
zu ihm konnte seine Frau auch das Wort sagen: "Meine Erzvaeter sind
Schiller, Lessing und Goethe."
Henriette Goldschmidt hat sich dabei immer zum Judentum bekannt, zu der
monotheistischen Weltanschauung. Sie sagte davon: "Wenn auch der Kultus im
Lauf der Jahrhunderte verschiedene Formen angenommen hat, so ist doch der
innerste Gedanke in der Gesamtheit derselbe geblieben. Das Grundprinzip,
der Einheitsgedanke, der Monotheismus bleibt unangetastet. Diese Bemerkung
erklaert auch meinen eigenen Standpunkt. Ganz und gar erfuellt von dem, was
der deutsche Geist gezeitigt hat, und begeistert von den Idealen, die der
deutsche Genius zu gestalten strebt, ist mir die Tradition meiner Vaeter
heilig geblieben. Die Einheitsidee alles Seins ist als religioese Idee
Monotheismus."
In dieser Grundanschauung fanden sich die Gatten, und Henriette
Goldschmidt-Benas hat daran festgehalten. Auch hier zeigte sich die gerade
Linie, die durch ihr ganzes Leben geht, dieses unverrueckbare
Sich-selbst-treubleiben. Bei dieser Denkungsart musste es spaeter die
Greisin, die von jeher allen Auswuechsen des Judentums ganz fern stand,
tief schmerzen, als sie den wachsenden Antisemitismus der Kriegsjahre noch
erlebte, wie sie ihn schon in den siebziger Jahren erlebt hatte. Ihr
reiner, hoher, nur dem Geistigen zugewandter Sinn konnte diese Bewegung
einfach nicht verstehen. Zu einer juengeren Freundin sagte sie einmal, es
war kurz vor ihrem Tode bei einer Auseinandersetzung ueber die Gruende, die
zum Antisemitismus fuehren koennen, ganz still und feierlich wie ein Gebet
das Goethesche Wort:
Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Okzident!
Nord- und suedliches Gelaende
ruht im Frieden seiner Haende.
Nur an eines Mannes Seite, der so vollkommen die gleiche Einstellung zur
Welt hatte, konnte Henriette Benas das Leben in Warschau ertragen. Sie
schrieb: "An unserem Verlobungstage sagte mein Braeutigam zu mir, wenn ich
nicht die Hoffnung hegte, nach Deutschland zurueckzukehren, wuerde ich nicht
dein Schicksal an das meine gekettet haben! Die Bedeutung dieses
Ausspruches habe ich erst waehrend meines Aufenthaltes in Warschau
erkannt!"
Es war noch das Russland unter dem Zaren Nikolaus I., von dem man in
Deutschland sang:
Gott schuetz' uns vor dem Frankenkind
Und vor dem Zaren, deinem Schwager.
Zaristische Tyrannei und in dies Land ein junges Weib, in dessen Herzen
die Lieder der vierziger Jahre bluteten. Sie sang wohl mit heller Stimme
in ihrer Stube Herweghsche Lieder, innerlich noch ganz in dieser grossen
Bewegung lebend.
Als sie mit ihrem Gatten die russische Grenze passierte und beide sahen,
wie ein Beamter einfach ganze Seiten eines Buches schwarz ueberstempelte,
sagte der Mann leise zu seiner jungen Frau: "Wenn die wuessten, welche
Bibliothek ich in dir ueber die Grenze bringe!" Sie berichtet ueber ihren
ersten Eindruck in Warschau: "Ich kam aus der Hauptstadt der polnischen
Provinz Posen, die Preussen einverleibt war; so ganz fremdartig haetten mich
die Verhaeltnisse nicht beruehren sollen, und doch war mir alles so fremd
und unheimlich. Zunaechst in Ruecksicht auf die juedische Bevoelkerung, die
unter einem besonderen Drucke lebte. Die preussische Regierung war
bestrebt, die Kultivierung des Landes und aller seiner Bewohner im Sinne
des fortgeschrittenen Geistes seines Staats- und Volkslebens zu
beeinflussen. So war es mir in dem grossen glaenzenden Warschau, als waere
ich in einem Traumlande; ich fuehlte mich um Hunderte von Jahren in einen
gewesenen Zustand versetzt. Unheimlich war es mir bei jeder Beruehrung mit
den aeusseren Verhaeltnissen zumute, und am liebsten wuerde ich mit Mann und
Kindern zurueckgewandert sein und waere es auch nach Krotoschin gewesen."
Aber Mann und Kinder bildeten bald das unloesbare Band, das die junge Frau
in der Fremde hielt. Die drei Kinder, drei begabte gutartige Knaben,
schlossen sich bald mit grosser Liebe an die lebhafte geistvolle zweite
Mutter an. Eine kleine Geschichte zeigt, wie innig dieses Verhaeltnis war;
der juengste Sohn Benno, den die Neunzigjaehrige noch "mein Bennochen"
nannte, trug noch Kleidchen, als ihm Henriette Goldschmidt Mutter wurde.
Bald darauf aber sollte er in Hoeslein gehen, die aelteren Brueder spoettelten
schon ueber das "Maedchen", da sagte die junge Stiefmutter einmal: "Ach, es
gefaellt mir gar nicht, dass du nun auch schon ein grosser Junge in Hosen
sein wirst", und der Kleine antwortete treuherzig: "Wenn's dir lieber ist,
Mamachen, kann ich ja noch ein Maedchen bleiben."
Diesen starken inneren Anhalt an Mann und Soehne brauchte die junge Frau
aber auch. Im Hause sass ihr der Unfriede. Die Mutter der verstorbenen,
liebenswuerdigen und begabten Frau tat der zweiten Gattin, wie es in alten
Volkserzaehlungen heisst, wirklich alles gebrannte Herzeleid an. Sie
erschwerte ihr das Leben in dem duesteren Hause der engen Gasse, und
draussen lauerte das Grauen; denn die Aussicht, die Henriette Goldschmidt
hatte, wenn sie einmal an das Fenster trat, war das Gefaengnis. Die
Pruegelstrafe war damals ein Hauptbesserungsmittel des zaristischen
Russland, und das Schreien der armen Opfer gellte in die duestere Wohnung
hinein.
Gluecklicherweise gab es ein schoenes geistiges Miteinander der Gatten; in
Dr. Goldschmidts Buecherei standen die deutschen Klassiker, stand manch
verbotenes Buch der vierziger Jahre. Gleichgesinnte Freunde fanden sich
und an manchem Abend ertoenten hinter fest verschlossenen Fenstern die
deutschen Freiheitslieder. Da wurden mit verteilten Rollen Schillers Werke
gelesen und alles in allem, trotz den schweren aeusseren Verhaeltnissen,
brachte das Leben in Warschau Henriette Goldschmidt doch auch wieder
innere Bereicherung. Eine harte Schule hat sie es selbst genannt. "Einen
Hoellentraum konnte man mein Leben in Warschau nennen und wiederum ein
harmonisch schoenes Leben. Dass aber diese Mischung den Wunsch in mir rege
erhielt, den Boden zu verlassen, auf dem ich niemals heimisch werden
konnte, war natuerlich."
Noch die Greisin hegte eine Abneigung gegen Warschau, und als einmal
jemand die Schoenheit der Stadt ruehmte, sagte sie mit leisem Laecheln: "Sie
haben aber nicht unter Nikolaus I. gegenueber dem Gefaengnis gewohnt."
Dieser Eindruck blieb ihr unausloeschlich, und immer sagte sie, laengst vor
dem grauenvollen Schicksal Russlands: Man muesste dies Land zerschlagen, ein
solches Riesenland unter einem Herrscher ist eine Unnatur. Sie muessten dort
jedesmal ein Genie, einen Titanen als Herrscher haben, wenn es
einigermassen ertraeglich sein sollte. Und sie fuehrte oft das bittere Wort
ihres Mannes an: "Es ist furchtbar, in einem Lande zu leben, in dem man
sein Recht nur durch das Unrecht der Bestechung erlangen kann!"
Nach reichlich fuenfjaehrigem Aufenthalte schlug der Familie die Stunde der
Erloesung. In den Erinnerungen heisst es: "Und wie ein Wunder erschien es
mir, als nach fuenf Jahren meines Aufenthaltes in Warschau mein Schicksal
die Wendung nahm, nach der auch mein Mann sich sehnte. Es war das
bedeutendste, folgenreichste Ereignis meines Lebens, als er den Entschluss
fasste, die Stellung eines Predigers bei der israelitischen Gemeinde in
Leipzig zu uebernehmen. Als wir die Grenze ueberschritten hatten, das unter
dem zaristischen Drucke seufzende Land hinter uns liegen sahen, war es
mir, als hoerte ich das erste Bundeswort am Sinai: 'Ich bin der Ewige, dein
Gott, der dich gefuehrt hat aus Aegypten, dem Lande der Knechtschaft, in ein
freies Land!'"
4. Die ersten Jahre in Leipzig.
Es ist Henriette Goldschmidt immer bedeutungsvoll erschienen, dass sie
gerade im Schillerjahr 1859 nach Deutschland zurueckkehren konnte. Freilich
in einem wirklich freien Lande lag Leipzig, in das die Familie gerade im
Trubel der weltberuehmten Messe einzog, auch nicht. Aber befreit fuehlten
sich die Gatten mit ihren drei Soehnen doch, es war das ein andres Atmen;
Henriette Goldschmidt schrieb darueber: "Zwar ein Land der Freiheit konnte
man Deutschland am wenigsten in den fuenfziger Jahren nennen, denn dem
Jahre 48 folgte die Zeit der Reaktion auf dem Fusse. Jede freie Regung
wurde unterdrueckt, die besten Maenner wurden als Verbrecher ins Gefaengnis
gesetzt oder sie entzogen sich dem durch die Flucht ins Ausland. Doch
nicht schlaff und feige liess man die Machthaber gewaehren; der Kampfplatz,
den das Jahr 1848 geschaffen hatte, blieb nicht ohne Kaempfer. Nur die
Waffe wurde gewechselt, mit der Waffe, die das Volk von 'Gottes Gnaden'
erhalten, mit den Worten seiner Denker und Propheten fuehrte es den Kampf."
1859 ruestete sich ganz Deutschland, Grossstaedte und Kleinstaedte, ja selbst
einsame Landgemeinden zur Jubelfeier von Schillers hundertstem Geburtstag.
Und wenn es auch da und dort etwas wie in Raabes Draeumling damit aussah,
echte, aus dem Herzen quellende Begeisterung war es doch ueberall.
Henriette Goldschmidt hat den Jubel des Jahres tief innerlich empfunden;
sie konnte wohl spaeter mit heiterem Lachen von dem Juengling erzaehlen, der
bei einer Feier pathetisch ausgerufen hatte: "Wir winden ihm einen
Lorbeerkranz aus Veilchen und Rosen," und von dichterischen Entgleisungen
wie dem Vers:
"Schillers Glocke, Schillers Locke,
Schillers Faust und Schillers Tell" -
Aber doch war ihr Herz, ihr ganzes Sein erfuellt von dem Erleben dieses
Jahres, sie tauchte hinein wie in eine Kraftquelle nach der trueben aeusseren
Gebundenheit ihrer Warschauer Tage. "Wer damals jung und doch alt genug
war", schreibt sie, "um die Zeichen der Zeit zu verstehen, der musste am
10. November 1859 den Nachklang des 18. Maerz vernehmen. Es war der
deutsche Volksgeist, dem eine Begeisterung fuer Voelkerfreiheit,
Menschenliebe, fuer alles Ideale entstroemte, die jeder Beschreibung
spottet.
Dem Dichter des hohen Liedes 'An die Freude' galt das Fest - ihm, der
selbst freudetrunken in dem Glauben an die Verwirklichung seiner Ideale
uns alle mit diesem Zaubertranke berauschte. Es war ein Rausch in dem
Sinne, dass er zeigte, was der Trunkene fuehlt und denkt. Viele der Maenner,
die 49 im ersten deutschen Parlament gesessen, waren Festredner bei den
oeffentlichen Versammlungen. Jakob Grimm und neben ihm die 'wahrhaft Edlen'
der Nation gaben Zeugnis von dem Zusammenhang des Volksgeistes mit seinem
dichterischen Genius. Man hoerte weniger Literarisches, man fuehlte nur den
Verkuender, den Propheten, den Erloeser, der dem von der Reaktion
zurueckgedraengten Streben nach Freiheit Worte verliehen hatte.
Als ich in mitternaechtiger Stunde des 9. November auf dem Marktplatz in
Leipzig mit nur wenigen Bekannten stand und die Huelle von dem
hochaufgerichteten Standbild Schillers fiel, da war es mir, als hoerte ich
die Worte des jetzt laengst vergessenen Dichters Karl Beck:
'Laechle nur, du Mann im Leichenhemde -
Die Freiheit naht - des Fruehlings Herrlichkeit -
sie ist dein Zaubermaedchen aus der Fremde'."
Mit Mann und Soehnen ging Henriette Goldschmidt auf die Leipzig umgebenden
Doerfer, die Feiern des Volkes zu sehen; sie erlebte Grosses, Erhebendes,
sah heiter ueber unfreiwillige Entgleisungen hinweg, und als Rest blieb ihr
doch das grosse tiefe Erleben. -
Sie feierte Schillers Geburtstag noch bis in ihre hohen Altersjahre
hinein, ihr war der 10. November immer ein Abglanz von 1859, sie erlebte
aber noch wehmuetig ein Abebben der grossen Begeisterung. Als ihr an einer
dieser Feiern der Urenkel Schillers vorgestellt wurde, kam die Greisin
ganz erschuettert von der grossen Aehnlichkeit dieses Nachkommen mit "ihrem
Schiller" heim. Auch die Freude erlebte sie, dass die deutschen Frauen sich
zusammentaten und zum 100. Todestage Schillers fuer die Schillerstiftung in
Weimar sammelten und dieser ueber eine viertel Million zufuehrten. Sie war
1905 mit in Weimar als Ehrenvorsitzende des Schillerverbandes deutscher
Frauen und sass bei Tisch neben dem - russischen Gesandten. Und wie
Henriette Goldschmidt immer die Zusammenhaenge zwischen den Ereignissen zu
suchen pflegte, so erfasste sie auch gleichsam die Schillerfeier von 1859
symbolisch, sie gibt ihren Eindruck in Beziehung zu ihrem Leben in den
Worten Ausdruck: "Die Hundertjahrfeier von Schillers Geburtstag war fuer
mich keine Episode, sie war ein Erlebnis. Zum ersten Male war ich als
Buergerin in einer wirklich deutschen Stadt. Ich hatte den Boden gefunden,
der mir geliebter Naehrboden gewesen war von Kindesbeinen an, ich fuehlte
den Pulsschlag des Geistes, der mich beseelte."
Der hohe Aufschwung des Jahres, das sie nach Deutschland zurueckgefuehrt
hatte, hallte in Frau Henriette nach, und sie lebte sich rasch in die
neuen Verhaeltnisse ein. Leipzig wurde ihr wirklich Heimat, sie wurde die
Stadt ihres Wirkens, die sie nur noch fuer kurze Reisewochen verlassen hat.
Zwischen dem Leipzig von damals und der etwa zehnmal groesseren Stadt von
heute war freilich ein gewaltiger Unterschied; die Greisin aber meinte
oft, es waere nur ein aeusserlicher, ein auf Umfang und Zahl der Bewohner
sich beziehender Unterschied. Von dem Leipzig ihrer ersten Wohnjahre
schreibt sie dankbar: "Leipzig war im Jahre 1859 noch eine recht kleine
Grossstadt, aber sie gehoerte zu den bekanntesten Staedten des In- und
Auslandes. Es war eine Stimmung in ihr fuer die Loesung politischer,
sozialer und kultureller Fragen. So kamen wir bald ueber den Kreis unserer
damals kleinen Gemeinde hinaus in Beziehung zu anderen Kreisen. Ich fand
das Wort: 'Mein Leipzig lob' ich mir, es bildet seine Leute' bestaetigt.
Waehrend der ersten Tage unseres Aufenthaltes, in denen die Wohnungsnot so
gross war, dass wir einige Zimmer, die fuer Messfremde bestimmt waren,
bewohnen mussten, verlangte die Aufwartefrau eines Tages eine Buerste von
mir und anderes Geraet. Ich war betruebt, dass ich ihr damit noch nicht
dienen konnte und sie sagte, meine Situation begreifend, mir Trost
zusprechend: 'Es wird Sie schon in unserem Leipzig gefallen, Leipzig ist
die Stadt der Humanitaet.'
Ich lief zu meinem Manne und fragte ihn: 'Wovon wirst du sprechen, wenn
die Scheuerfrau in Leipzig von Humanitaet spricht?' Ein zweites Wort, das
eines Dienstmannes, sei noch erwaehnt. Ich uebergab ihm eine Anzahl von
Dichter- und Denkerbuesten zur Ausschmueckung eines Saales mit der Mahnung,
recht vorsichtig zu sein; da sagte der Mann einigermassen verletzt zu mir:
'Ich werde schon vorsichtig sein, denn das sind jetzt unsere Heiligen.'"
Ja selbst die groessere Enge der Stadt war nach Warschau Henriette
Goldschmidt sympathisch. Mann und Soehne - eigene Kinder blieben ihr
versagt - teilten ihre Gefuehle, auch sie lernten die Stadt bald als Heimat
lieben.
Die ersten Jahre in Leipzig waren Lehrjahre fuer Henriette Goldschmidt;
losgeloest von den oestlichen Verhaeltnissen, begann sie nun in
Mitteldeutschland Wurzel zu fassen und lernte vieles von einem anderen
Gesichtswinkel aus anschauen. Manches, was ihr in Warschau nur eine
Unfreude gewesen war, lernte sie jetzt als Genuss kennen, so Theater- und
Konzertbesuche. Sie ist dann in der intensiven Arbeit ihrer spaeteren Jahre
oft um diesen Genuss gekommen, brachte ihn ihrem Schaffen als Opfer dar;
aber besonders der Besuch einer Gewandhausprobe blieb ihr noch bis in die
letzten Lebensjahre, auch als sie schon die Neunzig ueberschritten hatte,
eine tiefe Erbauung.
"Still bewegt" nannte Henriette Goldschmidt spaeter die Jahre des
Einlebens. Es fand sich bald ein Kreis im demokratischen Geiste
gleichgestimmter Menschen zusammen, dazu gehoerten Professor Heinrich
Wuttke und seine geistvolle Frau Emma, geb. Biller, auch Professor
Rossmaessler; die Soehne brachten ihre jungen Freunde mit. Von auswaerts kamen
Gaeste, deren Namen Klang und Ruf hatten. Adolf Stahr und Fanny Lewald
kamen, Gutzkow war einmal ein etwas schweigsamer Gast, und mit Berthold
Auerbach schloss das Ehepaar Freundschaft, sie verlebten gemeinsam ein paar
schoene Sommermonate in Bad Koesen. Die Tischrunde bei Goldschmidts erfreute
sich allgemeiner Beliebtheit unter den Freunden des Hauses, es ging damals
und spaeter immer noch einfach dabei her. Zu Festlichkeiten buk Frau
Henriette wohl selbst einen Kuchen, und noch als Greisin erzaehlte sie von
einer sogenannten Linzer Torte, die ihr immer besonders gut geraten sei.
Sie war in diesen ersten Jahren in Leipzig nur Hausfrau und Mutter, war
aber in allem auch die verstaendnisvolle Kameradin ihres Mannes und war wie
einst seine Schuelerin, so nannte sie sich selbst.
Wie sehr die Gatten aneinander Anteil nahmen, beweist eine kurze Notiz in
den hinterlassenen Bruchstuecken der Aufzeichnungen: Da heisst es aus den
siebziger Jahren: "Mein Mann hatte die Einladung zur Einweihung des
Lessing-Denkmals in Kamenz erhalten und folgte ihr mit Freuden. Professor
Wuttke hatte die Festrede uebernommen und forderte meinen Mann auf, auch
das Wort zu ergreifen. Obgleich unvorbereitet, sprach er, erfuellt von
Verehrung und Dankbarkeit fuer den Dichter, der unser war von Kindheit an,
in so begeisternder Weise, dass die ganze grosse Versammlung ihm zujauchzte.
Diesen Moment nicht mit erlebt zu haben, ist mir lange Zeit schmerzlich
gewesen." Doch Henriette Goldschmidt war kein Mensch, der sich mit dem
Nurlernen begnuegte, sie war im tiefsten Grund eine schoepferische Natur,
war auf das Tun gestellt. Sie war auch zu sehr Eigenmensch, um nur in der
Familie aufzugehen. Obwohl sie immer einen starken Familiensinn besessen
hat, und so sehr sie immer ihre Stiefsoehne und spaeter deren Kinder und
Kindeskinder, ebenso die Kinder ihrer Geschwister als ihr zugehoerig
betrachtete, mit wie warmer Liebe sie auch alle umfing und wie gluecklich
sie sich auch in dem Leipziger Freundeskreis fuehlte, ihre Natur verlangte
die Tat. Das Hausfrauenleben allein erfuellte sie nicht, in ihr
schlummerten Kraefte, die nach einer anderen Betaetigung suchten, und in
dieser Zeit des inneren Vorwaertsdraengens, des seelischen Unausgefuelltseins
lernte sie Luise Otto-Peters und Auguste Schmidt kennen. Sie begann ueber
die Stellung der Frau im Leben tiefer nachzudenken, und nicht viel spaeter
las sie die Schriften Friedrich Froebels, lernte aus seinen Erziehungsideen
und beides floss ihr zusammen, wurde ihr eine Einheit, sie fand den Weg
dazu kraft ihres immer die gerade Linie suchenden Wesens, und so
verschmolzen sich ihr in den kommenden Jahrzehnten anscheinend getrennte
Ziele zu ihrem einen grossen Lebensziel.
5. Schaffensjahre.
Luise Otto-Peters hatte 1848 den deutschen Frauen zugerufen: "Dem Reich
der Freiheit werb' ich Buergerinnen!" Aber anscheinend war der Ruf, ohne
ein Echo zu finden, verhallt, und erst Anfang der sechziger Jahre fanden
sich in Leipzig die Frauen zusammen, die erkannten, dass es fuer die Frauen
selbst zuerst ein Reich der Freiheit zu suchen galt, um die Frau aus der
engen Gebundenheit jahrhundertalter Vorurteile zu erloesen. Zu diesen
Frauen: Luise Otto-Peters und Auguste Schmidt, gesellte sich noch
Henriette Goldschmidt. Sie gruendeten zusammen im Februar 1865 zuerst einen
Frauenbildungsverein. Henriette Goldschmidt selbst stand so wenig unter
einem persoenlichen Druck, wie die beiden anderen Frauen; ihr Mann liess ihr
voellige Handlungsfreiheit und gerade darum empfand sie besonders tief das
Unwuerdige, das in der Stellung der Frau lag, die von jeder Teilnahme am
oeffentlichen Leben ausgeschlossen war. Mit ihrer Schwester Ulrike (diese
hatte inzwischen den Juristen Wilhelm Henschke geheiratet, nachherigen
Praesidenten am Kammergericht in Berlin) hatte sie schon manchmal von der
Enge gesprochen, in der viele Frauen leben mussten, besonders von der
mangelhaften Vorbildung der Frauen zu ihrem eigentlichen Berufe der
Mutterschaft.
Aber gerade weil Henriette Goldschmidt in einer harmonischen Ehe lebte und
durch ihren Mann alle geistige Foerderung erfuhr, ging sie anfangs nicht
ganz mit den beiden anderen Frauen mit. Sie selbst erzaehlte, dass sie
entruestet heimgekommen sei, als die Gruendung des "Allgemeinen Deutschen
Frauenvereins" beraten wurde, weil Luise Otto-Peters es abgelehnt hatte,
Maenner in den Vorstand zu waehlen. Ihr Mann antwortete gelassen, dies waere
ganz richtig, denn wollten die Frauen selbstaendig werden, dann muessten sie
vor allem auch selbstaendig ihren Weg zu finden suchen. Die Erkenntnis von
der Wahrheit dieses Wortes kam der temperamentvollen Frau auch bald, und
sie schloss sich enger an die beiden Frauen an, die am 18. Okt. 1865 nach
Leipzig eine Konferenz deutscher Frauen einberufen hatten und trotz des
geringen Interesses, das diese Versammlung fand, den "Allgemeinen
Deutschen Frauenverein" gruendeten und die Herausgabe eines Frauenblattes
unter dem Titel: "Neue Bahnen" beschlossen. Die neuen Ideen sollten durch
Schriften und Vortraege verbreitet werden. Auguste Schmidt war schon eine
geschulte Rednerin, Henriette Goldschmidt dagegen hatte noch nicht
oeffentlich gesprochen; ihr erster Vortrag war eine politische Aufklaerung
der Frauen. Sie erzaehlt davon: "Wir hatten bei unserer Uebersiedelung nach
Leipzig nur an die Rueckkehr nach Deutschland gedacht, und da wir uns als
Preussen fuehlten, hatten wir keine Veranlassung, zu einem anderen Staate
ueberzutreten. Der Krieg 1866 brach aus und brachte preussische
Einquartierung. Ich hatte in meiner Wohnung keinen Platz und sagte zu
meinem Hausmaedchen, dass wohl die Hausmannsleute die Soldaten aufnehmen
koennten. 'Ach,' antwortete dieses, 'wir koennen diesen Leuten die
preussischen Soldaten nicht anvertrauen, die sind zu bissig.' Dabei erfuhr
ich von ihr, dass sie selbst Preussin sei und ihr Bruder im preussischen, ihr
Braeutigam aber im saechsischen Heere diene. Waehrend ich noch ueber diese
traurige Sachlage nachdachte, besuchte mich Luise Otto-Peters und forderte
mich auf, einen Vortrag im Frauenbildungsverein zu halten. Als ich sie
zoegernd fragte, worueber ich eigentlich sprechen sollte, antwortete sie in
ihrer saechsischen Mundart: 'Nu, was Ihnen der Gaenius eingibt.' Und ich
sagte ihr zu und zu mir: Sprich von der politischen Lage Deutschlands und
erklaere den Frauen aus dem Volke, soviel du es vermagst, die Ursachen
dieses Bruderkrieges.
Es ist mir beim Niederschreiben dieser Zeilen ein eigentuemliches Gefuehl,
dass mein erstes oeffentliches Wort an die Frauen sich auf eine der
politischen Fragen bezog, die mich frueher beschaeftigten, ehe ich an eine
Frauenfrage und an die Erziehungsfrage dachte. Ich hielt meinen ersten
Vortrag und schloss mit den Worten: 'Nicht mit zu hassen - mit zu lieben
sind wir Frauen da.'"
Diesem ersten Vortrag schlossen sich bald andere an, die paar Frauen in
Leipzig begannen ihre Kreise weiter und weiter zu ziehen, und die Schar
der Anhaengerinnen wuchs. Aus den Erzaehlungen einer freilich unberuehmten,
aber sehr gescheiten Frau weiss die Schreiberin dieses kurzen Lebensbildes,
dass die Werbekraft der Reden Henriette Goldschmidts sehr gross war. Sie
sprach so gut, mit einem so hinreissenden Feuer, dass in Leipzig das Geruecht
entstehen konnte, sie schriebe fuer ihren Mann, der selbst ein guter und
geistvoller Redner war, die Predigten nieder. Sie selbst gab bescheiden
Auguste Schmidt den Preis, diese waere in hervorragender Weise des Wortes
maechtig gewesen. Uebrigens galt ihre groesste verehrendste Liebe Luise
Otto-Peters, zu deren fuenfundzwanzigjaehrigem Schriftstellerinnenjubilaeum
sie einen Vortrag hielt (erschienen 1868 bei Matthes in Leipzig).
Von ihren ersten Vortraegen, die gedruckt wurden, seien im Anschluss
genannt: "Die Frauenfrage eine Kulturfrage" (1870), "Die Frau im
Zusammenhang mit dem Volks- und Staatsleben" (1874 bei Amelang).
Zusammenhaenge suchen, das war Henriette Goldschmidts stetes Bestreben, und
alle ihre Vortraege haben etwas von diesem Suchen nach der grossen Einheit
in allen Erscheinungen. Immer war es auch die Idee, die sie packte, und
mit noch jugendlich unerschoepfter Hingabe an die Idee der Frauenbewegung
leistete sie ihre Werbearbeit. Die Geschichte dieser Werbearbeit ist in
anderen Schriften schon niedergelegt und es ist hier nicht die Stelle, um
Stadt fuer Stadt anzugeben, die die begeisterten Frauen friedlich zu
erobern suchten. Es war nicht immer nur Erhebendes, was sie erlebten, auch
starke Abwehr, Unverstaendnis wurden ihnen zuteil, es fehlte auch nicht an
tragikomischen Szenen, die die alte Frau noch lebhaft zu schildern wusste.
So setzte der Wirt in einer damals noch kleinen Stadt die mutigen
Pionierinnen mit einer - Kunstreitergesellschaft, die im gleichen Ort
gastierte, zusammen, weil er dies vermutlich fuer eine besonders passende
Gesellschaft hielt. Da es schwer war, eine Aussprache in Fluss zu bringen,
die Frauen sich meist scheuten, ihre Ansichten oeffentlich zu sagen, hatten
sich die Leipziger Veranstalterinnen bei einem auswaertigen Frauentag
vorgenommen, aus ihrem Kreise selbst Fragen aufzuwerfen. Eine Weile hoerten
die Zuhoererinnen das mit an, endlich verliess eine Anzahl den Saal, sie
sagten, "die sind sich ja selbst nicht einig, zu was sollen wir uns den
Streit anhoeren."
Der Krieg von 1870/71 fiel in die erste Zeit des Werbens und Kaempfens.
Ueber diese Zeit hat Henriette Goldschmidt einige kurze Anmerkungen
gemacht, es heisst da: "Deutschland unter Preussens Fuehrung - der Staat,
dessen ruhmreiche Geschichte ihm ein Recht zu dieser Stellung an
Deutschland gab, es war, als stiege die Erfuellung, 'schoenste Tochter des
groessten Vaters', endlich zu uns nieder." Und weiter schildert sie ihre
Arbeit in dem Kriegswinter: "Den Aufschwung, den die Volksseele erhalten,
fuehlten auch die Frauen. Er staerkte auch unsere Kraft fuer weitere Kaempfe
auf unserem Arbeitsfelde. Es war im Kriegswinter 1870/71 und die Sorge um
unseren zweiten Sohn, der als Arzt im Felde stand, machte auch mich
ruhelos. Da fasste ich zur Ablenkung den Entschluss, eine zusammenhaengende
Reihe von Vortraegen ueber die Stellung der Frau in den alten Kulturlaendern
zu halten. Ohne rechtes Bewusstsein der Kuehnheit dieses Vorhabens, nicht
geschuetzt durch die Tendenz unseres Vereins und seiner Bestrebungen, wagte
ich es, in einer Kulturstadt wie Leipzig wissenschaftliche Vortraege zu
halten, ohne eingehende Studien gemacht zu haben."
Henriette Goldschmidt erarbeitete sich das Wissen fuer ihre Vortraege, sie
vertiefte sich in das Frauenleben der Vergangenheit, fand nicht ueberall
Verbesserung in der Gegenwart, sondern eher eine Niedrigerstellung der
Frau bei manchen Voelkern. Ihre Vortraege fanden grossen Anklang, das staerkte
ihre Zuversicht und ihren Mut, und sie hatte die Kuehnheit, Forderungen
aufzustellen in ihren weiteren Vortraegen, wie sie damals noch ganz
ungewoehnlich waren, so den in der Einfuehrung wiedergegebenen Ruf nach
"Muettern der Stadt"; sie war es aber auch, die zuerst davon sprach, jede
Frau haette die Pflicht, ein Jahr dem Staate zu dienen und soziale Arbeit
zu leisten.
In der gleichen Zeit, da Henriette Goldschmidt an ihren Vortraegen schrieb,
fand sie ihr zweites grosses Arbeitsgebiet, eins, das sich ihr innerlich
stets mit ihrer Pionierarbeit in der Frauenbewegung verband, weil es sich
auf die Erziehung der Frau zu ihrem muetterlichen Beruf bezog; denn
Henriette Goldschmidt hielt von Anfang an den erziehlich muetterlichen
Einfluss der Frau fuer das Besondere, was die Frau ihrer innersten
Veranlagung nach im Staatswesen zu leisten hatte. Sie schreibt: "Waehrend
meiner Arbeit an den Vortraegen wurde ich immer mehr in der Meinung
bestaerkt, dass die Frauenfrage nur im Zusammenhang mit dem Familien- und
Volksganzen betrachtet werden muesse. Durch ein paar Zufaelligkeiten nun,
die im Leben eines jeden Menschen eine bedeutsame Rolle spielen, wurde ich
der Aufgabe zugefuehrt, die meinem Leben die Richtung geben sollte.
Auf einem Wege in Leipzigs Strassen kam ich in eine Gasse in der Naehe der
Weststrasse an ein kleines Haus, dessen Parterre die Inschrift:
"Kindergarten" trug. Ich hatte wohl in Gespraechen manchmal, wenn auch
selten, etwas von Kindergaerten, Froebelschen Beschaeftigungen reden hoeren,
ohne der Sache besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Doch blieb ich einen
Augenblick vor dem Hause stehen, klingelte und stieg einige Stufen
hinunter in einen kellerartigen Raum. Denn wo haette damals ein
Kindergarten anders ein Lokal finden koennen als in einem irgendwie
ungehoerigen Raum? Eine junge Dame trat mir entgegen, freudig ueberrascht,
dass jemand es der Muehe fuer wert hielt, sich nach dem Kindergarten zu
erkundigen. Es war noch frueh morgens, die Kleinen waren noch nicht da und
die Kindergaertnerin hatte Zeit, mir die Froebelschen Beschaeftigungsmittel
zu zeigen. Sehr erstaunt sah ich sie an - ich fuehlte, hier ist ein Plan,
ein System, eine Methode - bald aber kamen die Kleinen, die
Kindergaertnerin stellte sie im Reigen auf und spielte mit ihnen einige
Bewegungsspiele. Hier fuehlte ich nicht nur den Rhythmus, den Takt, die
Harmonie, - ich fuehlte mit den Kindern die Freudigkeit, die sie beseelte -
'Freude schoener Goetterfunken, Tochter aus Elysium'.
Sehr nachdenklich ging ich nach Hause, holte mir die Froebelschen Schriften
aus der Universitaetsbibliothek, und in den Schriften Friedrich Froebels
fand ich nicht nur den Plan fuer die Praxis des Kindergartens theoretisch
begruendet - es war mir, als wehte ein Hauch des Geistes aus seinen Worten
in meine Seele, als erschaute ich einen Schoepfungsakt, der ein neues, noch
nicht dagewesenes Gebilde vor meinen Augen entstehen liess. Andacht
erfuellte mich fuer das grosse Geheimnis der schoepferischen Urkraft, die ihr
'Es werde' der Welt verkuendet."
Eine Offenbarung war Henriette Goldschmidt die Bekanntschaft mit Froebels
Ideen, und sie hat oft es wieder und wieder gesagt, das Froebelsche Wort
von der Menschheit pflegenden Bestimmung des Weibes, um derentwillen die
Frau die gleiche geistige Durchbildung wie der Mann erhalten muesse. Sie
ist darin nicht immer voll verstanden worden, und vielleicht geht erst in
der Not und Verrohung unserer Zeit das volle Verstehen auf fuer die
Wichtigkeit einer gemeinsamen Familien- und Volkserziehung, einer
vertieften Durchbildung der Frauen aller Staende zu ihrem muetterlichen
Berufe, und zwar einer Ausbildung vor oder nach einer Berufsschulung,
sofern die Berufsbildung sich nicht auf den Erziehungsberuf gruendet, weil
sich der erziehliche Einfluss der Frau durchaus nicht allein auf die
Familie, sondern auf das Volksganze erstrecken soll.
In dieser Zeit ihrer Beschaeftigung mit Friedrich Froebels Schriften las
Henriette Goldschmidt einen Aufruf in der Zeitung von einem Mann, der alle
einlud, die sich fuer die Kindergartenfrage interessierten. Sie ging hin,
meinte in eine grosse Versammlung zu kommen und fand nur wenige
Kindergaertnerinnen, die sich in Klagen ueber die Schwierigkeit ihres
Berufes ergingen. Das war der Anstoss, der Henriette Goldschmidt
veranlasste, den Verein fuer "Familien- und Volkserziehung" in Leipzig zu
gruenden; am 10. Dezember 1871 fand die Gruendung mit etwa 150 Mitgliedern
statt. Im Herbst 1872 konnte dann der Verein seinen ersten
Volks-Kindergarten in der Querstrasse eroeffnen. Der Aufbau des Vereins vom
Kindergarten bis zur Hochschule, die Gliederung der einzelnen Anstalten zu
schildern, sei dem zweiten Teil dieser kleinen Schrift vorbehalten.
Henriette Goldschmidt hatte mit dieser Gruendung sich nicht abseits von
ihren Kolleginnen gestellt, denn ihr schmolz eben immer Frauenfrage und
Erziehungsfrage zur Einheit zusammen, aber sie hatte doch ihren besonderen
Weg eingeschlagen. Luise Otto-Peters und Auguste Schmidt wurden wohl
Mitglieder des Vereins, aber es war doch kein eigentliches Mitarbeiten von
ihrer Seite. Sie verloren aber Henriette Goldschmidts Arbeitskraft auch
nicht; die damals beinahe fuenfzigjaehrige Frau stand auf der Hoehe ihrer
Leistungsfaehigkeit. Sie war ihrem Manne weiter die verstaendnisvolle
Gefaehrtin, an dem Ergehen und Ins-Leben-Treten der drei Soehne nahm sie
echt muetterlichen Anteil; mit ihrer Schwester Ulrike, die in Berlin die
"Viktoria-Fortbildungsschule" ins Leben rief, verband sie mehr als
schwesterliche Zuneigung: eine auf gleichen Lebensansichten beruhende
Freundschaft war es.
Sie baute ihren Verein weiter aus; hielt Vortraege, so sechs unter dem
Titel: "Ideen ueber weibliche Erziehung", die sie spaeter, als sie die 80
schon ueberschritten hatte, zu ihrem Buch erweiterte: "Was ich von Froebel
lernte und lehrte." Sie erteilte in dem bald darauf gegruendeten Seminar
fuer Kindergaertnerinnen Unterricht, unternahm Vortragsreisen fuer den
Allgemeinen Deutschen Frauenverein und verstand es weiter, in ihrem Hause
eine geistig belebte Geselligkeit zu pflegen. Dabei kam es der kleinen
zierlichen Frau zugute, dass sie eine eisenfeste Gesundheit besass. Sie
erzaehlte, dass sie um vier Uhr frueh schon aufgestanden sei, um fuer sich zu
arbeiten - am Waschtisch schrieb sie ihre ersten Vortraege, da sie selbst
keinen Schreibtisch besass. Abends hat sie es einmal fertig gebracht, ihrem
Manne nach einem reichen Arbeitstag fuenf Stunden hintereinander
vorzulesen.
Bei der Arbeit an ihren Vortraegen erkannte Henriette Goldschmidt mehr und
mehr die Luecken in ihrer Ausbildung, und mit eisernem Fleiss strebte sie,
diese auszufuellen. Sie studierte - sie las nicht nur die grossen Paedagogen,
vertiefte sich in Goethe, Kant, Humboldt, Schelling, Hegel, Fichte; sie
las Geschichte und Literaturgeschichte, suchte auf jedem Gebiet ihr Wissen
zu erweitern, ihr ausserordentliches Gedaechtnis kam ihr zur Hilfe, sie
schrieb ganze Buecher voll von Ausspruechen nieder, schrieb oft ihre eigenen
Gedanken dazu; so steht da z. B. unter dem Worte Herbarts: Geschichte,
_die_ man lernen soll, ist ganz verschieden von Geschichte, _aus_ der man
lernen soll: "Zunaechst muss man Geschichte lernen, spaeter erst in einem
Alter, wo man Geschichte kennt, laesst sich _aus_ ihr lernen." Oder sie
stellt sich selbst nachdenkliche Fragen wie: "Hat es Sinn, die Kraft zu
ruehmen und im Gefuehl der Schwaeche mit sich zufrieden zu sein?"
Es war ein geistiges Erarbeiten, ein Ringen um Wissen, das diese Frau auch
im Alter nicht verlor, sie war immer im besten Sinne eine Arbeiterin an
sich selbst, so wie sie eine Arbeiterin fuer andere war. Ihr Geist ging
weite Wege, aber sie wusste auch das Schoene zu geniessen, das sich ihr
darbot, ohne dabei je um eines Genusses willen ihre freiwillig auf sich
genommene Arbeitsverpflichtung zu versaeumen. Sie erzaehlte, dass sie einmal
auf einer Reise nach Gastein, bei der ihr Mann sich unwohl fuehlte, sich
selbst Vorwuerfe gemacht habe ueber die unbeschreibliche Freude, die sie
beim Anblick der grossen Natur ergriff. Ueberhaupt war es die grosse Natur,
deren Anblick sie begeisterte, sie sagte selbst, fuer das Idyll haette sie
nicht so viel Sinn. So stand ihr auch Goethe weniger nahe, so tief sie
sich in ihn eingelebt hatte, als Schiller, dessen schwungvolle glaenzende
Sprache sie immer wieder begeisterte.
Das schoenste Land war ihr die Schweiz; Italien, das sie erst in spaeteren
Jahren kennen lernte, gab ihr weniger, freilich machte sie die Reise aber
auch unter fuer sie aeusserlich unguenstigen Umstaenden, bedrueckt durch eine
lange Krankheit einer Enkelin. Den staerksten Eindruck als Stadt hinterliess
ihr Paris, das sie in Begleitung ihres Mannes und einer Schwestertochter
Ende der siebziger Jahre aufsuchte. Auch hier war es wieder ihr nach
Verbindung forschender Geist, der sie antrieb, die Graeber Heines und
Boernes zu sehen. Sie schreibt ueber den Besuch des _Pere la Chaise_ und
Boernes Grab: "Nun aber noch einen Weg zu den 'Traeumen meiner Jugend':
'Boernes Grab, gesegnet seist du mir!' Ein wundervolles Reliefbrustbild mit
einem so schoenen und sinnigen Ausdruck wie keines der mir bekannten Bilder
schmueckt seine Grabstaette. Wie gut, dass ich nicht frueher meinen Baedeker
gelesen, als auf dem _P. la Chaise_. Meine Nichte, die eigentlich eine
preussische Obertribunalratstochter und kein Judenmaedchen aus Krotoschin
ist, hat dennoch das reiche, unsagbar kampfreiche Leben ihrer Mama so in
sich aufgenommen, dass sie auch mit mir die ganze Bedeutung fuehlte, die fuer
mich in dem Anblick dieser Grabstaette lag. Schon des Morgens sagte sie:
Wir nehmen ein Bukett fuer Boerne mit, - und als sie ein sehr schoenes von
Heliotrop und gelben Rosenknospen in einem grossen Papier ohne die bei uns
so beliebten Spitzenmanschetten, die ich in Paris gar nicht gesehen,
brachte, sagte sie: Tante, schreib' doch was hinein. - Ich schrieb etwas
von der Verbruederung des franzoesischen und deutschen Volkes, die er
getraeumt und die doch zur Wahrheit werden muesse - und als ich an seinem
Grabe stand, da sah ich unter einer Bueste, die von David d'Angers
herruehrt, Frankreich und Deutschland sinnbildlich dargestellt, durch die
Freiheit vereinigt. - So stand's im Baedeker und so hatte ich es dem
Kuenstler nachgefuehlt. Neben den Statuen, Frankreich und Deutschland in
schoenen Frauengestalten, sind neben der franzoesischen die Namen der
franzoesischen Dichter: Voltaire, Rousseau, Lamennais - neben der
deutschen: Lessing, Herder, Schiller, Jean Paul, eingraviert. - Ich wollte
in die Nische das Bukett legen, konnte es aber nicht erreichen. Ein
gewoehnlicher Arbeiter in der Bluse, der dort beschaeftigt war, trat heran
und legte es hin: _C'etait un poete allemand - je le sais - il nous a tant
aime._ -"
Henriette Goldschmidts Reisewuensche blieben aber in der Hauptsache
unerfuellt, von ihrer Kindheit an sehnte sie sich, Palaestina und Amerika zu
sehen: die Heimat ihres Volkes und das Land der Freiheit; sie kam nicht
hin; die bescheidenen Verhaeltnisse, in denen sie nach ihrer Verheiratung
lebte (ihr Vater hatte den groessten Teil seines Vermoegens verloren), und
die Grosszuegigkeit, mit der sie ihre Kraft und ihre Arbeit fuer ihre Ziele
dahingab, gestatteten ihr den Luxus solcher Reisen nicht. Aber das Reisen
an sich blieb ihr stets ein Genuss, sie scheute auch im hohen Alter die
Anstrengung nicht; 1913 reiste sie zum letztenmal fuer einige Sommerwochen
nach Friedrichroda. Wie wenig sie Ermuedung fuehlte, beweist ein Wort, das
die beinahe 79jaehrige Frau sprach, als sie von einem Frauentag in Koeln
heimkehrte. Sie war die Nacht ueber gefahren - nicht etwa im Schlafwagen -
hatte in Koeln anstrengende Tage durchgemacht und sagte heiter, als sie aus
dem Zuge stieg: "So eine Nachtfahrt ist doch recht erfrischend."
Nachdem sie 1906 aus dem Vorstand des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins
ausgetreten war - Luise Otto-Peters starb 1892, Auguste Schmidt folgte ihr
1902 - gedachte sie ihre Arbeitskraft nun ausschliesslich ihren Anstalten
zu widmen, sie dachte an einen leisen Abbau ihrer Taetigkeit, sah die von
ihr gegruendeten Anstalten damals in den festen, sicheren Haenden von Dr.
Agnes Gosche; aber es kam noch einmal eine grosse Arbeitswelle, in die sich
Henriette Goldschmidt mit ganz jungem Eifer stuerzte.
Nach ihrem 80. Geburtstag war sie schwer erkrankt, sie meinte, nun kaeme
das Alter, als sie ploetzlich das Ziel, das sie bisher nicht erreichen
konnte, die Gruendung einer Hochschule fuer Frauen - aehnlich, nur erweitert,
wie sie einst Malvida von Meysenbug gedacht hatte - mit der Tendenz "dem
muetterlich-erziehlichen Beruf der Frau die wissenschaftliche Weihe zu
geben," erreichbar vor sich sah. Ein Leipziger Freund, Geheimrat
Hinrichsen, stellte die Mittel zur Verfuegung, und, obwohl schon im
fuenfundachtzigsten Jahre stehend, begann Henriette Goldschmidt noch einmal
so ruhelos und zielbewusst zu arbeiten wie in der Jugend. Sie fand in Dr.
Johannes Pruefer einen tatkraeftigen umsichtigen Helfer, und so konnte am
29. Okt. 1911 die Hochschule eroeffnet werden. - Es war erreichte
Lebenshoehe, wie sie wenigen Menschen beschieden ist.
Da Henriette Goldschmidt ganz und gar Autodidaktin war, sich selbst zu dem
gemacht hatte, was sie war, ist es begreiflich, dass in ihrer Arbeitsweise
auch eine gewisse Eigenwilligkeit lag, nicht immer ganz bequem fuer ihre
Mitarbeiter. Sie hatte dabei aber immer nur das Werk an sich vor Augen;
sie lebte nur - war es der Allgemeine Deutsche Frauenverein oder der
Verein fuer Familien- und Volkserziehung - den Zielen, die sie sich
gesteckt hatte. Da wurde ihr manchmal als Eigenwille ausgelegt, was im
Grunde doch nur selbstlose Hingabe an das Werk war. Freilich war sie, wie
es Menschen sind, die ihr Leben selbst gemodelt haben, die nicht nur aus
sorgsam bereitgehaltenen Gefaessen trinken, sondern an die Tiefen der
Quellen hinabsteigen, nicht immer nachgiebig. Sie ging wohl in
Besprechungen bei Fragen, die ihr fuer das Ganze belanglos erschienen,
ruecksichtslos zur Tagesordnung ueber, aber sie war doch keine Natur, die
nur Jasager wollte, im Gegenteil wuerdigte sie ein freies Neinsagen. Sie
schaetzte einen logisch begruendeten Widerspruch sehr, gab viel juengeren
Menschen nach, wenn sie die Gegengruende einsehen konnte, und besass die
Groesse, die nicht viele Menschen haben, begangene Fehler einzugestehen. Da
wurde es ihr auch zum Beispiel ihrer juengeren Freundin, ja selbst ihrem
Hausmaedchen gegenueber nicht schwer, den ersten Schritt zur Verstaendigung
zu tun und von ihrem Irren zu sprechen. Dieser grosse Zug ihres Charakters
war es zumeist, der ihr im hohen Alter neben ihrem reichen Wissen das gab,
was man als "weises Darueberstehen" bezeichnen kann.
Es ging, besonders in ihren Altersjahren, in denen die intensive
Tagesarbeit sie nicht mehr wie sonst vollkommen in Anspruch nahm, selten
jemand von ihr, dem sie nicht in kurzem Gespraech etwas gab. Ihre Briefe
trugen bis zuletzt das persoenliche Gepraege ihres Geistes, die Anmut im
Ausdruck, die aus einer vergangenen Zeit stammte und die etwas an die
Frauen der Romantik erinnerte.
Innere Treue, die man nicht mit aeusserlichem Darandenken verwechseln muss,
gehoerte zu Henriette Goldschmidts besonderen Eigenschaften, so blieb sie
auch im tiefsten Grunde den fuehrenden Geistern treu, denen sie, wie sie
erkannte, ihre innere Entwicklung verdankte. Zu ihnen gehoerte besonders
Friedrich Froebel, und um ihn hat sie gelitten, wie wohl wenige um Meister
leiden. Sie sagte manchmal tief schmerzlich von den neuen Frauen in der
Frauenbewegung: sie verstehen die "alte Froebeltante" nicht, und sie hatte
damit nicht ganz unrecht. So richtig in ihrem Wollen ist Henriette
Goldschmidt nicht immer verstanden worden. Selbst nicht von den
Froebelianern, weil sie zu sehr in allem die Idee, die dem Froebelschen
System zugrunde liegt, betonte, und manches darum als nichtig abtat, was
anderen eben gerade als wichtig erschien. Sie selbst hatte durchaus kein
Talent zur Kindergaertnerin, haette es nie werden koennen. Verstanden hat sie
darin Berta von Mahrenholtz-Buelow, die Henriette Goldschmidt den Apostel
Froebels nannte, und auch Frau Dr. Jenny Asch in Breslau.
Berta von Mahrenholtz-Buelow, geb. 1810, die noch in regem Verkehr mit
Friedrich Froebel selbst gestanden hatte und dessen Ideen weit ueber
Deutschland hinaus Verbreitung gab, hatte 1849 in Bad Liebenstein Froebel
zum erstenmal mit den dortigen Kindern spielen sehen und gleich das Wort
gesagt: "Der Mann wird ein '_alter Narr_' von den Leuten genannt!
Vielleicht ist er einer von den Menschen, die von ihren Zeitgenossen
bespoettelt und gesteinigt werden und denen die Nachwelt Denkmaeler
errichtet."
Es kann hier bei dem kleinen Umfang der Schrift nicht auf das naehere
Verhaeltnis zwischen den beiden Frauen eingegangen werden; Henriette
Goldschmidt hat der Frau, die sie ihre Lehrerin nannte, in Vortraegen und
in der Schrift: "Berta von Mahrenholtz-Buelow, Leben und Wirken" (Hamburg
1896) ein Denkmal gesetzt. Wie sehr die Ideengaenge der beiden Frauen
zusammenklangen, beweist das Wort von Berta von Mahrenholtz: "Mit der
Erhebung des Kindeswesens ist auch die Erhebung der Frau vorhanden. Mit
dieser Weihe der Erzieherin der Menschheit ist alles verknuepft, was die
Frau einsetzt in das volle Recht der Menschenwuerde." Henriette Goldschmidt
aber praegte sich als Leitwort fuer ihre Arbeit: "Der Erziehungsberuf ist
der Kulturberuf der Frau." Und diesem Worte folgte sie, es beherrschte
zuletzt ganz ihr Tun, und sie ueberwand in der festen Zuversicht, den
richtigen Weg zu gehen, auch Schwierigkeiten, sie war ganz eins mit ihrer
Idee, hatte wirklich aus den vielen Wegen, die sich nach und nach, anfangs
langsam, dann immer rascher den Frauen auftaten, den Weg gefunden, der
ihrer Veranlagung, ihrer ganzen Geistes- und Gemuetsrichtung entsprach.
6. Ausklang.
Auch dunkle Schatten sind ueber den Lebensweg von Henriette Goldschmidt
geglitten; der Vater verlor einen grossen Teil des Vermoegens, eine
Schwester war immer leidend, 1889 starb ihr Mann, Dr. Goldschmidt, nach
langem Leiden, treu von ihr gepflegt. Eine wirklich glueckliche Ehe riss
damit auseinander, und nach einigen Jahren erlebte die vereinsamte Frau
den grossen Schmerz, den aeltesten, geliebten Stiefsohn Julius ganz
ploetzlich zu verlieren. Auch die geliebte Schwester und Gesinnungsgenossin
Ulrike starb vor ihr. Sie stand aber damals noch mitten in der Arbeit, und
die Arbeit trug sie immer wieder aus dem Leidenstal empor.
Bei einem Alter, wie es Henriette Goldschmidt erreicht hat, bei dieser
Intensivitaet des Lebens fragt man sich unwillkuerlich, wann begann diese
Frau die hohe Altersgrenze zu ueberschreiten, wann konnte man von
wirklichem Altwerden sprechen? Denkt man dieser Frage nach, so kommt wohl
allen denen, die sie wirklich genau gekannt haben, und das sind zuletzt
nur wenige gewesen, die Antwort: Bei Ausbruch des Weltkrieges. Nicht erst,
als die Entbehrungen des Krieges begannen, sondern in den ersten
Augusttagen von 1914. Fuer Henriette Goldschmidt brach da das hohe Ideal
der Voelkerversoehnung, an das sie, eine ueberzeugte Pazifistin, stets
geglaubt hatte, zusammen. Sie sah nicht mehr eine friedlich
fortschreitende Entwicklung aller Voelker vor sich, sie sah die gewaltsame
Zertruemmerung eines hohen Standbildes.
Von da an wurde sie alt.
Sie leitete noch eine Weile den Verein fuer Familien- und Volkserziehung,
dann legte sie den Vorsitz nieder. Wohl wohnte sie noch weiter den
Sitzungen des Vorstandes bei, zeigte bis zuletzt Interesse an allen
Anstalten, aber es war doch ein langsames, vielleicht nur den Eingeweihten
spuerbares Sichlosloesen von ihrer Lebensarbeit.
Dazu kam Kummer in der Familie. Die Tragik des hohen Alters, das Ueberleben
einer juengeren Generation blieb auch ihr nicht erspart. Ihr zweiter Sohn
starb, liebe Freunde gingen dahin. Ihren neunzigsten Geburtstag beging sie
aber doch noch in einem grossen Freundeskreis. Ihr juengster Sohn,
Enkelkinder und vor allem die geliebten Nichten kamen, ihre Pflegetochter
Julia, die Tochter ihres Bruders, und die Toechter ihrer Schwester Ulrike,
von denen die aeltere, Margarete Henschke, die von ihrer Mutter gegruendete
Viktoria-Fortbildungsschule in Berlin weiterfuehrt. An diesem Tage war es
wirklich, wie es ein Kuenstler gesagt hatte: "Es kann in wenigen Stunden in
diesem Gesicht ein Unterschied von vierzig Jahren sich zeigen."
Mit der ihr eignen geistvollen Anmut beantwortete sie die Glueckwuensche der
zahlreichen Abordnungen. Von frueh bis abends war es ein Kommen und Gehen,
sie erfuhr tiefste Liebe, ebenso Anerkennung von Behoerden und Vereinen, es
war wirklich noch einmal, trotz des Krieges, ein Tag voll Sonne in ihrem
Leben. Selbst die greise Grossherzogin von Baden sandte ihre Glueckwuensche.
Aber dann senkten sich die schwarzen Schatten tiefer. Das Schicksal
Deutschlands, die lange Dauer des Krieges bedrueckte sie tief. Nicht die
Entbehrungen, die der Krieg mit sich brachte, lasteten auf ihr, sie sah
des Vaterlandes Zukunft dunkel verhuellt, sagte oft: "Es sind zu viele
gegen uns." Oft sagte sie auch: "Wenn alle diese ungezaehlten Millionen,
diese angesammelte Kraft fuer den Ausbau sozialer Einrichtungen verwendet
werden wuerde, wie gluecklich koennten viele, viele leben!"
Und dann kam die truebe Wendung in Deutschlands Schicksal. Und kurz vor dem
Ausbruch der Revolution erlebte die alte guetige Frau noch den herbsten
Schmerz, der ihr werden konnte, sie verlor die geliebte Pflegetochter Frau
Dr. Julia Kalbfleisch an der Grippe.
In den ersten Stunden nach dem Eintreffen der Nachricht war es wie ein
Aufbaeumen der alten Kraft gegen das unbarmherzige Schicksal; es lohte im
Schmerz noch einmal das alte Feuer der Jugend auf, dann wurde Henriette
Goldschmidt still und gelassen. Und die Revolution, die wenige Tage spaeter
ausbrach, zog sie wieder, wie vielfach grosse politische Ereignisse es
getan, von ihrem Ich ab, und noch einmal war es das grosse Weltgeschehen,
das sie in tiefster Seele erschuetterte.
Aber der Glanz von Achtundvierzig lag fuer sie nicht auf den trueben
Novembertagen von 1918, die Deutschland, die das von ihr so heiss geliebte
Vaterland der Willkuer der Feinde preisgaben. Ihr waren diese Tage keine
Erhebung, denn sie sah in ihnen keinen Fortschritt, sie verstand ihre
Ursachen, aber sie erblickte keinen Aufschwung.
Und als sie sah, wie langsam so vieles verworfen wurde, das mit innerster
Hingabe in freiwilliger selbstloser Arbeit aufgebaut worden war, ergriff
sie Angst um den Bestand ihres Lebenswerkes. Da war es ihr eine
trostreiche Freude, dass gerade in dem Revolutionswinter es dem Verein fuer
Familien- und Volkserziehung gelang, in einem eignen Hause ein
Kindertagesheim zu eroeffnen, das ihren Namen trug. Sie sah darin ein
Vorwaertsschreiten; den Grundstock hatte eine Sammlung zu ihrem 90.
Geburtstag ergeben, Freunde hatten weiter geholfen, so konnte denn in dem
trueben Winter 1918/19 das Heim fuer neunzig Kinder seine Pforten auftun.
Auch die Freude ward ihr noch zuteil, dass die Leitung der Anstalt, die am
staerksten ihre persoenliche Praegung trug, der Froebel-Frauenschule, wenn
auch nur fuer wenige Jahre in die Haende ihrer Lieblingsschuelerin, Marie
Luise Schumacher, ueberging.
An Sonntagnachmittagen sammelten sich um ihren Tisch noch immer liebe
Freunde, die Tochter ihres Bruders wohnte zu ihrer Freude in Leipzig, ein
Freund aus alter Zeit sass noch allsonntaeglich in dem behaglichen
altmodischen Zimmer; im Hause lebten noch immer Menschen, die sich ihr
zugehoerig fuehlten. Das Haus, es heisst jetzt "Henriette-Goldschmidt-Haus",
in der Weststrasse in Leipzig, gehoerte dem Verein, und sie war, wie sie
frueher scherzend sagte, lange Jahre in der schwierigen Stellung, Mieterin
und zugleich Hauswirtin zu sein. Eine alte treue Hausmannsfrau hatte
einmal gesagt: "Bei uns ist alles wie eine Familie". So war es auch, die
kleine weisslockige Frau war des Hauses Seele und Mittelpunkt.
Kurz vor ihrem 94. Geburtstag erlitt Henriette Goldschmidt einen schweren
Unfall in ihrer Wohnung, sie erholte sich aber ueberraschend schnell und
verlebte das Weihnachtsfest, zu dem wieder die Nichten aus Berlin gekommen
waren, heiterer als im vergangenen Jahre. Es war eine grosse
Sonnensehnsucht in der alten Frau lebendig. Wie oft stand sie am Fenster
neben ihrem Schreibtisch und sah still in die sinkende Sonne, still und
feierlich sah sie den Glanz am Himmel kommen und vergehen.
Ein sonniger Januartag lockte sie zum erstenmal wieder ins Freie, und sie
war ueber den Spaziergang und die helle Schoene an dem Tag fast kindlich
froh. Doch schon in der Nacht stellte sich Fieber ein, und wenige Tage
spaeter, in der ersten Fruehe des 30. Januar 1920, starb Henriette
Goldschmidt, starb ein grosser, guetiger, warmherziger Mensch.
Ein sanftes, fast heiteres Hinuebergehen war es in die unbekannte Weite, in
ihren Krankheitstagen, die schmerzlos waren, liess sie sich noch Boerne
vorlesen und besprach noch die politischen Ereignisse des Tages.
Es war eine seltene Lebensvollendung. An ihrem Sarg sprach als letzte ihre
Lieblingsschuelerin das Goethewort, das sie besonders liebte und wenige
Tage vorher selbst ausgesprochen hatte, und das in dem Einklang steht zu
ihrem ganzen Wesen, wie sie ihn in allen Erscheinungen des Lebens zu
finden suchte:
"Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
die Sonne stand zum Grusse der Planeten
bist alsobald und fort und fort gediehen
nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So _musst_ du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
so sagten schon Sybillen, so Propheten;
und keine Zeit und keine Macht zerstueckelt
gepraegte Form, die lebend sich entwickelt."
HENRIETTE GOLDSCHMIDTS SCHAFFEN
1. Die geistigen Grundlagen ihrer Arbeit.
a) Anfaenge der Frauenbewegung.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts setzte in der deutschen Frauenwelt
eine Bewegung ein, die im Jahre 1865 zur Gruendung des "Allgemeinen
Deutschen Frauenvereins" fuehrte. Ausser Luise Otto-Peters und Auguste
Schmidt hat wohl kaum eine andere der damaligen Frauen von Anfang an die
hohe Bedeutung der neuen Bewegung fuer unsere Gesamtkultur so scharf
erkannt wie Henriette Goldschmidt. Kaum eine andere aber hat sich auch so
begeistert in den Dienst der neuen Ideen gestellt wie sie.
Vor allem war es ein Gedanke, der sie erfuellte, ein Gedanke, den der
"Allgemeine Deutsche Frauenverein" auch mit in sein Programm aufgenommen
hatte und den Henriette Goldschmidt bis ans Ende ihrer Tage immer und
immer wieder zum Ausdruck brachte, naemlich der: _Die Arbeit ist die
Grundlage unserer Kultur, die Arbeit ist da__her Pflicht und Ehre des
weiblichen Geschlechts. Alle Hindernisse muessen beseitigt werden, die dem
im Wege stehen._ - Also in vollem Umfange die _schaffende Mitarbeit der
Frau an unserem Kulturleben zu ermoeglichen_, das ist das hohe Ziel, das
ihr vorschwebte.
Um das zu erreichen, war es zunaechst noetig, der Frau die *Rechte* zu
verschaffen, die die _Voraussetzungen_ fuer diese Mitarbeit sind, die
Rechte, die der Mann von jeher besessen hatte, die aber der Frau bis dahin
vorenthalten worden waren. Es seien hier nur genannt: das Recht zum Besuch
aller Lehr- und Bildungsanstalten einschliesslich der Universitaet, das
Recht zur Uebernahme oeffentlicher Aemter, das aktive und passive Wahlrecht
in Gemeinde, Kirche und Staat u. dgl. Fuer all das hat Henriette
Goldschmidt mit gekaempft. Erwaehnt sei in diesem Zusammenhang nur ihr
temperamentvoller Vortrag ueber "_Rechte und Pflichten der Frauen in
Gemeinde und Staat_", den sie 1873 auf der Stuttgarter Generalversammlung
des "Allgemeinen Deutschen Frauenvereins" hielt. Im Jahre 1875 sprach sie
in Gotha ueber das gleiche Thema unter Beschraenkung auf das Gemeindeleben
und verlangte hier die Mitwirkung der Frau bei der Sittenpolizei, in
Armen- und Arbeitshaeusern, Gefaengnissen usw. Aber sie hat ihrem Geschlecht
diese Rechte nicht erringen wollen um dieser Rechte selbst willen - nicht
"weil der Mann sie hat, muss die Frau sie auch haben" - nicht Selbstzweck
war ihr der Kampf ums Frauenrecht, sondern, wie den besten der Fuehrerinnen
der Frauenbewegung, war ihr dieser Kampf ums Recht stets nur _Mittel zum
Zweck_, nur Vorbedingung fuer die Verwirklichung jener grossen Idee _der
Mitarbeit der Frau an der Kultur der Menschheit_.
Ihr war die Frauenfrage in erster Linie eine Kulturfrage. Es war daher
kein Zufall, dass ihr erster oeffentlicher Vortrag in Leipzig (1867) dies
schon im Titel zum Ausdruck brachte. "_Die Frauenfrage eine Kulturfrage_"
lautete das Thema. Insbesondere war es die Stellung der Frau innerhalb der
buergerlichen Gemeinde, die sie in dem Vortrage behandelte, und sie wies
vor allem auf die unberechtigte und schaedliche "Nichtbeachtung der Kraefte
der Frau" hin. Ihr damaliger Vortrag gipfelte in den Worten, die sie
seitdem oft und gern wiederholt hat: "_Wir haben wohl Vaeter der Stadt, wo
aber sind die Muetter?_"
"Wo sind die Muetter?" schreibt sie in ihrem letzten Aufsatz, den sie
anderthalb Jahr vor ihrem Tode verfasste(2), "Wo sind die Muetter? _Hier ist
der Schluessel fuer meine Stellung in der Deutschen Frauenbewegung._"
Die "Haelfte der Menschheit" - das gesamte Frauengeschlecht - war bisher
von der bewussten Mitarbeit an der Kultur ausgeschlossen. _Was ist Kultur?_
- Der Niederschlag, das Ergebnis der unaufhoerlich schaffenden und
gestaltenden Kraefte der menschlichen Seele. Die Kultur ist das
Schoepfungswerk der Menschheit, die aeussere Darstellung ihres innersten
Wesens. Da bisher die Kulturarbeit fast ausschliesslich vom Mann geleistet
wurde, traegt sie vorwiegend maennliche Zuege, sie ist fast ausschliesslich
ein Ausdruck, ein Abbild der maennlichen Seele. Die spezifisch maennlichen
Seelenkraefte haben sich in ihr ausgewirkt. Das wird uns im allgemeinen gar
nicht bewusst, weil wir es nicht anders kennen. Bei einigem Nachdenken aber
wird man sich der Erkenntnis nicht verschliessen koennen, dass die maennliche
Seele nicht das Ganze der Menschheit darstellt. Jedem Geschlecht sind
Grenzen gezogen. Das Ganze der Menschheit ergibt sich erst aus maennlicher
und weiblicher Seele zusammen. Die Idee einer vollkommnen
Menschheitskultur verlangt daher mit innerer Notwendigkeit die ungehemmte
Entfaltung der maennlichen und weiblichen Seele, die gleichberechtigte
Mitarbeit beider Geschlechter an der Kultur. Erst dann werden die feinsten
und tiefsten Anlagen und seelischen Moeglichkeiten, die in der Menschheit
schlummern, sich _im Leben darstellen_, das Leben erhoehen und veredeln.
Das _spezifisch Weibliche_ nun, das es zu entfalten und zu staerken gilt,
erblickt Henriette Goldschmidt in dem _Pflegesinn_, in dem muetterlichen
Instinkt, der sich helfend und schuetzend allem Werdenden, allem Schwachen
und Kranken zuwendet. Hier unterscheidet sich die weibliche Seele am
staerksten von der maennlichen. Dem weiblichen Geschlecht diese seine
Eigenart _zum Bewusstsein zu bringen_, ist die naechstliegende Pflicht der
Fuehrerinnen. Und dann _Freiheit_ fuer die Betaetigung dieses Instinkts!
Ungeahnte Kraefte werden sich dann aus der weiblichen Seele heraus
entwickeln, und unsere Kultur wird reicher und schoener denn je. Henriette
Goldschmidt glaubte an den Genius der Menschheit, wie nur je ein Idealist
an ihn geglaubt hat.
Die Frauenfrage war ihr daher fuer den Augenblick die wichtigste
Kulturfrage ueberhaupt, ein bedeutsamer Schritt in der Gesamtentwicklung
des Menschengeschlechts, der Anfang einer neuen Kulturepoche. Nicht dass
sie geglaubt haette, diese andere Zeit muesse oder koenne bereits morgen oder
uebermorgen beginnen. Dazu war sie zu klug und besass zu viel Einsicht in
historisches Geschehen. Aber den _Glauben_ hatte sie an eine bessere -
ferne Zukunft.
_Wie_ sie zur Frauenfrage stand, kann man am besten erkennen, wenn man sie
einmal selbst hoert, und zwar nicht nur in einigen herausgerissenen
Zitaten, sondern in groesserem Zusammenhang. Darum sei im folgenden ein
geschlossener Gedankengang - unter Weglassung unwesentlicher
Einschaltungen - wiedergegeben aus der Rede "_Die Frauenfrage innerhalb
der modernen Kulturentwicklung_," die Henriette Goldschmidt am 27.
September 1877 auf dem Frauentag in Hannover gehalten hat. Die Rede ist
nur in wenig Exemplaren noch vorhanden, verdient aber vor voelliger
Vergessenheit bewahrt zu werden, zumal sie zu dem Reifsten und Schoensten
gehoert, was uns Henriette Goldschmidt hinterlassen hat:
"Wie eine hoehere als menschliche Macht in allen Ereignissen wirkt,
so liegen jeder menschheitlichen Frage tiefere Ursachen zugrunde,
als die aeusserlich wahrnehmbaren. Das Gesetz ueber uns und das
Gesetz in der Geschichte leitet, ja gebietet uns und wir befolgen
nur die Gesetze, wir beherrschen sie nicht. Wie waere es sonst
moeglich, dass einige Frauen ohne Rang und Reichtum, ohne glaenzende
Namen eine anregende Kraft ausgeuebt haetten, die eine so
hochbedeutsame Frage fuer ganz Deutschland in Fluss gebracht? Wie
waere es zu erklaeren, als aus einem _inneren_ Gesetze, das uns oft
gegen unsern eigenen Willen, gegen unsere Neigung ergreift, dass
Frauen, die nie daran gedacht, ihren haeuslichen Wirkungskreis zu
verlassen, sich ploetzlich gedraengt fuehlen, hinauszutreten und sich
und ihren Namen dem unzuverlaessigen, wenigstens dem
unberechenbaren Urteile der Menge preiszugeben? Ja, wie waere das
groessere Wunder zu erklaeren, dass diese Frauen nicht dem Fluche des
Spottes und der Verkennung anheimfielen, sondern dass sie in
Staedten persoenlich ganz unbekannt, Schutz und Schirm in der
Heiligkeit der Sache fanden, die sie vertreten?! Ja, nicht nur
Schutz und Schirm, empfaengliche Herzen, begeisterungsvolle
Teilnahme kam uns ueberall, im Sueden und Norden unseres Vaterlandes
entgegen, und an jedem Orte, an dem der Allgemeine deutsche
Frauenverein bisher tagte, hat er eine Staette errichtet, an
welcher sittlich ernste, von Menschenliebe erfuellte Genossinnen im
Dienste der Frauenbildung und Frauenarbeit taetig sind.
So sehr man sich bemueht hat und so sehr man noch bemueht ist,
gerade die Frauenfrage im Gegensatz zu unsern natuerlichen und
Kulturbedingungen hinzustellen, so ist doch nichts destoweniger
_dasselbe Gesetz in ihr taetig, das alle menschlichen Verhaeltnisse
bestimmt_. Dieses Gesetz, das unsere allgemeinen und besonderen
Verhaeltnisse regelt, duerfen wir wohl das Gesetz fortschrittlicher
Entwickelung nach den gegebenen natuerlichen Bedingungen nennen:
_Die Natur hat fuer alle Wesen das Gesetz des Seins, der Existenz
gegeben. Aber wenn selbst Naturwesen sich stetig entwickeln, wie
sollen wir als Menschen nicht in einem hoeheren Sinne einer
Fortentwickelung beduerfen!_ Und die Geschichte belehrt uns, dass
wir uns in einer fortschreitenden Entwickelung befinden. Diese
Entwickelung ist abhaengig von der Kultur der Zeit, des Volkes und
von tausend unberechenbaren Einfluessen. Ist es auch unmoeglich,
selbst die erkennbaren Faktoren in einem Vortrage zu kennzeichnen,
so glauben wir nicht zu irren, wenn wir auch hier alle
Einzelerscheinungen auf ein Gesetz zurueckfuehren, das sich im Laufe
der Jahrhunderte erkennbar herausgearbeitet hat und unsere
Entwickelung bestimmt. Im Gegensatz zu der Auffassung der antiken
Kulturvoelker heisst das Gesetz moderner Kulturentwickelung: "_Das
Recht der Persoenlichkeit nach individueller Freiheit._"
In der antiken Welt fand der Einzelne in der Familie, in der
Gemeinde, im Staate die Wuerde seiner Persoenlichkeit. Der Einzelne
hatte nur Wert und Bedeutung im Zusammenhange mit der Familien-
und Volksgenossenschaft.
In Griechenland und Rom war es der Staat, der dem Einzelnen Wert
und Gepraege verlieh, der Staat, dem jeder Buerger seine
Persoenlichkeit ganz und voll hingab: im biblischen Altertum das
Volk und sein Verhaeltnis zu Gott, die religioese Idee, die dem
Einzelnen zur idealen, ihn erfuellenden Lebensaufgabe wurde. Aus
diesem Prinzip ergab es sich mit Notwendigkeit als eine Pflicht
gegen Volk und Staat und Gott, _eine Familie zu begruenden_, und
mit dieser Pflicht wurde es umso strenger genommen, je staerker das
Volksbewusstsein war. Erst in den spaeteren Zeiten des kaiserlichen
Rom, in den Zeiten des Verfalls der Sitten und der altroemischen
Geschlossenheit des Lebens begann auch die Ehelosigkeit.
_Diese Auffassung bestimmte auch die Stellung der Frau in der
alten Welt._ War der Mann nur im Zusammenhang mit dem Familien-,
Volks- und Staatsganzen eine Persoenlichkeit, wie sollte die Frau
sich anders als im Zusammenhange mit der Familie denken koennen? Im
Familienverband waltete ja ueberdies noch sichtbarer als im
Staatsverband die unbezwingliche Macht der Naturgesetze, und
naturbestimmt fuer die Ehe, fuer die Familie dachte man sich nicht
nur die Frau, sondern auch den Mann. Ja, die Strenge der
Verpflichtung zur Heirat, zur Begruendung einer Familie richtete
sich nur gegen den Mann, und Strafen gegen unverheiratet
gebliebene Maenner waren in allen antiken Kulturstaaten
festgestellt.
Wurde demnach das eheliche Verhaeltnis als ein Pflichtverhaeltnis
aufgefasst, so ergab es sich von selbst, dass die Neigung eine
untergeordnete Rolle spielte, ja, fast gar nicht in Betracht kam.
Waehrend - und ich erlaube mir, diesen Punkt ganz besonders Ihrer
Beachtung zu empfehlen - _waehrend unsere Dichtungen es fast
ausschliesslich mit den Konflikten des Herzens in Ruecksicht auf die
Gattenwahl zu tun haben, erzaehlen uns die Dichtungen des so hoch
kultivierten griechischen Volkes wenig oder nichts von einem
Konflikt des in unserer Zeit so eigenwillig gewordenen Herzens der
Jugend gegen die von den Eltern oder Vormuendern bestimmte
Gattenwahl_. Die griechischen Tragoedien, diese Meister- und
Musterwerke, haben es mit den erschuetterndsten Kaempfen innerhalb
der Familie, _nicht mit dem Liebesleben und -leiden_ jugendlicher
Gemueter zu tun. In unserer Zeit hat die Ehe nicht das Zwingende
eines Natur-, Staats- oder Religionsgesetzes, sie wird nicht im
Interesse einer zu gruendenden Familie geschlossen, sie soll _ein
freies Buendnis zweier __Menschen in Liebe_ sein, durch nichts
bestimmt als durch die eigene freie Entschliessung.
Wir sehen, durch welche Gegensaetze wir uns durchkaempfen muessen.
Aus der idealen Auffassung des Verhaeltnisses der Geschlechter, aus
der freien Entfaltung des Gemuetslebens, wie sie das Altertum nicht
kannte, ergibt sich eine Frage von so materieller Art, von so
prosaischem Charakter, wie sie gleichfalls das Altertum nicht
kannte. Denn war Mann und Frau naturbestimmt fuer die Ehe, war
namentlich das Leben der Frau nur denkbar in der Familie, so war
bei der Einheitlichkeit und Geschlossenheit des antiken Lebens die
Notwendigkeit anerkannt, dass die Familie der verlassenen Waise,
der verwitweten Frau die Existenz verbuergte. Der _Pater familias_
im alten Rom, der Patriarch, der Familienvater nach biblischer
Anschauung und deshalb bei den Juden bis in die neueste Zeit,
hatte Verpflichtungen gegen die Familienglieder, verwitwete
Frauen, verwaiste Kinder, die ihn nicht mit Unrecht zu dem
bestimmenden Mittelpunkte ihres Familienkreises machten.
Das ist in unserer Zeit anders geworden: Kein Familienhaupt ist
der bestimmende Mittelpunkt fuer einen groesseren Familienkreis. Sein
Recht ist kein absolutes, selbst in dem engen Kreis seiner muendig
gewordenen Soehne und Toechter. Und nur wenige Vaeter sind selbst in
der Lage, ueber ihren Tod hinaus ihre eigenen Kinder materiell zu
versorgen.
Wir sehen, auch dem hellstrahlenden Lichte unserer modernen Kultur
fehlen die Schatten nicht, die ja das Licht begleiten. Wenn diese
Schatten sich nur nicht zu drohenden Gespenstern aufrichteten, die
von zwei Seiten nach uns zielen. Von der einen Seite die _oft
selbstgewaehlte, oft auch unfreiwillige Ehelosigkeit_, von der
andern die _Unmoeglichkeit, in den gegebenen Familienverhaeltnissen
Sicherheit gegen die Not des Lebens zu finden_.
Vielleicht gibt es keine einzige noch so weit gehende Forderung in
bezug auf Frauenemanzipation, die sich mit der bereits
vollbrachten an Kuehnheit und Gefahr vergleichen liesse; sie
schliesst die gefaehrlichste Freiheit in sich, die Freiheit des
Herzens. Wenn man die freie Wahl des Gatten oder gar den Verzicht
auf die Ehe den Einzelnen ueberlaesst, so ist wenigstens das letztere
_eine Freiheit, die sich ueber die Naturgesetze erhebt_. Und es
wird nicht mehr als eine Kuehnheit erscheinen, die Formen fuer die
gesellschaftliche Stellung zu bestimmen, da diese doch nicht die
absolute Gueltigkeit von Naturgesetzen beanspruchen koennen.
Hier sehen wir den _Keim_ der Frauenfrage als Kulturfrage: hat man
es prinzipiell zugegeben, dass die Gattenwahl sowie der Verzicht
auf die Ehe auch von dem Willen der Jungfrau abhaenge, so koennen
tausend Faelle eintreten, wo diese Gattenwahl unmoeglich ist. "Sie
hat das Ideal ihres Herzens nicht gefunden," sie hat sich in dem
Erwaehlten getaeuscht; oder sie ist nicht begehrt worden.
_Der Schatten, den das Licht unserer Kultur wirft, richtet sich
vorzueglich gegen unser Geschlecht._
Die moderne Kultur hat das Recht der Persoenlichkeit, das Recht auf
eigene Existenz dem _Manne_ in hoeherem Grade zuteil werden lassen,
als die antike Kultur.
Wie aber gestaltet es sich fuer die Frau? Es ist ein hartklingendes
Wort, das ich jetzt aussprechen muss: Unsere moderne Kultur hatte
bisher durch die Befreiung des Einzelnen von dem Zwange der
geschlossenen Familienhaftigkeit, wo in des Wortes wirklicher
Bedeutung einer fuer den andern haftete - ich sage, _unsere Kultur
hat durch die Aufhebung dieser geschlossenen
Familienzusammengehoerigkeit das Urrecht jedes Wesens, das Recht
der Existenz, dem weiblichen Geschlechte eher gefaehrdet als
gewaehrt_.
Denn da der Mann die Existenzverhaeltnisse repraesentiert, so ist es
selbstverstaendlich, dass diejenigen Maedchen, die nicht heiraten,
ohne Existenzmittel bleiben. Das Schutzverhaeltnis aber, das die
alte Zeit dem weiblichen Geschlechte gewaehrte, ist in unserer Zeit
nicht vorhanden, kann nicht vorhanden sein. Und nun ziehen wir
noch einen, den wichtigsten Faktor in Betracht. - Wohl nicht mit
Unrecht nennt man die Gegenwart das Zeitalter der Volkswirtschaft,
und wir muessen, wenn auch in den knappsten Umrissen, zeigen, wie
existenzbedrohend die moderne Kultur nicht nur im Gegensatze zur
antiken, sondern auch zur mittelalterlichen unserm Geschlechte
geworden. Die Fortschritte der Industrie, die Anwendung der
Maschinen und Dampfkraft hat die weibliche Arbeit, die Handarbeit
der Frau ueberfluessig gemacht. So wenig poetisch es auch klingen
mag, es muss gesagt sein: Der Mann heiratete sonst in seiner Frau
eine Gehilfin, die durch ihre Arbeit nicht nur das Haus
verschoente, sondern es mit erhielt. Um es volkswirtschaftlich
auszudruecken: "Die Aeusserung der produktiven Arbeitskraft ist den
Frauen im Hause genommen."
Haben wir den Keim der Frauenfrage in der groessern gemuetlichen und
geistigen Bildung zu einer sich selbst bestimmenden Persoenlichkeit
gefunden, so ist dieser Keim maechtig zur Entfaltung gelangt durch
die einseitige Art dieser Bildung, die, weit entfernt die Mittel
zur Selbstaendigkeit zu bieten, die Gefahr der Brotlosigkeit
vermehrte. Die Handarbeit wurde zur Spielerei; man verfeinerte so
lange, bis man zu der Meinung kam, _die Frau sei zu einer
wirklichen Arbeit von Natur aus gar nicht bestimmt_. Das Wort: "Im
Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen" beziehe sich
nicht auf die Frau.
Und nicht nur die Frauen, auch Maenner und wohlwollende,
einsichtige Maenner halten ein Ideal von Weiblichkeit fest, das
sich leider durch eine einseitige Richtung unseres dichtenden
Volksgeistes unserer bemaechtigt hatte und in der sogenannten
romantischen Periode seinen Hoehepunkt erreichte. Wie soll man es
sich sonst erklaeren, dass Frauen die Freiheit in bezug auf ihre
Persoenlichkeit soweit ausdehnen koennen, _dass sie in geselligen
Zerstreuungen, in dilettantischen Kunstuebungen und Kunstgenuessen,
in der Sorge um ihre Toilette sich vollstaendig ausleben und dabei
doch das befriedigende Gefuehl haben, ihren weiblichen Beruf zu
erfuellen_? Ich nannte die Freiheit des Herzens eine _gefaehrliche_
Freiheit, eine kuehnere Emanzipation als jede andere. _Wie aber
soll man die Emanzipation von der Pflicht der Arbeit nennen?_ Man
fasst ja das Wort "Emanzipation" als gleichbedeutend mit
Selbstaendigkeit, mit dem Rechte der Selbstbestimmung auf, und
diejenigen Frauen, die das Selbstbestimmungsrecht ueber ihre Zeit,
ueber ihre Kraefte fuer den Muessiggang benutzten, waeren nicht
emanzipierte Frauen? Wohl ist es leider keine Erziehung zur
Selbstaendigkeit, aber zur Selbstheit, _zum Egoismus_, wenn die
Jungfrau sich berechtigt glaubt, ihre Zeit zu vertraeumen, zu
verspielen, zu vertanzen, zu verputzen? Wenn sie fuer den Schein
erzogen, dem Manne gegenueber auf ihren Schein besteht und es als
schuldigen Tribut fuer ihre Weiblichkeit fordert, ihr die Mittel zu
solch' muessigem Traum- und Genussleben zu verschaffen?
Bedenkt man diese Tatsache recht: von der einen Seite die
Wertlosigkeit der sonst so wertvollen wirtschaftlichen Arbeiten,
von der anderen Seite aber die gesteigerten Ansprueche, die gerade
unsere Kultur mit ihrem gesteigerten Kunstfleiss erzeugt hat, so
wird man sich nicht wundern, _dass die Ehelosigkeit in den hoeheren,
gebildeten Gesellschaftskreisen ueberhand genommen_. - So teile ich
aus einer Statistik vom Jahre 1864, also vor den beiden letzten
grossen Kriegen folgendes Verhaeltnis mit: In Preussen betrug damals
die Zahl der unverheirateten Maedchen im Alter von ueber 16 Jahren
1 827 441; es scheint allerdings, als ob ein Alter ueber 16 Jahre
keinen Massstab bietet, da es ja die Heiratsmoeglichkeit in sich
schliesst. Wenn aber in Preussen die Zahl der unverheirateten Maenner
im Alter von ueber 24 Jahren nur 976 000 betrug, so ist fuer die
Million achtmalhunderttausend Maedchen kaum die Haelfte der
Ehestandskandidaten vorhanden.
In welchem Lichte muss diesen statistischen Zahlen, diesen
unleugbaren Tatsachen gegenueber, die Meinung sich befinden, die in
hochtoenenden Worten so oft in die Welt hinausgerufen wird: "Die
Bestimmung des Maedchens ist die, zu heiraten; ihre Lebensaufgabe
beziehe sich auf den Kreis ihrer Familie, ihres Hauses." Nochmals
sei es wiederholt: Wenn die alten Kulturvoelker diese Anschauung
festhielten, so war sie in der Natur ihrer Verhaeltnisse begruendet,
fuer unsere Kulturverhaeltnisse klingt sie wie eine bittere Ironie.
Noch dunkler und trueber fast sind die Schatten, die unsere Kultur
begleiten, wenn wir den Blick auf die verwitweten Frauen richten.
Hier zeigen sich in Ruecksicht auf die Lebensdauer der beiden
Geschlechter ganz merkwuerdige Unterschiede. Unsere moderne Kultur
verbraucht ein gut Teil maennlicher Arbeitskraft. Das Militaerwesen,
das Maschinenwesen mit den gesteigerten Anspruechen an
Menschenkraft vernichtet viele Maenner in der Bluete der Jahre. Ich
entnehme auch die folgenden Notizen einer Statistik aus dem Jahre
1864, weil ich die Kriegsjahre mit ihren Folgen mir lieber als
Ausnahmezustaende denken will; also 1864 gab es in Preussen rund
700 000 Witwen und dagegen 259 400 Witwer, in Leipzig allein gab
es damals 5059 Witwen und 1098 Witwer. Interessant ist folgende
Tatsache, die ich vor einigen Jahren aus Preussen verzeichnet fand:
Von dem Geschlechte, ueber welches die Stuerme der ersten
franzoesischen Revolution brausten, sind 160 Maenner am Leben,
dagegen 307 Frauen. Im Jahre 1871 lebten 8 Frauen im Alter von
beinahe 100 Jahren und nur 1 Mann. - Vom 50. Jahre tritt die
Erscheinung auf, dass die Sterblichkeit der Maenner groesser ist als
die der Frauen, und so gestaltet sich die spaetere und gewiss die
schwerere Haelfte des Lebens sehr zu Ungunsten des weiblichen
Geschlechts, und die Statistik mit ihren trockenen Zahlen sagt uns
nichts anderes, als unser Dichter Jean Paul: "Das Weib vereinsamt
mit den zunehmenden Jahren". Und nicht nur der Tod, auch das Leben
raubt der Frau frueher als dem Manne den betrueglichen und doch oft
erheiternden Schein des Daseins. Wie viele Hilfsquellen findet der
einsame Mann ausserhalb des Hauses, wie wenige die alternde,
einsame Frau!
Auch hier ist es Doppelbild der geistigen und materiellen Not, das
uns entgegenstarrt, erzeugt durch die unausbleiblichen Folgen
einer Kulturentwicklung, die den Einzelnen auf sich selbst
gestellt, und _die ganze Haelfte des Menschengeschlechts nicht mit
den Mitteln ausruestete, die zur Selbstaendigkeit gehoeren_. Denn ist
es noetig, das Bild des materiellen Elends, der quaelenden Sorge um
des Lebens Notdurft, das uns so oft gerade in den Witwen
entgegentritt, zu entrollen?
Wenn wir die Schatten in Umrissen zeichnen, die unsere Frage als
eine Kulturfrage erscheinen lassen, so muessen wir, so schwer es
uns auch faellt, auf die unheimlichste Gestalt unser Augenmerk
richten, die namentlich in grossen Staedten ein nicht nur
gespenstisches, sondern offenes Wesen treibt. Ich werde hier keine
Zahlen nennen, ich vermag es nicht, deutlich zu sprechen, und doch
muss ich darauf hindeuten, als den wundesten Punkt unserer
Kulturzustaende: Neben den einsamen Maedchen, die in kuemmerlicher
Weise ihren Lebensunterhalt gewinnen, neben den bleichen,
kummervollen Witwen gibt es noch andere Gestalten: Sie sehen nicht
bleich aus, weil die Schminke den Moder bedeckt, sie schleichen
nicht duerftig und kummervoll einher, weil Seidengewaender das Elend
verhuellen, aber sie werfen den dunkelsten Schatten auf unsere
lichtvolle Kultur. Der Genius der Menschheit wendet sich erroetend
von ihnen ab. Duerfen wir uns aber abwenden, wenn wir bedenken, dass
es eine bestaetigte Tatsache ist: "_Der groesste Teil dieses
elendesten Elends stammt aus materieller Not und schlechter
Erziehung._"
Betrachten wir die Schaeden, die Krankheiten, die Auswuechse an dem
so stattlich prangenden Baum unserer Kultur, so sind wir wohl
berechtigt zu sagen: Es ist hohe Zeit, Hand anzulegen, es ist hohe
Zeit, sich Klarheit ueber die Verhaeltnisse zu verschaffen. Es ist
fuer unser Geschlecht die Zeit gekommen, in der wir einsehen, dass
wir den Schein einer Freiheit, das Spielen mit Empfindungen
aufgeben muessen. _Wir sind in Uebereinstimmung mit unserem
Schoepfer, mit unserem Gewissen, mit uns selber, wenn wir das
Urrecht jedes Geschoepfes, das Recht auf Existenz fuer uns in
Anspruch nehmen._ Jedem Wesen hat die guetige Natur die Mittel zu
seiner Existenz gegeben - und uns sollten sie versagt sein?
Gebraucht jedes Naturwesen seine Kraefte zu seiner Selbsterhaltung,
so ist das Recht auf _menschenwuerdige_ Existenz gewiss das Urrecht
jedes in _Gottes Ebenbilde_ geschaffenen Wesens. _Menschenwuerdig
ist es aber, die Kraefte, die wir besitzen, zu entwickeln, zu
gebrauchen_, nicht nur um unsertwillen, um unserer Mitmenschen
willen, um der Gesamtheit willen.
Wir wollen die gesunden Kraefte des Volkes in unsern Toechtern
entwickeln, wir wollen ihnen Gelegenheit zur Entfaltung ihrer
geistig sittlichen Anlagen geben und zwar allen, nicht nur den
Armen, auch den Wohlhabenden; denn auf dem Gebiete geistiger
Arbeit ist der Gebende so reich und so arm wie der Empfangende,
hier sind alle gleich beduerftig."
Die _Loesung der Frauenfrage_ ist fuer Henriette Goldschmidt - hier weiss sie
sich eins mit allen grossen Fuehrerinnen der Frauenbewegung - im Grunde nur
moeglich _durch gruendliche Reform der gesamten Frauenbildung_. Es war daher
kein Zufall, sondern es lag in der Natur der Sache, dass damals fast alle
grossen Frauentagungen beschlossen, "anstatt mit der Fassung von
Resolutionen, mit der _Gruendung eines Frauenbildungsvereins_, der es fuer
seine vornehmste und erste Aufgabe hielt (in der betreffenden Stadt),
_Fortbildungsschulen fuer Maedchen_ zu errichten." Jeder, der die
Maedchenschulverhaeltnisse der damaligen Zeit einigermassen kennt, wird
wissen, wie notwendig das war. Es gab damals ausser der Volksschule und der
meist in Privathaenden ruhenden sogenannten hoeheren Toechterschule nur noch
eine einzige Bildungsstaette, das war das Lehrerinnenseminar.
Also eine ungeheure Aufgabe galt es - und gilt es noch heute - zu loesen:
_die Schaffung eines_ dem innersten Wesen des weiblichen Geschlechts
adaequaten und doch vielgestaltigen, in allen seinen Teilen zu
wirtschaftlicher Selbstaendigkeit bzw. zu fruchtbarer Mitarbeit an unserer
Kultur fuehrenden _Frauenbildungswesens_. Vieler Jahrhunderte hatte es
bedurft, um das Maennerbildungswesen zu seiner jetzigen Hoehe zu bringen.
Wenn naturgemaess von diesen Einrichtungen auch vieles ohne weiteres der
Frauenbildung dienstbar gemacht werden konnte, so war damit doch das
letzte und feinste noch nicht erreicht, was Henriette Goldschmidt
vorschwebte: _die Bereicherung unserer Kultur durch die Entfaltung der
tiefsten spezifisch weiblichen Seelenkraefte_.
Aber mochte das Ziel auch noch so fern sein! Henriette Goldschmidt behielt
es fest im Auge, und so konnte sie denn ihre oben zitierte Rede in
Hannover mit den ruehrend-bescheidenen und zugleich
zuversichtlich-trotzigen Worten schliessen - die zugleich ein wundervolles
Bild ihrer klaren und starken Seele entrollen:
"_Der Kraft des schoepferischen Tuns bewusst, mit Demut und Hingebung der
Stimme des Geistes lauschend, die durch die Jahrtausende toent, handelnd
und gehorchend, so vollzog sich und so vollzieht sich der ewige Prozess des
Lebens._ Und innerhalb dieses Prozesses stehe auch fortan - ihre Aufgabe
bewusstvoll als eine Kulturaufgabe fuer unser Menschengeschlecht erfassend -
*die Frau*!"
b) Friedrich Froebel.
Neben der Frauenbewegung war es Friedrich Froebel, der dem Denken und
Wollen Henriette Goldschmidts die entscheidende Richtung gab. -
Musste Henriette Goldschmidt dadurch nicht innerlich zerrissen, nach zwei
ganz verschiedenen Richtungen hingelenkt werden? Nein! Im Gegenteil, beide
verschmolzen in ihr zu einer wundervollen Einheit. Nur dadurch wurde
Henriette Goldschmidt das, was sie uns jetzt ist, dass einesteils das
Bildungs-Problem der Frauenbewegung, die Frauensehnsucht ihrer Zeit in
ganzer Staerke in ihr lebendig war und dass sie andernteils in Froebels Ideen
die Loesung des Problems, die Erfuellung dieser Sehnsucht fand.
Friedrich Froebel war nicht nur der Gruender der Kindergaerten, als den ihn
die Welt fast ausschliesslich kennt, sondern er war ein Paedagog ganz grossen
Stils, ein Kulturpaedagog ersten Ranges. Die meisten Menschen denken bei
dem Wort "Paedagog" immer nur an "Lehrer", und sie meinen, ein "grosser
Paedagog" sei ein Mann, der einige neue Methoden ersonnen hat, durch deren
Anwendung man den Kindern zahlreichere Kenntnisse vermitteln oder ihnen
mindestens das Lernen erleichtern kann. Von solchem Schlag war Froebel
nicht. Sein Blick war auf Hoeheres gerichtet.
_Der Menschheit und ihrer Entfaltung galt all sein Sinnen._ Unter
Menschheit ist aber hier nicht die Gesamtheit der lebenden Menschen zu
verstehen, sondern es heisst hier soviel wie Menschentum. Es ist das
Geistige, das im Menschengeschlechte lebt und schafft, das in ihm sich
auswirkt. Es sind die spezifisch menschlichen Kraefte und Faehigkeiten, die
im Unterschied zu allen anderen Kreaturen gerade dem Menschen eigen sind.
Es ist das, was allen Menschen gemeinsam ist und seit Jahrtausenden
gemeinsam war.
Es draengt nach Darstellung, nach Gestaltung, nach Objektivierung. Alles
Menschentum, alle Menschenleistung ist eine Aeusserung dieses Geistigen.
Sitte und Recht, Kunst und Wissenschaft, Technik und Industrie, kurz
alles, was wir Kultur nennen, ist dieser Quelle entsprungen. Die
_Menschheit_ ist Ursprung und Schoepfer der _Kultur_ - wie die _Gottheit_
Ursprung und Schoepfer der _Natur_ und der _Menschheit_ ist. Menschheit und
Kultur verhalten sich zueinander wie Idee und Verwirklichung.
Der tiefste Wesenszug der Gottheit und damit auch der Menschheit ist der
_Schoepferwille_ und die _Schoepferkraft_, der Drang und die Faehigkeit, sich
(d. h. Geistiges) im Stofflichen, im Materiellen darzustellen, sich
gleichsam zu objektivieren, der formlosen Masse _Gestalt_ zu geben. Stoff
an sich ist formlos. Erst durch die Verbindung des Geistigen mit
Stofflichem entsteht die Form. Materie sich selbst ueberlassen, ist Chaos,
erst durch die Verbindung mit dem goettlichen Geist wird sie zum Kosmos.
Je reiner und unverletzter sich das Geistige im Stofflichen darstellen
kann, um so vollkommener wird das Werk. Durch das Gestalten, durch das
Ringen mit der Materie entwickelt sich das Geistige immer hoeher. "Alles
Innere wird von dem Innern an dem Aeussern und durch das Aeussere erkannt. Das
Wesen, der Geist, das Goettliche der Dinge und des Menschen, wird erkannt
an seinen, an ihren Aeusserungen" (Froebel).
Die Entwicklung der Menschheit haengt also davon ab, dass sie sich
_ungehemmt_ und _frei_ entfalten, darstellen, objektivieren kann.
Dazu gehoert dreierlei:
_Erstens_ muss sie sich in ihrem innersten Wesen _rein_ erhalten. Das
geschieht, wenn sie sich stets ihres goettlichen Ursprungs bewusst bleibt.
Darum setzt Froebel an den Anfang seiner "Menschenerziehung" (1826) das
tiefsinnige Wort, das Henriette Goldschmidt nie ohne innere Ergriffenheit
zitieren konnte: "In allem ruht, wirkt und herrscht ein ewiges Gesetz. Es
sprach und spricht sich im _Aeussern_, in der Natur, wie im _Innern_, in dem
Geiste, und in dem _beides Einenden_, in dem Leben, immer gleich klar und
gleich bestimmt dem aus, den entweder _von dem Gemuete und Glauben_ aus die
_Notwendigkeit_ erfuellt, durchdringt und belebt, dass es gar nicht anders
sein kann, oder dem, dessen _klares ruhiges Geistesauge_ in dem Aeussern und
durch das Aeussere das Innere schaut, und aus dem Wesen des Innern das
Aeussere mit Notwendigkeit und Sicherheit _hervorgehen sieht_. Diesem
allwaltenden Gesetze liegt notwendig eine allwirkende, sich selbst klare,
lebendige, sich selbst wissende, darum ewig seiende Einheit zu Grunde.
Dieses wird auf gleiche Weise wieder so wie sie - die Einheit selbst -
entweder durch _Glauben_ oder durch Schauen lebendig, gleich er- und
umfassend erkannt, so dass sie auch von einem still achtsamen menschlichen
Gemuete, von einem besonnenen klaren menschlichen Geiste von jeher sicher
erkannt ward und immer davon erkannt werden wird.
Diese Einheit ist Gott.
Alles ist hervorgegangen aus dem Goettlichen, aus Gott, und durch das
Goettliche, durch Gott einzig bedingt; in Gott ist der einzige Grund aller
Dinge.
In allem ruht, wirkt, herrscht Goettliches, Gott.
Alles ruht, lebt, besteht in dem Goettlichen, in Gott und durch dasselbe,
durch Gott.
Alle Dinge sind nur dadurch, dass Goettliches in ihnen wirkt.
Das in jedem Dinge wirkende Goettliche ist das _Wesen jedes Dinges_.
Die _Bestimmung_ und der _Beruf aller Dinge_ ist: ihr Wesen, so ihr
Goettliches, und so das Goettliche an sich entwickelnd darzustellen, Gott am
Aeusserlichen und durch Vergaengliches kundzutun, zu offenbaren." -
_Zweitens_ muss sich die Menschheit dieser ihrer Bestimmung _bewusst_
werden. Darin erblickt Froebel die besondere Bestimmung, den besonderen
Beruf des Menschlichen. Die uebrigen Geschoepfe entfalten ihr Wesen nur
einem dunklen Drange folgend, der Mensch soll es mit Bewusstsein tun.
Dadurch erhebt er sich ueber alle anderen Kreaturen. Dadurch naehert er sich
der Gottheit.
_Drittens_ braucht die Menschheit, um sich ungehemmt und frei entfalten zu
koennen: Stoff, Gelegenheit, Moeglichkeit zur _Betaetigung_. Das Bewusstsein
ihres goettlichen Ursprungs und das Erkennen ihrer Bestimmung allein genuegt
noch nicht zur Hoeherbildung. Das allein ist noch keine Entfaltung und
Entwicklung. Arbeit muss dazukommen, _Arbeit und Schaffen_ am Materiellen,
am "Aeusseren". Dadurch gewinnt die Arbeit bei Froebel einen ganz neuen Sinn.
Sie ist nicht mehr wie im "Alten Testament" _Strafe_ fuer die im Paradies
begangene menschliche Suende ("Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein
Brot essen!"), sie ist auch nicht nur unangenehme _Notwendigkeit zur
Erhaltung des Koerpers_ (wie die meisten Menschen glauben), sondern sie ist
_Mittel zur Entfaltung des Geistigen_. Sie ist der staerkste und
unentbehrlichste _Kulturfaktor_ ueberhaupt. "Erniedrigend ist der Wahn",
hat Froebel daher einmal geschrieben, und Henriette Goldschmidt hat dieses
Wort oft und gern zitiert, darum sei es noch hierher gesetzt,
"erniedrigend ist der Wahn, als arbeite, wirke und schaffe der Mensch nur
darum, seinen Koerper, seine Huelle zu erhalten, sich Brot, Haus und Kleider
zu erwerben; nein - _der Mensch schafft urspruenglich nur darum, damit das
in ihm liegende Geistige, Goettliche sich ausser ihm gestalte_ und er so
sein eigenes goettliches Wesen und das Wesen Gottes erkenne. Das ihm
dadurch kommende Brot, Haus und Kleid ist unbedeutende Zugabe."
Mit diesem weiten Blick tritt nun Froebel _an das Erziehungsproblem heran_.
Erziehung kann ihm - nach dem Vorangegangenen - nichts anderes sein als:
1. Hinlenken des Blickes der Menschen _auf den ewigen Ursprung alles
Seins_ und Pflegen des Gefuehls des inneren Verbundenseins mit dem
Goettlichen,
2. Anregen und Hinfuehren zur _Selbstbesinnung ueber das Wesen und die
Bestimmung des Menschen_, und
3. Anleiten zu schaffendem Gestalten, zu _produktiver Arbeit_.
Das ist Kulturpaedagogik im eigentlichen Sinne; denn sie entfaltet und
staerkt alle schoepferischen menschlichen Kraefte, die die Kultur bauen, die
ueberhaupt erst Kultur moeglich machen.
_Die Menschheit und ihre Entfaltung, die Menschheit und ihre "Darlebung"
in der Kultur, die Steigerung der Menschenkraft, die Erhoehung seiner
Kulturleistung_, das ist das grosse Ziel, das ihm vorschwebt.
Erziehung der Menschheit, nicht des Einzelnen!
Natuerlich muss die praktische Erziehungsarbeit am einzelnen Kinde, am
einzelnen Menschen erfolgen. Aber sie ist nicht Selbstzweck. Es kommt
Froebel nicht darauf an, dass dieses oder jenes Individuum um seiner selbst
(oder um seiner Eltern) willen so oder so entwickelt werde, sondern es
kommt ihm im Grunde nur auf die Pflege des Goettlichen in jedem Wesen,
gleichsam _auf die Menschheit im Menschen_ an. Wenn je ein Paedagog, so
betrachtet Froebel die Erziehungsarbeit _sub specie aeternitatis_.
Am _reinsten_ und noch voellig "unverletzt" tritt uns _die Menschheit im
Kinde_, im kleinen Kinde, entgegen. Die Welt mit ihren Gefahren des
Materiellen hat hier noch keinen Schaden getan. Alles kommt nun darauf an,
dass diese Reinheit und Unverletztheit der Menschheit bewahrt bleibt. Das
kann nur geschehen durch _angemessene bewusste Pflege_. Darum ist die
frueheste Behandlung des Kindes so wichtig. Ist die Menschheit im einzelnen
Individuum erst einmal verdorben und verkuemmert, dann ist es zu spaet. Ein
solches Individuum scheidet dann als Traeger des Geistigen aus. Es wird
seine Bestimmung _nicht_ erfuellen.
Es gilt also _die Menschheit zu pflegen in den Kindern_. Das ist das erste
und wichtigste Stueck der Froebelschen Paedagogik.
Das ist keine Erziehung im landlaeufigen Sinne, keine "bewusste und
planvolle Einwirkung des Muendigen auf den Unmuendigen", sondern es ist eben
nur ein - _Pflegen_.
Das Bild des _Gaertners_ schwebte Froebel dabei vor. Der Gaertner will auch
nicht aus den ihm anvertrauten Pflaenzchen alles Moegliche machen, was er
sich in den Kopf gesetzt hat, sondern er will nur dafuer sorgen, dass jedes
Pflaenzchen seiner Eigenart gemaess sich voll entwickeln und entfalten, dass
es also sein _Wesen_ (d. h. das in ihm wirkende Goettliche) rein und
unverletzt darstellen, "darleben" kann. Alles Schaedliche, das von aussen
diese Entwicklung stoeren koennte, muss er fernhalten, aber er muss den
Pflanzen geben, wessen sie zu ihrer Entwicklung beduerfen. Er muss seine
Schuetzlinge - _pflegen_.
Ganz ebenso - meint Froebel - ist es _in der ersten Erziehung_. Hier gilt
es auch nur, die Kleinen und damit die in ihnen wirkende Menschheit zu
_pflegen_, das kostbare Gut vor Beschaedigung zu hueten, ihm die Moeglichkeit
zu geben, sich rein und unverletzt zu entfalten. Wir brauchen daher fuer
die ersten Lebensjahre der Kleinen noch nicht eigentliche Erzieher und
Erzieherinnen, sondern wir brauchen Kinderpfleger und Kinderpflegerinnen -
oder wie Froebel seit 1840 diese so treffend nannte: _Kindergaertnerinnen_.
Eine Kindergaertnerin ist keine Erzieherin im ueblichen Sinne, sie ist nur
eine Hueterin und Pflegerin der "Menschheit in der Kindheit". Sie bedarf
keines strengen paedagogischen Willens (wie der spaetere eigentliche
Erzieher), sondern sie bedarf nur jener feinen Gaertnergesinnung. Die erste
Erziehung soll ja nach Froebel nicht eigentlich "vorschreibend, bestimmend
und eingreifend" sein, sondern "nachgehend, nur behuetend und schuetzend."
Denn "das Wirken des Goettlichen ist in seiner Ungestoertheit notwendig gut,
muss gut, kann gar nicht anders als gut sein. Diese Notwendigkeit muss
voraussetzen, dass der noch junge, gleichsam erst werdende Mensch, wenn
auch noch unbewusst gleich einem Naturprodukt, doch bestimmt und sicher das
Beste an sich und fuer sich will, und zwar noch ueberdies in einer ihm ganz
angemessenen Form, welche darzustellen er auch alle Anlagen, Kraefte und
Mittel in sich fuehlt. So eilt die junge Ente nach dem Teiche und auf und
in das Wasser, waehrend das junge Huehnchen in der Erde scharrt und die
junge Schwalbe im Fluge ihr Futter faengt und fast nie die Erde beruehrt.
Pflanzen und Tieren, jungen Pflanzen und jungen Tieren geben wir Raum und
Zeit, wissend, dass sie sich dann den in ihnen, in jedem Einzelnen
wirkenden Gesetzen gemaess schoen entfalten und gut wachsen; jungen Tieren
und jungen Pflanzen laesst man Ruhe und sucht gewaltsam eingreifende
Einwirkungen auf sie zu vermeiden, wissend, dass das Gegenteil ihre reine
Entfaltung und gesunde Entwicklung stoere; aber der junge Mensch ist dem
Menschen ein Wachsstueck, ein Tonklumpen, aus dem er kneten kann was er
will." Darum mahnt Froebel: "Menschen, die ihr Garten und Feld, Wiesen und
Hain durchwandelt, warum oeffnet ihr euren Sinn nicht, das zu hoeren, was
die Natur in stummer Sprache euch lehrt: sehet an die Pflanze, die ihr
Unkraut nennt und die in Druck und Zwang herauf gewachsen, kaum innere
Gesetzmaessigkeit ahnen laesst, sehet sie im freien Raume, auf Feld und im
Beet, und schaut, welch eine Gesetzmaessigkeit, welch ein reines inneres, in
allen Teilen und Aeusserungen uebereinstimmendes Leben sie zeigt: eine
gestaltete Sonne, ein strahlender Stern der Erde entkeimt. So koennten,
Eltern! eure Kinder, denen ihr fruehe Form und Beruf wider ihre Natur
aufdringt, und die darum in Siechheit und Unnatuerlichkeit um euch wandeln,
auch schoen sich entfaltende und allseitig sich entwickelnde Wesen werden."
Was wir also brauchen fuer unsere Kleinen, ist gleichsam ein _Garten der
Kindheit_, in dem die jungen Geschoepfe heranwachsen koennen, gepflegt und
behuetet von treuen Gaertnerinnen. Was wir brauchen, sind _Kindergaerten_,
d. h. Staetten, in denen unsere Kleinen ihrem innersten Wesen entsprechend
sich entfalten, an denen sie ihr Goettliches - die Menschheit - "darleben"
koennen.
Wie kann das geschehen?
Der tiefste Wesenszug der Gottheit - und daher auch der Menschheit - ist,
wie oben bereits erwaehnt, der _Schoepferwille_, der _Gestaltungsdrang_. Im
fruehen Kindesalter aeussert sich dieser als _Taetigkeits- und
Beschaeftigungstrieb_. Nie wieder im Leben ist dieser Drang nach Bewegung
und Taetigkeit so stark wie in diesen fruehen Jahren. Schon der alte Paedagog
Comenius hatte das erkannt und in seinem "Informatorium der Mutter Schul"
(1632) geschrieben: "Die Kinder tun gern allezeit etwas, denn das junge
Blut kann nicht lange still stehen, und solches ist sehr gut. Darum soll
man es ihnen auch nicht wehren, sondern vielmehr Anlass geben, dass sie
immer etwas zu tun haben. Lass sie Ameislein werden, welche immer
herumkriechen, tragen, schleppen, einlegen, umlegen" usw.
_Die bewusste Pflege dieses staerksten aller kindlichen Triebe, des
Taetigkeits- und Beschaeftigungstriebes_ war fuer Froebel der Anfang wahrer
Menschenerziehung. Er erblickte darin reinste Darlebung der Menschheit in
der Kindheit. "Menschheitspflege und Kindheitspflege," schrieb er einmal
"wohnen in einem Tempel."
Froebel begnuegte sich nun aber nicht damit, die Pflege des
Taetigkeitstriebes zu fordern, sondern er wollte zugleich Wege weisen, wie
der Taetigkeitstrieb gepflegt werden koenne, er wollte den Kindern Material
in die Hand geben, an dem sich ihre inneren und aeusseren Kraefte entfalten
wuerden. So schuf er:
1. seine "_Mutter- und Koselieder_. Dichtung und Bilder zur edlen Pflege
des Kindheitlebens. Ein Familienbuch" (1844). Mit 50 grossen Kupfern von
Friedrich Unger(3);
2. seine _Gabenreihe_ (Ball - Kugel, Wuerfel, Walze - Baukaesten) mit den
dazu gehoerigen "Anleitungen" (fuer die Erwachsenen);
3. seine _zahlreichen sonstigen Beschaeftigungen_ (Legetaefelchen, Flecht-
und Faltarbeiten, Ausstech- und Ausnaehblaetter u. dgl.).
Es wuerde zu weit fuehren, im einzelnen zu zeigen, wie Froebel sich diese
neue Kindheitpflege in Familie und Kindergarten dachte. Auf die einzelnen
Massnahmen kam es ihm dabei auch gar nicht zu sehr an, als vielmehr auf den
_Geist_, in dem das Ganze aufgefasst und ausgeuebt wurde.
Und da setzte er seine ganze Hoffnung _auf die Frauenwelt_.
In dem _muetterlichen Instinkt_, in dem angeborenen _Pflegesinn_ des Weibes
sah er die gott- und naturgewollte Grundlage echter Kindheitpflege.
"Kinderleben und Kinderliebe, Kinderleben und Frauensinn," schreibt er
einmal, "ueberhaupt Kindheitpflege und weibliches Gemuet trennt nur der
Verstand. Sie sind ihrem Wesen nach eins. Denn Gott hat das leibliche wie
das geistige Fortbestehen des Menschengeschlechts durch die Kindheit in
das Frauenherz und -gemuet, in den echten Frauensinn gelegt."
Freilich, diese _Einigung von Kindheit und Frauenleben_, die frueher wohl
bestand, ist durch die Riesengewalt aeusserer Verhaeltnisse und die
wirtschaftlichen Noete der Zeit vielfach verloren gegangen. Weil sie sich
ihres innersten Wesens, ihrer eigentlichen Bestimmung nicht _bewusst_
waren, darum haben die Frauen diese Einigung viel zu leicht aufgegeben.
Aber die unnatuerliche Trennung zwischen Frauenleben und Kindheit, zwischen
Weiblichkeit und Kinderleben hat dazu gefuehrt, dass allmaehlich das
_Bewusstsein der Zusammengehoerigkeit von "Kinderleben und Frauensinn_"
erwacht ist und das _Streben_, diese natuerliche Einheit wieder
herzustellen. "Der ersten Kindheitpflege muss das Frauenleben wieder ganz
zugewandt werden; Frauenleben und Kindheitpflege muss allgemein wieder
geeint, weibliches Gemuet und sinnige Kinderbeachtung muss wieder ein
Einiges werden." (Froebel.)
Was das weibliche Geschlecht bisher rein _instinktiv_ getan, nur seinem
Naturtriebe folgend - also im Grunde _passiv_ -, das soll und wird es in
Zukunft bewusst ausueben, aus hoeherer Einsicht, aus eigenem Willen - also im
Grunde _aktiv_. Dadurch wird das bisherige natuerliche Tun der Frau zur
Kulturleistung. Denn alles natuerliche Tun beruht auf dem Instinkt, alle
Kulturleistung aber auf dem Bewusstsein und dem Willen des Menschen.
Diese Kulturleistung des weiblichen Geschlechts ist aber nur moeglich, wenn
es _zuvor_ seine "menschheitspflegende Bestimmung" erkannt, d. h. wenn es
im einzelnen Kinde nicht mehr _nur das seelisch-koerperliche Einzelwesen_
erblickt - was das Kind natuerlich zunaechst ist - sondern darueber hinaus in
jedem Kinde _das ewig Geistige, die Mensch__heit_ (in dem oben dargelegten
Sinne) und damit _Goettliches_ ahnt.
Damit aendert sich die ganze Stellung der Frau zum _Kinde_ und zur
_Menschheit_.
Sie ist nicht nur mehr _Hueterin eines Einzelgeschoepfes_, sondern
_Priesterin des Ewigen_: sie pflegt Unvergaengliches - Goettliches - in
ihrem Kinde. Der natuerliche _Pflegesinn des Weibes_ - der tiefste
Wesenszug ihres Geschlechts - erhaelt dadurch eine viel umfassendere
Bedeutung, ein viel hoeheres Ziel. Er wird gleichsam zu einer
_Kulturnotwendigkeit_.
Das hatte Henriette Goldschmidt klar erkannt: Wenn die Frauenbewegung
_kulturfoerdernd in grossem Stil_ werden will, muss sie diese ihre tiefste
Kulturaufgabe erkennen und in Angriff nehmen. Hier sind die starken
Wurzeln ihrer Kraft; denn hier steht sie auf ureigenstem Boden. Hier ist
_dem weiblichen Geschlecht als Ganzem_ eine Moeglichkeit zur
Hoeherentwicklung "_von seinem Wesen aus_" gegeben. Moegen einzelne begabte
Frauen auch auf anderen Kulturgebieten Grosses leisten, das weibliche
Geschlecht als Ganzes wird nur in der Auswirkung und Vergeistigung seiner
muetterlichen Instinkte, seines angeborenen Pflegesinns Eigenartiges und
den Kulturtaten des maennlichen Geschlechts (wieder als Ganzes genommen)
_Gleichwertiges_ schaffen koennen.
Die _Pflege der Menschheit in der Kindheit_, also das Erhalten und
Behueten, das Ueben und Starkmachen der eigentlichen _kulturschaffenden
Kraft_ ist sowohl vom Standpunkt der Menschheit als auch vom Standpunkt
der Kultur unentbehrlich und daher jeder anderen Kulturarbeit
_gleichwertig_.
In diesem tiefen und umfassenden Sinne muss das Lieblingswort Henriette
Goldschmidts verstanden werden, das sie Froebel entnommen hat und von dem
sie wuenschte, dass es in ihrer Anstalt unter ihre Bueste gesetzt wuerde, da
es besser als jedes andere zum Ausdruck braechte, was sie erkannt und
gewollt habe, das Wort:
"_Es ist das Charakteristische der Zeit, das weibliche Geschlecht seiner
instinktiven passiven Taetigkeit - als Glied der Menschheit - zu entheben
und es von seinem Wesen aus, und um seiner menschheitpflegenden Bestimmung
willen, ganz zu derselben Hoehe wie das maennliche Geschlecht zu erheben._"
Aus diesem Geist, aus diesem Glauben heraus ist auch das andere Wort
entstanden, das Henriette Goldschmidt einmal in einer gluecklichen Stunde
gepraegt und dann oft und gern wiederholt hat, das Wort, das fast schon zum
"gefluegelten" geworden ist:
"_Der Erziehungsberuf ist der Kulturberuf der Frau._"
Auch dieses Wort weist in die Zukunft.
Viele verstehen es so, als habe Henriette Goldschmidt einfach konstatieren
wollen: Der Erziehungsberuf sei der Kulturberuf der Frau. Nein! Der
Erziehungsberuf, wie er von den allermeisten Menschen jetzt noch aufgefasst
und geuebt wird, ist noch _kein_ Kulturberuf. Er ist noch eine
"instinktive, passive Taetigkeit." - Aber er soll ein Kulturberuf, er wird
_der_ Kulturberuf der Frau werden.
Henriette Goldschmidt hat dieses Wort zunaechst den suchenden und
gebildeten Frauen zugerufen, die ihre Kraefte in den Dienst der Kultur
stellen moechten, ohne bereits ein klares Ziel fuer ihre Arbeit zu haben.
Denen will sie mit diesen. Wort sagen: Sucht das Ziel nicht draussen,
sondern _in euch selbst_! Erkennt die menschheitpflegende Bestimmung des
weiblichen Geschlechts und weiht eure Kraefte einer Arbeit, die euerm
innersten Wesen gerecht wird! Die Frau kann "als Glied der Menschheit"
nichts Hoeheres vollbringen, als ihren Erziehungs- und Pflegeberuf als
Kulturberuf aufzufassen und auszuueben.
Freilich, die Frauenwelt wird und kann diesen Weg nur gehen, wenn ihre
Fuehrerinnen sich zu diesem Ziel bekennen und wenn sie die _Bildung des
weiblichen Geschlechts_ in diesem Sinne gestalten. Friedrich Froebel
bezeichnete am Ende seines Lebens seinen fuer Marienthal entworfenem Plan
einer in dieser Art gedachten Bildungsanstalt fuer das weibliche Geschlecht
_als die letzte Konsequenz seines Grundgedankens_.
Die Errichtung einer solchen Bildungsstaette war auch fuer Henriette
Goldschmidt _die letzte Konsequenz ihrer inneren Entwicklung, die Synthese
ihrer aus der deutschen Frauenbewegung und aus der Froebelschen Paedagogik
entwickelten Ideen_.
2. Ihr Wirken fuer die Kindergartensache.
a) Petition an die deutschen Regierungen.
Fast 50 Jahre hat Henriette Goldschmidt im Dienste der Kindergartensache
gestanden. Sie hat zahllose Vortraege ueber die Idee des Kindergartens
gehalten, hat jahrzehntelang intensiv im "Deutschen Froebelverband"
mitgearbeitet, hat in Leipzig vier grosse Volkskindergaerten geschaffen, die
noch heute als staedtische Anstalten bluehen. Aber ueber all das soll hier
nicht ausfuehrlich gesprochen werden. So verdienstvoll es natuerlich war, es
unterschied sich doch nicht wesentlich von der gleichen Arbeit
geistesverwandter Frauen in anderen Staedten. Hier sei nur von dem
berichtet, was sie _mehr geleistet_ hat als die andern.
Da ist in erster Linie die Petition des "Bundes deutscher Frauenvereine"
an die deutschen Regierungen zu nennen. Pfingsten 1897 hatte Henriette
Goldschmidt auf der Generalversammlung des Bundes den Antrag gestellt,
eine Petition an die deutschen Regierungen wegen "Einordnung der
Froebelschen Erziehungs- und Bildungsanstalten (Kindergaerten und Seminare
fuer Kindergaertnerinnen) in das Schulwesen der Gemeinden und des Staates"
zu richten. Der Antrag fand die Zustimmung des Bundes, und die
"Erziehungskommission" wurde beauftragt, die Petition auszuarbeiten. Die
eigentliche Arbeit hatte Henriette Goldschmidt zu leisten, die die
Vorsitzende dieser Erziehungskommission war. Aus dem Briefwechsel
Henriette Goldschmidts mit ihrer Freundin, Frau Jenny Asch in Breslau(4),
wissen wir Naeheres ueber die Schwierigkeiten, unter denen diese Petition
zustande kam: Einige Mitglieder der Kommission standen der ganzen Sache
kuehl gegenueber, andere wohnten auswaerts (z. B. Eleonore Heerwart in
Eisenach, Martha Back in Frankfurt a. M.), der Vorsitzende des "Deutschen
Froebelverbandes" (Prof. Dr. Eugen Pappenheim in Berlin) war ueberhaupt
gegen die Eingabe. Schliesslich blieb Henriette Goldschmidt nichts anderes
uebrig, als die Petition selbst auszuarbeiten und dann den uebrigen
Mitgliedern der Kommission zur Billigung zuzuschicken. Im November 1898
sandte dann der Vorstand des "Bundes deutscher Frauenvereine" die Petition
an die Regierungen ab.
Henriette Goldschmidt hatte auf einen raschen Erfolg dieser Eingabe kaum
allzu grosse Hoffnungen gesetzt. Sie wollte damit nur die ganze
Angelegenheit ueberhaupt in Fluss bringen. Dass sich nicht alles, was sie
darin forderte, in kurzer Zeit werde verwirklichen lassen, das wusste sie.
Wenn die Regierungen nur ueberhaupt anfingen, der Kindergartensache naeher
zu treten, das genuegte zunaechst schon. Zehn Jahre spaeter zeigten sich die
ersten Spuren: 1908 im Lehrplan der preussischen Frauenschulen, 1911 in den
Pruefungsbestimmungen fuer Kindergaertnerinnen und Jugendleiterinnen. Wenn
naturgemaess zwischen 1898 und 1908 auch noch andere massgebende
Persoenlichkeiten in dieser Richtung auf das preussische Kultusministerium
eingewirkt haben moegen, so ist doch die Tatsache nicht zu leugnen, dass
Henriette Goldschmidt _den ersten mutigen Schritt in dieser Sache getan
hat_ und dass daher ihre Petition von 1898 ein _Markstein_ in der
Geschichte des deutschen Kindergartenwesens bleiben wird.
Damit dieses _historisch bedeutsame Schriftstueck_ nicht so schnell der
voelligen Vergessenheit anheimfaellt, sei es nachstehend im Wortlaut
wiedergegeben, zumal es auch in Einzelheiten ueberaus charakteristisch fuer
Henriette Goldschmidt ist:
"Das Gesuch betrifft das fuer unsere Familien- und Volkserziehung
so wichtige Gebiet der _Kindergaerten_ und _Seminare fuer
Kindergaertnerinnen_.
Beide Anstalten verdanken ihr Entstehen bekanntlich dem juengsten
schoepferischen deutschen Paedagogen _Friedrich Froebel_. Auf die
Initiative von Maennern und Frauen (Diesterweg, Frau von
Mahrenholtz-Buelow, Johanna Goldschmidt u. a. m.), die noch
unmittelbar unter dem Einflusse des Meisters standen und von
seinen Ideen begeistert waren, ist die Errichtung von Kindergaerten
und Seminaren zurueckzufuehren.
Dieser selbstlosen Hingabe und opferwilligen Arbeit fuer die
Realisierung des Froebelschen Erziehungswerkes folgte eine
Privattaetigkeit einzelner Personen, die unter eigener
Verantwortlichkeit Kindergaerten und Seminare fuer
Kindergaertnerinnen errichteten, ohne eine andere Kontrolle als die
ihrer eigenen Gewissenhaftigkeit. Die Folge davon ist, dass
Erziehungsstaetten, die sich auf die wichtigsten Lebensalter - auf
die Kindheit beider Geschlechter und auf das jungfraeuliche Alter -
beziehen, den Charakter industrieller Unternehmungen angenommen
haben. _Kindergaerten und Seminare fuer Kindergaertnerinnen
unterliegen bisher dem Gewerbe- und nicht dem Schulgesetze._
Welch eine grosse Schaedigung der Sache dieser Umstand mit sich
fuehrt, das kann hier nicht eroertert werden. Hinweisen wollen wir
darauf, dass Erziehungsstaetten fuer das erste Kindesalter nur einer
_frueheren_, nicht einer _niedrigeren_ Stufe unseres Lebens dienen
als die _Volksschulen_. Wie aber die Errichtung einer Schule ohne
Befaehigungsnachweis unstatthaft ist, so duerfte mit gleichem Rechte
die Gruendung eines Kindergartens ohne Befaehigungsnachweis
unstatthaft sein. Dasselbe, nur in verschaerfter Form, gilt fuer die
Errichtung von _Seminaren fuer Kindergaertnerinnen_.
Diese Anstalten sind bestimmt, Erzieherinnen zu bilden und haben
daher eine Aufgabe zu erfuellen, welche derjenigen der Seminare fuer
Lehrerinnen kaum nachsteht.
Bezieht sich daher unser Gesuch zunaechst darauf, _dass die
genannten Anstalten der Willkuer enthoben und einer behoerdlichen
Kontrolle unterworfen werden_, so beschraenkt es sich nicht darauf.
Es wird im allgemeinen zugegeben, dass die Grundlagen der
Charakterbildung im Kinde geschaffen sind, wenn dasselbe in die
Volksschule eintritt. Die hochwichtige erzieherische Aufgabe,
welche dem vorschulpflichtigen Alter zugewiesen ist, wird zur
Stunde lediglich dem Zufall ueberlassen. - Die weitaus groessere Zahl
der Eltern hat fuer die Loesung derselben entweder keine Zeit oder
kein Verstaendnis, oder keine Neigung. Es erscheint demgemaess
dringend geboten, die Erziehung des heranwachsenden Geschlechtes
im vorschulpflichtigen Alter von Staats wegen im Interesse des
Staates sicherzustellen. Weder Vereine, noch private
Unternehmungen sind imstande, eine Aufgabe zu loesen, die sich auf
die gesamte Bevoelkerung bezieht - sie konnten nur die notwendige
Vorarbeit leisten. - Weil aber die Erziehung der Kinder im
vorschulpflichtigen Lebensalter fuer die Zukunft des
heranwachsenden Geschlechtes, also fuer unser Volk und den Staat,
von hoechster Bedeutung ist, bitten wir eine hohe Regierung,
hochdieselbe wolle durch ein besonderes Gesetz oder durch eine
Novelle zum Schulgesetze die Frage der Kindergaerten einer Regelung
unterziehen, und zwar wolle hochdieselbe in dem erbetenen Gesetze
anordnen, dass innerhalb eines festzustellenden Zeitraumes jede
Gemeinde in Verbindung mit ihrer Volksschule einen oder mehrere
Kindergaerten zu errichten habe, zu dessen Besuche alle Kinder
mindestens zwei Jahre vor ihrem Eintritt in die Volksschule
verpflichtet sind. Diese Kindergaerten bitten wir den staatlichen
Schulaufsichtsbehoerden zu unterstellen.
Auch wenn die hohe Regierung nicht fuer baldigen Erlass eines
derartigen Gesetzes sich entschliessen koennte, wird sich
hochdieselbe nicht verschweigen duerfen, dass die derzeitige
Ausbildung der Kindergaertnerinnen nicht immer der Bedeutung
entspricht, welche die erzieherische Taetigkeit erfordert. Wir
fuehlen uns deshalb verpflichtet, eine hohe Regierung gehorsamst zu
bitten:
Hochdieselbe wolle anordnen, dass _die Seminare fuer
Kindergaertnerinnen_ der staatlichen Pruefung unterstellt und dass
die Abgangspruefungen der Seminaristinnen vor einer vom Staate
eingesetzten Kommission abgelegt wuerden. Ausserdem ersuchen wir
aber die hohe Regierung, mit der Errichtung staatlicher Anstalten
fuer die Ausbildung von Kindergaertnerinnen vorgehen zu wollen.
Angesichts der Uebelstaende, welche auf diesem so hochwichtigen
Gebiete vorhanden, bitten wir ferner eine hohe Regierung:
Hochdieselbe wolle guetigst anordnen, dass nach einem gewissen
Zeitraum, dessen Dauer dieselbe bestimmen wolle, die Lehrerinnen
an Kindergaerten vor einer staatlichen Kommission ihre Pruefung
bestanden haben muessen.
So lange, als die hohe Regierung noch nicht die Errichtung von
Kindergaerten im Anschluss an die Volksschule durch die Gemeinden
angeordnet hat, bitten wir:
Eine hohe Regierung wolle die bestehenden privaten, von Vereinen,
sonstigen Korporationen oder Einzelnen errichteten und erhaltenen
Kindergaerten unter die Aufsicht der staatlichen Behoerde stellen.
Schliesslich geben wir uns der Hoffnung hin, dass nach der
Einfuehrung der gesetzlich angeordneten Gemeinde-Kindergaerten die
Leiterinnen derselben, ebenso wie die Lehrerinnen das Recht auf
Pensionsbezug erlangen.
Wir glauben einer Frage des Staatswohles von hoher Bedeutung zu
entsprechen, wenn wir uns gestatten, die Aufmerksamkeit einer
hohen Regierung fuer dieselbe zu erbitten. Es handelt sich um eine
sorgfaeltige naturgemaesse Erziehung grosser Massen von Kindern zu
einer Zeit, die fuer die Richtung des Gemuetslebens, fuer die
Charakterbildung ausschlaggebend ist.
Wir gestatten uns, auf die Begleitschrift zu verweisen, welche die
wesentlichsten Punkte der Begruendung der Petition enthaelt und
geben uns der Hoffnung hin:
Eine hohe Regierung werde unser Gesuch einer wohlwollenden Pruefung
unterziehen und uns guetige Genehmigung unserer Bitten zuteil
werden lassen.
Leipzig, November 1898.
*Der Vorstand des Bundes deutscher Frauenvereine.*
_Auguste Schmidt_, Vorsitzende.
_Henriette Goldschmidt_,
Vorsitzende der Erziehungskommission des
Bundes deutscher Frauenvereine."
Ein reiches Programm! Jeder einzelne Punkt desselben beweist, wie
gruendlich Henriette Goldschmidt die Kindergartenarbeit kannte, wie sehr
die Missstaende auf diesem Gebiet sie schmerzten und wie sie auf Besserung
sann. In der dieser Petition beigefuegten "_Begleitschrift_" geht sie noch
ausfuehrlicher auf alle diese Einzelheiten ein. Es wuerde zu weit fuehren,
auch den Inhalt dieser Begleitschrift hier wiederzugeben.
Nur darauf sei noch ausdruecklich hingewiesen: Fuer Henriette Goldschmidt
ist der Kindergarten - wie uebrigens auch fuer Froebel - _nicht eine
Einrichtung der Not_. Er ist in erster Linie eine _paedagogische Anstalt_.
Die _Kleinkinderbewahranstalten_ Oberlins entstanden aus wirtschaftlichen
und sozialen Notstaenden heraus, der _Kindergarten_ Froebels aber verdankt
seine Existenz einer paedagogischen Idee (vgl. S. 93 ff.). Das darf man nie
aus dem Auge verlieren.
b) Streitschrift gegen K. O. Beetz.
Die Eingabe des "Bundes deutscher Frauenvereine" an die deutschen
Regierungen veranlasste den damaligen Schuldirektor in Gotha _K. O. Beetz_
zur Veroeffentlichung einer Gegenschrift: "_Kindergartenzwang! Ein Weck-
und Mahnruf an Deutschlands Eltern und Lehrer_" (Verlag Emil Behrend in
Wiesbaden 1900). In scharfsinniger und temperamentvoller Weise greift
Beetz in diesem Schriftchen den Kindergarten und die Eingabe des Bundes
an. Man spuert es beim Lesen dieser Broschuere, dass hier nicht nur "irgend
jemand" seine Meinung aeussert, sondern ein Paedagog von ausgepraegter
Eigenart und nicht gewoehnlicher Begabung. Manches in seinen Ausfuehrungen
ist prachtvoll. Das Ganze stilistisch gewandt und glaenzend geschrieben.
Jedenfalls der geistvollste Angriff, der je gegen den Kindergarten gefuehrt
worden ist.
Um so groesser war die _Gefahr_, die von dieser Schrift ausgehen musste. Denn
dass Beetz trotz alles Scharfsinns die Ideen Froebels nicht richtig erkannt
und daher das Wesen des Kindergartens falsch aufgefasst hatte, das konnte
hoechstens ein Kenner, keinesfalls aber das grosse Publikum merken. Es war
daher dringend noetig, dass der Beetzschen Schrift entgegengetreten wurde.
Unbegreiflich ist es, dass dies nicht von der in erster Linie in Frage
kommenden Stelle, vom damaligen Vorstand des "_Deutschen Froebelverbandes_"
sofort geschehen ist.
Da kein andrer Zeit oder Mut fand, den schweren Angriff auf Froebel und
sein Werk abzuwehren, trat nochmals Henriette Goldschmidt auf den Plan.
Und sie schrieb eine Schrift, die in der Geschichte des Kindergartenwesens
stets einen Ehrenplatz einnehmen wird: "_Ist der Kindergarten eine
Erziehungs- oder Zwangsanstalt? Zur Abwehr und Erwiderung auf Herrn K. O.
Beetzs 'Kindergartenzwang'!_"
Mit feinem Spott leitet sie ihre Streitschrift ein: "_Kindergartenzwang!_
Gleich einem Posaunenruf, vor dem die muehsam aufgebauten Froebelschen
Erziehungsstaetten niederstuerzen muessen, ertoent die Stimme des Herrn
Schuldirektor Beetz:
Gefahr ist im Verzuge - Gefahr fuer die Grundvesten der Gesittung, Gefahr
fuer unser Familien- und Volksleben, Gefahr fuer den _Staat_! Alle Mann auf
Deck! Eltern, Lehrer, Staatslenker! Die Kindergaerten vernichten die
Grundlagen jeder menschenwuerdigen Gemeinschaft - sie vernichten das
_Familienleben_!"
Freilich, Herr Beetz ist nicht der erste, der dem Kindergarten solche
gefaehrlichen Dinge zutraut. Der preussische Kultusminister _von Raumer_ sah
in der Zeit der preussischen Reaktion im Kindergarten das gleiche Gespenst
und verbot daher 1851 die Kindergaerten fuer die ganze preussische Monarchie.
Ungefaehr zehn Jahre hat dieses unsinnige Verbot bestanden(5). Dann fiel
es, wie so manche Fessel jener boesen Zeit.
Es wuerde zu weit fuehren, hier das Duell Beetz-Goldschmidt bis ins
Einzelnste - bis auf jeden Hieb und Gegenhieb - zu verfolgen. Nur auf
einige wichtige Punkte sei kurz eingegangen.
_Beetz_ hatte im Hinblick auf Froebels Ideen u. a. ausgefuehrt: "Der
Entwicklungsgang des Menschengeistes gruendet sich auf unveraeusserliche
Naturgesetze, die aus eigner Kraft der Verwirklichung zustreben. Wir
koennen diesen Prozess durch naturgemaesse Eingriffe foerdern, durch
widernatuerliche aufhalten, ueberhasten, schaedigen. Ihm nach Willkuer und
gegen sein Wesen ein Tempo, eine Richtung aufzwingen, ein Ziel stecken zu
wollen ist verkehrt und raecht sich an der Menschheit selbst."
In dieser allgemeinen Fassung zweifellos ein sehr beachtlicher Einwurf!
Schlagfertig antwortet Henriette Goldschmidt: "Wer bestreitet, dass der
Entwicklungsgang des Menschengeistes sich auf unveraeusserliche Naturgesetze
gruendet? Aber wer weiss es nicht, dass es unsere Aufgabe ist, diesen
Gesetzen nachzugehen, sie zu erforschen, um aus ihnen die Erkenntnis fuer
die Erziehung zu gewinnen? Und so wuerde es uns folgerichtiger erschienen
sein, wenn Herr Beetz dem Satze: 'Wir koennen den Prozess (der Entwicklung)
durch naturgemaesse Eingriffe foerdern, durch widernatuerliche ueberhasten,
aufhalten, schaedigen' hinzugefuegt haette: _Deshalb waere es so hochwichtig,
dass die Frauen, die Muetter, fuer die Erziehungsaufgabe vorbereitet wuerden,
damit sie foerdernd, nicht hemmend, nicht schaedigend einwirken_; denn die
Unkenntnis, die jetzt noch in Ruecksicht auf den muetterlich-erziehlichen
Beruf des weiblichen Geschlechtes herrscht - _raecht sich an der Menschheit
selbst_."
Es haette weiter gesagt werden koennen, dass Froebel dem Entwicklungsgange des
Menschengeistes ja eben gerade _nicht_ "nach Willkuer" oder gar "gegen sein
Wesen" Tempo und Richtung aufzwingen und ein Ziel stecken will, sondern
dass - ausser Pestalozzi - wohl kein anderer Paedagog so heiss gerungen hat um
die Erkenntnis des innersten Wesens des Menschengeistes - der Menschheit
und der Gottheit - wie gerade Froebel. Wie ernst es Froebel in dieser
Beziehung nahm, dafuer nur ein Beispiel! Als junger Mann schrieb er einmal
einem Freunde ins Stammbuch: "Dir gebe das Schicksal bald einen sicheren
Herd und ein liebendes Weib; mich treibe es rastlos umher, und lasse mir
nur so viel Zeit, _um mein Verhaeltnis zu meinem inneren Sein und zur Welt
gehoerig zu erkennen_." - Wenn je einer tiefe Blicke ins Innerste der
Menschennatur getan hat, dann war es Friedrich Froebel. Jeder, der Froebels
Schriften wirklich studiert - nicht nur einmal fluechtig gelesen - hat, muss
dies bestaetigen. Und Froebels Ideen standen durchaus in Uebereinstimmung mit
der Philosophie seiner Zeit (Schelling, Krause!). Gewiss kann man ueber das
innerste Wesen der Menschennatur verschiedener Meinung sein, und unser
menschliches Wissen wird auch hier, wie in so vielen anderen Dingen, ewig
Stueckwerk bleiben, aber "Willkuer" und Unnatur kann man den Froebelschen
Ideen in dieser Beziehung nicht vorwerfen. Dieser Angriff der Beetzschen
Schrift kann nicht scharf genug zurueckgewiesen werden.
In einem weiteren Kapitel hat _Beetz_ dann mit feinem Geschick die grosse
_Bedeutung der Familie_ fuer das Leben des Einzelnen und des Staates
dargelegt; er hat dabei goldene Worte gefunden und damit die Familie in
das hellste und schoenste Licht gerueckt. Er tut es aber nur, damit um so
dunklere Schatten auf den Kindergarten fallen. Die Abwehr Henriette
Goldschmidts gerade auf diesen gefaehrlichsten Vorstoss des Gegners bildet
den Hoehepunkt ihrer Schrift. Sie geht hier - der alten Weisheit folgend:
"Die beste Parade ist der Hieb!" - gleichsam selbst zum Angriff vor und
stellt dabei die _innere Notwendigkeit des Kindergartens_ dar. Wir hoeren
sie auch hier wieder am besten selbst:
"In dem vierten Kapitel 'Kindergartenzwang und Familie' stellt Herr Beetz
der Familie den Kindergarten als feindliche Macht gegenueber und bedient
sich hier einer Waffe, die zur Vernichtung der Kindergaerten fuehren soll.
Denn wer wird, wenn von beiden Potenzen die Rede ist, _Familie oder
Kindergarten_, die Familie nicht als die wichtigere anerkennen?, wer wird,
wenn es sich in der Tat um eine Schaedigung des Familienlebens durch den
Kindergarten handelte, nicht dem letzteren den Garaus machen wollen? Wie
sehr stimmen wir mit Herrn Beetz ueberein, dass 'die Familie das Produkt
natuerlicher Kraefte ist, dass, wenn die Menschheit heute wieder ihren grossen
Kulturlauf antraete, die erste Errungenschaft genau wie zum erstenmal die
Bildung der Familie sein wuerde'? Diese Tatsachen erfahren meine
Schuelerinnen in der ersten Unterrichtsstunde der Froebelschen
Erziehungslehre. Und all die schoenen wohlgefuegten Saetze der Schilderung
der Familie und ihres Einflusses haette Herr Beetz noch illustrieren koennen
durch folgenden Ausspruch _Friedrich Froebels_ ueber die Familie:
'Familienleben! Wie so hochwichtig bist du! Du bist das Heiligtum der
Menschheit, du bist das Allerheiligste der Pflege des Goettlichen. Familie!
lasse es uns unumwunden und offen aussprechen, du bist mehr als Schule und
Kirche und mehr noch als alles, was das Beduerfnis als Schutz des Rechtes
und des Eigentums hervorrief. Familie! wo du nicht den Geist der
Sinnigkeit und Sittlichkeit, des Beachtens und Nachdenkens in die Schulen
bringst, da sind sie, und seien sie noch so gefuellt, leer wie ein
unfruchtbares Ei, aus dem sich nie neues und frisches Leben entwickelt.
Familie! was sind ohne dich Altar und Kirche, wo du ihnen nicht die Weihe
gibst und Seele, Herz, Gemuet und Geist, Tun und Leben all der Deinen zum
Altar und Tempel des lebendigen Gottes erhebst.'" -
Dann wendet sich Henriette Goldschmidt den Einzelheiten des Beetzschen
Angriffes zu. Der Kindergarten entfremde die Kinder der Familie, das Haus
sei die einzige Staette, an der eine wirkliche Erziehung des Kindes moeglich
sei, behauptet der Gegner. Darauf erwidert die Verteidigerin sehr richtig:
"Bedeutet eine 3 oder 4 Stunden dauernde Abwesenheit vom Elternhause eine
Entfremdung von der Familie, so duerfte die Schulzeit, die mit dem sechsten
Lebensjahre beginnt, doch ebensowohl schaedlich auf die Innigkeit des
Familienlebens wirken. Das wird Herr Beetz als '_Schulmann_', der die
sittlich und geistig bildenden Einfluesse der Schule mit Recht hoch
veranschlagt, nicht zugeben. _Der Kindergarten aber kann sich mit
Ruecksicht auf den sittlich bildenden, geistig entwickelnden Einfluss mit
der Schule messen_: seine Spiele, Liedchen und Beschaeftigungen geben
Gelegenheit, Sinn und Gemuet des Kindes auf das Familienleben zu lenken.
Der Kindergarten entlaesst die Kinder keinen Tag, ohne sie auf die Fuersorge
der Mutter, auf das von ihr bereitete Mittagbrot usw. hinzuweisen: _der
Kindergarten festigt das Band, das Eltern und Kinder umschlingt_.
Ob jede Mutter, auch die, die ohne genuegende Hilfskraefte des Morgens die
Wirtschaft zu besorgen, die Kleinen zu waschen - und anzuziehen -
vielleicht noch ein Kleines zu pflegen und ihm Nahrung zu reichen hat - ob
jede dieser nach Tausenden zaehlenden Muetter wirklich die koerperliche und
seelische Kraft hat, trotz dieser aufreibenden Obliegenheiten sich die
innere Ruhe und Harmonie zu erhalten, um den Kindern ein erziehliches
Vorbild sein zu koennen? Wieviel wird an Kindern durch die erklaerliche
Aufregung, die sich der Frau bei Erfuellung von Pflichten bemaechtigt, 'die
hundert Maenner verbunden nicht ertruegen', gesuendigt! Ich spreche nur von
den mittleren, noch nicht von den unteren Staenden der Bevoelkerung, ich
spreche nur von normalen Verhaeltnissen - nicht von denen, wo die Mutter
leidend, der Vater ungeduldig, das Verhaeltnis der Ehegatten zueinander das
Gemuet der Kinder in der schlimmsten Weise beeinflusst. Solchem Einflusse
die Kinder taeglich auf einige Stunden entziehen, ist eine Wohltat in
seelischer Beziehung." -
_Beetz_ hatte ferner behauptet, eine Mutter brauche keine paedagogische
Fuehrung und Belehrung. Es genuege, wenn sie sich von ihrem Instinkt leiten
lasse. Hier war der schwaechste Punkt des Gegners. Geschickt fuehrte daher
Henriette Goldschmidt hier ihren staerksten Gegenschlag, indem sie mit
feiner Ironie schrieb:
"Redensarten wie die, 'die Mutter erzieht mit dem Herzen, sie ist in ihrem
dunkeln Drange sich des rechten Weges bewusst, sie ist zur Erzieherin
geboren', gewinnen nicht an Bedeutung, wenn sie ein 'Schulmann'
ausspricht. Alle diese Redensarten von der Unfehlbarkeit des Instinktes
der Frau schaffen die Tatsache nicht aus der Welt, dass der weitaus groessere
Teil der Muetter - auch aus den hoeheren Gesellschaftskreisen - es nicht
versteht, sich mit den Kleinen zu beschaeftigen. Die Frauen engagieren die
Kindergaertnerinnen nicht aus Menschenfreundlichkeit, sie fuehlen, und zwar
oft recht schmerzlich, dass ihr 'Instinkt' nicht ausreicht und dass die
Kindergaertnerin sich mehr Verstaendnis und Geschick, ja sogar mehr Geduld
fuer den Verkehr mit den Kleinen angeeignet hat, als sie, die gewiss gern
ihre Kinder mit dem 'Herzen' erziehen moechten.
Es ist eine bereits populaer gewordene wissenschaftlich begruendete
Erfahrung, _dass der Instinkt um so sicherer leitet, je nie__driger das
Geschoepf auf der Stufenleiter der Naturwesen steht_. Unfehlbarkeit des
Instinkts ist das Kennzeichen niederer Organismen.
Ganz gewiss mag in frueheren Jahrhunderten, in denen die Frau als
Gattungswesen ihr Dasein innerhalb der Aufgabe, die ihrem Geschlechte als
solchem zufiel, lebte, einen sicheren Instinkt fuer die Pflege und
Erziehung, namentlich des ersten Kindesalters gehabt haben. Instinkte
verlieren an Kraft bei fortschreitender Entwicklung.
Ich wuerde Herrn Beetz ersuchen, von Zeit zu Zeit in meine Sprechstunde zu
kommen, um zu erfahren, _wie sicher_ die Frauen von ihrem 'Instinkte', von
ihrem 'dunkeln Drange', von ihrem 'Herzen' bei der Erziehung ihrer Kinder
geleitet werden. Die Kindergaertnerinnen, die in Familienstellung sich
befinden, erzaehlen allerdings noch etwas mehr, als man durch einen Blick
auf die Strasse wahrnehmen kann: den sinnlosen Luxus, die
Glacehandschuhchen, die Schnuerstiefelchen, die Spitzenhaeubchen, die
Federhuete, die Kindergesellschaften, die Kinderbaelle - die kostbaren
Puppen, die Modelle fuer Balldamen sein koennen, samt all dem Troedel, der
nicht nur Leib und Seele des einzelnen Kindes schaedigt, der einen Keim fuer
den Standeshochmut in seine unschuldige Seele bringt, wohl geeignet, die
Kluft zu vergroessern, die die Glieder einer Volksfamilie voneinander
trennt.
Die Frau aus dem Volk steht allerdings der Kindesnatur naeher, als die
durch alle Sprachen und Kuenste gebildete Mutter: jene befindet sich naeher
der primitiven Entwicklungsstufe des Kindesalters. Weil aber dem so ist
und kein Zurueckkehren zu dem Standpunkte des blossen Natur- und
Gattungslebens moeglich - deshalb muss die Frau auf dem Wege der _Kultur_ zu
der Erkenntnis der _Natur_ und ihrer Aufgabe als muetterliche Erzieherin
gelangen.
Nur auf dem Wege wissenschaftlicher Erkenntnis ist es heutzutage der Frau
moeglich, zu den natuerlichen Bedingungen des Lebens zurueckzukehren.
In diesem Sinne koennen wir die Erscheinung Friedrich Froebels eine
providenzielle nennen: Er zeigt uns den Weg, den wir zu beschreiten haben,
'um von dem instinktiven, passiven Sein zu einem bewussten - und zu ganz
gleicher Hoehe wie das maennliche Geschlecht zu gelangen'.
Hier ist auch der Grund fuer das Verstaendnis vorhanden, mit dem die
denkenden Frauen die Erscheinung Froebels begruessten. Sie anerkannten und
anerkennen, dass echte Kultur keinen anderen Zweck habe, als uns unser
eigentliches Wesen und unsere Aufgabe als Menschen besser verstehen zu
lehren; auch sie wissen, dass kein Wort so sehr das dem Menschen
Angemessene ausdrueckt, als das Wort 'natuerlich'.
Und so beginnt der Prozess sich zu vollziehen, der zu einem wahren
Fortschritt der geistigen und seelischen Entwicklung des weiblichen
Geschlechtes fuehren wird: _zur Erkenntnis ihres natuerlichen Berufs_.
Fuer den, der seit Beginn der Frauenfrage innerhalb derselben nicht nur
taetig ist, sondern auch in objektiver Weise diese Bewegung beobachtet, fuer
den muss die Tatsache hochbedeutsam erscheinen, dass auch diejenigen
Fuehrerinnen dieser Bewegung, die seitab von der Froebelschen Paedagogik
stehen, seit einer Reihe von Jahren nichts so sehr betonen, als die
_Muetterlichkeit_ der Frau. Es zeigt sich auch hier die Weisheit des
Kinderfreundes Froebel, der zwar kein philosophisches System ueber das
'Unbewusste' geschrieben, der aber die Bedeutung unbewusst aufgenommener
Eindruecke tiefer erkannt hat, als es vor ihm geschehen. Ich stehe nicht
an, es auszusprechen, dass die jetzt allseitig so sehr betonte Forderung
der Frauen, das Muttergefuehl fuer unsere sozialen Aufgaben in Taetigkeit zu
setzen, zu einem grossen Teile auf die _unbewusst_ aufgenommenen Ideen
Froebels zurueckzufuehren ist, wie denn auch _die_ Frau, die als erste - in
jedem Wortverstande - die Bedeutung Froebels erkannt und seine Juengerin
geworden, es ausgesprochen: 'Die erziehliche Mission, zu welcher Froebel
das weibliche Geschlecht aufruft, wendet sich unmittelbar an die Seite der
weiblichen Natur, die den Kernpunkt seines Wesens ausmacht: an die Liebe,
die heiligste Liebe, die der Mutter. Diese neue Erziehung soll den
weiblichen Genius entfesseln, ihn erheben zur geistigen Mutter der
Menschheit. - Die Liebe zur Menschheit soll dem weiblichen Geschlecht zum
Kultus werden in der Pflege der Kindheit, in der Pflege des Gottesfunkens,
den die Kinderseele birgt' (Bertha von Mahrenholtz-Buelow)." -
Die beiden Schriften von Beetz und Goldschmidt wurden in den Fachkreisen
vielfach besprochen. Viele Lehrer und Lehrerinnen wurden dadurch
veranlasst, sich mit der _Frage des Kindergartens_ eingehender zu
beschaeftigen, um Stellung in dem Streit nehmen zu koennen. So hat also
durch die Entgegnung Henriette Goldschmidts der Angriff des Direktors
Beetz im Grunde _zur Klaerung der Kindergartensache_ wesentlich
beigetragen. Jeder, der die Angelegenheit objektiv pruefte, musste jetzt zu
der Ueberzeugung kommen, dass die Vorstellung, wie sie Beetz und viele
andere Schulmaenner vom Kindergarten hatten, unrichtig ist. Die Idee des
Kindergartens ist viel groesser, als die meisten ahnen. Nicht
_Sonderanstalten_ wollte Froebel schaffen, Sonderanstalten, die neben
Schule und Familie ein getrenntes, ein Sonderdasein fuehrten, sondern die
gesamte frueheste Erziehung wollte er durch die Idee seines Kindergartens
auf eine natuerliche Grundlage stellen. Gewiss hat Froebel in vielen Staedten
Kindergaerten als besondere Anstalten gegruendet und gewiss muessen in jedem
Ort solche Einrichtungen geschaffen werden, das gehoert mit zur Idee seines
deutschen Kindergartens. Diese einzelnen Kindergartenanstalten sind aber
noch _nicht die eigentliche Verwirklichung der Idee_. Sie sind nur ein
Teil der Verwirklichung, sie sind in der Hauptsache nur _Mittel zur
Verwirklichung_ der Idee. Als _Teil_ der Verwirklichung muss man sie
ansprechen, soweit sie die Familienerziehung _ergaenzen_, d. h. soweit sie
Kindern, die in der Familie nicht den fuer die kindliche Entwicklung
noetigen Kreis gleichaltriger Geschwister haben, Kameraden und
Gemeinschaftsleben bieten, bzw. indem sie Kindern, die daheim infolge
wirtschaftlicher und sonstiger Noete keine Erziehung geniessen koennen, diese
geben. Als _Mittel_ zur Verwirklichung der Idee sind sie dort anzusehen,
wo sie Pfleg- und Anschauungsstaetten der neuen Erziehungs_gesinnung_ sind.
Gerade dieser Gedanke war Froebel besonders wichtig. In jeder - auch der
kleinsten - Gemeinde sollte neben Kirche und Schule ein Kindergarten
bestehen - weniger unmittelbar der Kinder, als vielmehr der Frauen und
Muetter wegen. Zu ihm sollten die heranwachsenden Maedchen und jungen Frauen
kommen - getrieben von ihrem muetterlichen Instinkt, von dem ihnen
angeborenen Pflegesinn, von der hoeheren Liebe zur Kindheit, um sich hier -
als Gaertnerinnen an der Kindheit - zu betaetigen, um nach dem Vorbild und
unter der Anleitung _einer echten Kindergaertnerin_ taetig zu sein und zu
lernen, dadurch ihr Edelstes zu staerken und zu entfalten, sich dadurch
ihres Frauen- und Muttertums immer klarer bewusst und auf diese Weise in
hoeherem und geistigerem Sinne _Mutter_ zu werden.
Hier liegt fuer Henriette Goldschmidt der Kernpunkt der ganzen Frage: _Die
Entfaltung des innersten weiblichen Wesens, die Erhebung ihres bisherigen
instinktiven passiven Tuns zu wirklicher, zu bewusster schoepferischer
Kulturleistung_ ist nur moeglich mit Hilfe des Kindergartens. Sie sieht
keinen anderen Weg. _Hier allein bietet sich dem weiblichen Geschlecht
Gelegenheit, __durch Tun und Arbeit (an den Kindern) seine ureigensten
Kraefte und Anlagen zur Entwicklung zu bringen und im steten Hinblick auf
die Idee Froebels sich des ewigen Wesens der Frau und ihrer tiefsten
Bestimmung bewusst zu werden._
Der Frauenwelt dieses hohe Ziel fuer die Entwicklung gesteckt und ihr im
Kindergarten zugleich den Weg zu diesem Ziel gezeigt zu haben, das ist -
nach Henriette Goldschmidts Meinung - die grosse historische Mission
Friedrich Froebels gewesen.
Wer von der Verwirklichung dieser Idee einen Zusammenbruch der Familie
befuerchtet, wie dies Beetz tut, der kann die Idee in ihrer ganzen Groesse
nicht erfasst haben. Wenn irgend etwas, so ist Froebels Idee des
Kindergartens ein Schritt zur Vergeistigung und Erhoehung des
Menschengeschlechts.
"_Baut das Haus zum frohen Kindergarten!_" hatte Froebel den Muettern
zugerufen. Das sollte nicht heissen - wie das spaeter faelschlicherweise oft
ausgelegt wurde - "sammelt Gelder, damit wir das Haus fuer einen
Kindergarten bauen koennen", sondern Froebel meinte damit: Macht euer Haus,
macht jedes Haus zu einem Kindergarten! _Jede Familienstube __ein Garten
der Kindheit!_ Jede Mutter in diesem Sinne eine Kindergaertnerin,
ausgezeichnet durch Liebe und echten Pflegesinn, ihren Beruf bewusst als
Kulturberuf ausuebend, geadelt von der Erkenntnis, dass Geistiges, dass
Goettliches ihrer Obhut und Pflege anvertraut ist. Wenn man sich in Froebels
sinnigstes und eigenartigstes Werk vertieft, in seine "_Mutter- und
Koselieder_", dann wird einem das Ideal dieser Mutter deutlicher.
Wo ein _Weib dieser Art_ wirkt, sei es in der Familie, sei es in einer
besonderen Anstalt fuer Kinder - in einer Kleinkinderbewahranstalt, in
einem Waisenhaus, in einer Schule - _da ist ein wirklicher Kindergarten_.
_Und ueberall, wo Kinder sind, da sollte ein solcher Garten der Kindheit
entstehen._ Das ist Froebels sehnlichster Wunsch. Darum ruft er: "Baut das
Haus zum frohen Kindergarten!" - Koennen daran unsere deutsche Familie und
unser Volk zugrunde gehen, wie Beetz befuerchtet? Das Gegenteil wuerde
eintreten. Darum sollten wir alles tun, um moeglichst viele solcher Muetter
zu erhalten. _Damit fuehrt Froebels Kindergartenidee hinueber ins Gebiet der
Frauenbildung._
3. Ihre Reform der Frauenbildung.
a) Kindergaertnerinnen-Ausbildung.
Aus den bisherigen Ausfuehrungen ergibt sich mit Notwendigkeit, dass
zunaechst echte _Kindergaertnerinnen_ herangebildet werden muessen, die in
der Frauenwelt dann gleichsam als Sauerteig wirken koennen. Denn erst, wenn
in jeder Gemeinde eine von wahrer Gaertnergesinnung erfuellte gebildete Frau
als Leiterin des Kindergartens taetig ist, erst dann ist ja die
Voraussetzung dazu erfuellt, dass alle heranwachsenden Maedchen und jungen
Muetter der Gemeinde an ihrem Vorbild und in ihrer Art sich bilden zu
wahren Pflegerinnen der Kindheit.
Diese Notwendigkeit hatte schon Froebel erkannt. Daher bemuehte er sich
bereits seit 1839, in besonderen Kursen (in Blankenburg, Keilhau, Dresden,
Hamburg und zuletzt in Marienthal bei Liebenstein) Maedchen und Frauen zu
solchen wahren Kindheitpflegerinnen heranzubilden. Nach seinem Tode
setzten seine Freunde (bes. Wilhelm Middendorff), vor allem auch seine
zweite Frau (Louise Froebel), diese Arbeit fort. Spaeter entstanden in
vielen Staedten Deutschlands besondere "_Seminare fuer Kindergaertnerinnen_".
Die preussische Regierung gliederte 1911 solche Ausbildungskurse fuer
Kindergaertnerinnen sogar in die allgemeine Frauenschule ein und erliess
besondere Vorschriften fuer die staatliche Pruefung der Kindergaertnerinnen.
Andere deutsche Staaten folgten, z. B. Sachsen 1918.
Auch Henriette Goldschmidt hatte in Leipzig ein solches Seminar fuer
Kindergaertnerinnen gegruendet, und zwar bereits im Jahre 1872. Es war eine
der ersten derartigen Anstalten in Deutschland. Und zweifellos eine der
besten.
Der Ausbau der Kindergaertnerinnen-Seminare stiess auf grosse
Schwierigkeiten. Er war viel schwerer als der einige Jahrzehnte vorher
erfolgte Ausbau der Lehrerinnenseminare. Denn bei diesen letzteren war
bereits das Vorbild der Lehrerseminare vorhanden und ein Stab vorzueglicher
Seminarlehrer, die den Unterricht in sachgemaesser Weise uebernehmen konnten.
Beim Kindergaertnerinnenseminar fehlte beides. Wie bei jeder voelligen
Neuschoepfung war auch hier zunaechst nur ein chaotischer Zustand vorhanden,
aus dem sich erst ganz allmaehlich festere Formen heraus entwickelten. Dass
sich dieser Klaerungs- und Gestaltungsprozess vollzog, dass mehr und mehr die
fruehere "vom Zufall, von der Gunst oder Ungunst der Verhaeltnisse abhaengige
Bildnerei der Kindergaertnerinnen" einem geordneten systematischen Lehrgang
wich, das ist in erster Linie ein Verdienst Henriette Goldschmidts. Sie
uebte strenge Kritik an sich und anderen. Noch 1909 erklaerte sie auf der
Hauptversammlung des "Deutschen Froebelverbandes" in Magdeburg - also vor
den versammelten Leiterinnen der Kindergaertnerinnen-Seminare Deutschlands:
"Gestehen wir es uns offen, _unsere Seminare_, die Fachschulen, die einer
Anzahl von jungen Maedchen, die oefter der Not gehorchen als einem inneren
Drange, die Vorbereitung zur Kindergaertnerin geben, _entsprechen nicht der
Idee Froebels_, das weibliche Geschlecht um seiner menschheitpflegenden
Bestimmung willen zu ganz gleicher Hoehe wie das maennliche zu erheben." -
Man hatte in der Ausuebung des Kindergaertnerinnenberufs eine
_Erwerbsquelle_ entdeckt und Seminare aus diesem Grunde ins Leben gerufen.
Gewiss hat Froebel dadurch, dass er einen neuen Beruf fuer Frauen geschaffen
hat, eben den Beruf der Kindergaertnerin, unendlich viel fuer die
"Brotfrage" des weiblichen Geschlechts getan, aber die Seminare duerfen
nicht dieser Brotfrage wegen gegruendet werden, sie muessen vielmehr stets
der Tatsache eingedenk bleiben, dass sie _einer grossen Idee entsprungen_
sind. Verlieren sie diese aus den Augen, dann sinken sie zu einer
gewoehnlichen Fachschule herab, in der man sich begnuegt, die Schueler
aeusserlich auf den zukuenftigen Beruf zuzustutzen. Diese aeusserliche
Abrichtung ist aber nirgends gefaehrlicher als gerade hier, wo es sich
darum handelt, _Traegerinnen einer neuen Frauenkultur_ heranzubilden. Fuer
viele Berufe mag es genuegen, die Schueler in aeusserer Technik zu schulen,
_fuer den Beruf der Kindergaertnerin genuegt es nicht_. In ihr muss der innere
Sinn fuer die Bestimmung des weiblichen Geschlechts geweckt sein, sie muss
das spezifische Wesen der Frau erkannt, _innerlich erlebt_ haben, sie muss
im Kinde die Kindheit, das Goettliche ahnen: wie kann sie sonst _Pflegerin
der Kindheit_ werden? wie kann sie sonst Maedchen und Frauen zum Bewusstsein
ihrer menschheitpflegenden Bestimmung verhelfen?
Es genuegt also nicht, dass die zukuenftige Kindergaertnerin auf dem Seminar
in die Handhabung der Froebelschen Gaben und Beschaeftigungen eingefuehrt
wird. Sie muss tiefer eindringen. Also nicht nur enge Berufs- und
Fachbildung, sondern allgemeine Vertiefung in Menschen- und
Welterkenntnis.
Das hat Henriette Goldschmidt tief empfunden. Und sie hat sich bemueht,
dies durch zeitliche Ausdehnung der Lehrgaenge und durch Aufnahme
allgemeinbildender Faecher in den Lehrplan zu erreichen. Freilich in vollem
Umfange ist ihr die Loesung des schwierigen Problems noch nicht gelungen.
Dessen war sie sich auch vollkommen bewusst.
Am ehesten noch hoffte Henriette Goldschmidt den inneren Sinn der
Schuelerinnen erschliessen zu koennen durch die _kulturhistorische
Begruendung_, die sie der Froebelschen Paedagogik gab. Sie ging dabei aus von
dem Wort Froebels: "In der Entwicklung des inneren Lebens des einzelnen
Menschen spricht sich die geistige Entwicklungsgeschichte des
Menschengeschlechts aus, so dass das gesamte Menschengeschlecht als _ein_
Mensch angeschaut werden kann, da in ihm die Entwicklungsstufen des
Einzelnen nachzuweisen sind." Also: _Die Entwicklung des Einzelnen gleicht
der Entwicklung der Gesamtheit_, oder wie Karl Lamprecht es einmal
ausgedrueckt hat: "Der heutige Stand der Wissenschaft laesst keinen Zweifel
mehr daran bestehen, dass die Entwicklung des Einzelmenschen nicht nur
physisch, sondern auch psychisch im allgemeinen analog der Entwicklung der
Rasse verlaeuft. Die natuerliche Konsequenz dieser Tatsache ist, dass, um die
Entwicklung der Rasse zu verstehen, es noetig ist, die Wissenschaft der
Entwicklung des Einzelmenschen zu Hilfe zu nehmen und umgekehrt.
Insbesondere kommt hier in Betracht der seelische Werdegang des Kindes, in
vielen Punkten verlaeuft er parallel zu jenen Zeiten der Kulturgeschichte,
die man als Praehistorie bezeichnet, nicht minder weist er Merkmale auf,
die auch den Kulturen der heute noch auf niedrigen Entwicklungsstufen
stehenden Naturvoelker eigentuemlich sind."
Dieses _biogenetische Grundgesetz_, wie man es in der Wissenschaft genannt
hatte, spielte in der Paedagogik bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts
eine Rolle. Der Leipziger Universitaetsprofessor Ziller wollte die
Verteilung des Lehrstoffes fuer die Volksschule auf Grund dieses Gesetzes
vornehmen. Er meinte damit dem jeweiligen Fassungsvermoegen der Kinder am
besten Rechnung zu tragen. So kam er zu seinen bekannten acht
"_Kulturstufen_". Den gesamten Unterricht waehrend eines Schuljahres
gruppierte er um ein wertvolles Kulturerzeugnis, das ungefaehr der
geistigen Reife der Kinder des betreffenden Jahrgangs entsprach, und zwar
hatte er ausgewaehlt:
fuer das erste Schuljahr: zwoelf Maerchen der Gebrueder Grimm,
fuer das zweite Schuljahr: Robinson,
fuer das dritte Schuljahr: die Geschichten der biblischen
Patriarchen,
fuer das vierte Schuljahr: die Geschichte von Moses usw.
Es ist hier nicht der Ort, die Richtigkeit des biogenetischen
Grundgesetzes nachzupruefen oder die Berechtigung seiner Anwendung auf die
praktische Erziehungs- und Unterrichtsarbeit zu eroertern. Uns interessiert
hier nur die Art und Weise, wie Henriette Goldschmidt mit Hilfe dieses
Gesetzes die zukuenftigen Kindergaertnerinnen in das Verstaendnis der
Froebelschen Paedagogik einfuehrte. Hoeren wir sie selbst! - In ihren "Ideen
ueber weibliche Erziehung" (1882) gibt Henriette Goldschmidt einige
Andeutungen darueber, wie sie sich diesen Unterricht denkt. Sie schreibt:
"Die Freiheitsgeschichte des Menschen, sowie die unstreitige Ursache der
Ungleichheit und aller aus ihr resultierenden Uebel hat mit dem Bebauen des
Bodens begonnen. Das erste Korn, von Menschenhand in die Erde gelegt,
enthielt auch den Kern 'mit der Frucht geschwellt', die unser
vielgestaltiges Kulturleben birgt. Der Ackerbau bedingt den festen
Wohnsitz, der feste Wohnsitz ermoeglicht ein inniges vertrauliches
Familienleben. Der Kranke, der Schwache, der Alte, das Kind, jetzt sind
sie nicht die Last, die auf Streifzuegen gar nicht mitgenommen werden
konnten, deren Toetung als Wohltat betrachtet wurde - sie koennen in den
Raeumen versorgt, gepflegt, behuetet werden, die eine bestimmte Umgrenzung,
eine Wohnung bilden. Tugenden der Geduld, der Nachsicht werden entwickelt,
Neigungen werden zu Empfindungen, Liebe verbindet sich mit Treue und wird
zu edler Gesinnung. Die Frau wird schon dadurch zur Gehilfin des Mannes,
wenn die Speise nicht mehr roh, sondern zubereitet genossen wird. Der
Wohnungsraum, der Kochtopf, das sind die wichtigsten Bedingungen fuer die
Kultur. Alles andere ergibt sich bei einigem Nachdenken von selbst. Dem
Familienleben folgt das Gemeinde-, das Volks- und Staatsleben. Der
Ackerbau erfordert Werkzeuge. Es entsteht der Handwerkerstand, es folgt
der Handels-, Kaufmannsstand, 'der Gueter zu suchen ausgeht, an dessen
Schiff das Gute sich knuepft'. Die religioese, die wissenschaftliche, die
kuenstlerische Bildung gewinnt die ersten Anregungen, die ersten
Anschauungen durch die Beobachtung und durch die Beschaeftigung mit der
Natur und schreitet fort zur Ahnung, zur Erkenntnis des Goettlichen - zu
dem 'ueber Zeit und Raum thronenden hoechsten Gedanken.'
Haben wir mit diesem Ausgangspunkte, den wir als den kulturgeschichtlichen
bezeichnen, einen festen Punkt fuer die Erziehung des Einzelnen in unserer
Zeit gewonnen? Was hilft uns die Erkenntnis von dem naturgemaessen
Ausgangspunkte der Kultur der Gesamtheit in Ruecksicht auf die
Erziehungsaufgabe im einzelnen? Entwicklung bedeutet ja bei dem Menschen
nicht Wiederholung derselben Stadien wie bei Naturwesen, wozu nuetzt es
uns, auf die primitiven Stufen zurueckzugehen? Wir werden nicht jedes Kind
erst Ackerbau treiben lassen, damit es den richtigen Ausgangspunkt fuer die
Kultur empfaengt. Gewiss, so wenig 'Entwicklung' bei dem Menschen
Wiederholung derselben Stadien bedeutet, so wenig koennen wir uns von den
allerersten Bedingungen unserer Existenz so losloesen, dass wir nicht mit
ihnen anfangen muessten. Die ersten Kulturstufen koennen niemals von den
folgenden ganz ueberwunden werden, sie sind auch fuer die naechsten zu
benutzen. Jeder Mensch faengt noch heute als ein Kind an und deshalb als
ein '_Naturwesen_', und so steht das Kind bei seiner Geburt viel naeher dem
Zustande der Naturvoelker als dem seiner gebildeten Eltern. Wir werden
demnach, wenn wir an die Erziehung des Kindes herantreten, es als
'_Naturwesen_' zu achten und zu beachten haben und zunaechst die
Bedingungen erfuellen, auf die es als Naturwesen ein Recht hat. _Die
Existenz um der Existenz willen, ist das Recht des Geschoepfes._ Doch wir
werden diesen Bedingungen in der Erkenntnis zu entsprechen suchen, die wir
aus der Beachtung eines naturgemaessen sittlich-geistigen Entwicklungsganges
gewannen. Wir sehen, dass auch die sittlich-geistigen Einfluesse durch die
verschiedene Art der Befriedigung der Nahrungsbeduerfnisse bedingt sind,
und wir werden folgerichtig schliessen, dass die sittliche Gewoehnung des
Kindes schon hier, bei der Verabreichung von Nahrung zu beginnen hat."
(S. 53 ff.)
"Das Eleusische Fest" von Schiller diente ihr meist als Ausgangspunkt fuer
diese kulturhistorischen Besprechungen. In ihrer groesseren Schrift "Was ich
von Froebel lernte und lehrte" hat sie sich ueber diesen wichtigen Teil
ihres Unterrichts weiter verbreitet.
b) Allgemeine Frauenbildung.
_Friedrich Froebel_ hatte sich die Veredelung des bisherigen instinktiven
Tuns der Frau zu einer bewussten Kulturleistung, also die kulturelle
_Hoeherentwicklung_ des weiblichen Geschlechts "von seinem Wesen aus" nur
mit Hilfe der Kindergaertnerinnen in den, bzw. durch die Kindergaerten
gedacht. Darum erblickte er in der Ausbildung von echten
Kindheitspflegerinnen seine wichtigste Aufgabe.
_Henriette Goldschmidt_ ging in dieser Beziehung ueber Froebel hinaus. Sie
fasste die Aufgabe weiter. Zwischen Froebel und ihr lag eben - schon rein
zeitlich betrachtet - der Anfang der deutschen Frauenbewegung. Von einer
neuen, von einer umfassenden Frauenbildung allein erwartete man einen
Aufstieg des weiblichen Geschlechts. Diese Gedanken hatten in Henriette
Goldschmidt begeisterten Widerhall gefunden. Zu ihrer Verwirklichung
beizutragen, galt ihr als heiligste Pflicht.
Um das ganz zu verstehen, muss man bedenken, dass die Maedchen damals noch
vom Besuch oeffentlicher hoeherer Schulen ausgeschlossen waren. Es gab fuer
sie nur private - zum Teil recht minderwertige -
Fortbildungseinrichtungen.
Durch das berechtigte Streben der Frauen, nicht eine schlechtere Bildung
zu erhalten als die Maenner, entstand die Gefahr, die fuer Knaben bestimmten
Schulen sklavisch nachzuahmen. Nicht alle Vorkaempferinnen fuer
Frauenbildung sind dieser Gefahr entronnen. Henriette Goldschmidt dagegen
erkannte von vornherein, dass es ein Widerspruch waere, mit den bisherigen
(also auf Maenner zugeschnittenen) Schuleinrichtungen und
Unterrichtsmethoden das tiefinnerste Wesen des Weibes entfalten, den
muetterlichen Instinkt zum Bewusstsein erheben zu wollen. Dadurch erhielt
ihr Wirken fuer Frauenbildung die starke, _spezifisch weibliche Note_.
Schon 1871 konnte sie daher in einem in Kassel gehaltenen Vortrage ueber
"die Frau im Zusammenhang mit dem Volks- und Staatsleben" jede Nachahmung
der Knaben- und Maennerbildungsanstalten ablehnen und erklaeren: "_Nur durch
ein ganz veraendertes Prinzip der Erziehung kann die Umbildung unseres
Geschlechtes vor sich gehen._"
In Froebels Paedagogik fand sie diesen neuen Weg. Sie spuerte in seiner Idee,
den Erziehungsberuf der Frau zu einem Kulturberuf zu erheben, die
Keimkraft einer neuen Epoche der Menschheit sich regen. "Zum ersten Male,"
schrieb sie 1909, "erhielten die Frauen (durch Froebel) nicht nur guten Rat
und gute Lehren als Brosamen von der bisherigen wissenschaftlichen
Paedagogik, sondern eine _Lehre_ in systematischer Form, eine neue Lehre
von einem neuen Quellpunkte aus, aus einer neuen Erkenntnis."
_Anders_ also sollte der Bildungsgang des Weibes sein als der des Mannes,
andersartig aber _nicht minderwertiger_, nicht "leichter", nicht
"bequemer", nicht "oberflaechlicher". Im Gegenteil! An Arbeit, an harte
Arbeit soll das weibliche Geschlecht sich gewoehnen. Das fand damals -
besonders bei den Frauen der hoeheren Schichten - noch viel Widerspruch.
Aber in ihrem tiefsinnigen Vortrag "Die Frauenfrage eine Kulturfrage"
(1870!) zerstreute sie diese Bedenken mit folgenden feinen und klugen
Worten: "_Die Arbeit_, die sich segensreich bewaehrt auf allen Gebieten des
Lebens, die Ausbildung des Geistes, die bei unsern Maennern die
Gemuetsinnigkeit steigert, _sollte fuer die Frau gefaehrlicher sein als die
Ausbildung des Phantasie- und Genusslebens_? Ich meine, selbst die
weitgehendste wissenschaftliche Ausbildung, selbst eine einseitigste
Berufsbildung stellt uns auf den Boden der Pflicht und bildet den
Menschen. Denn arbeiten muss der ganze Mensch, weder die Phantasie allein,
noch das Herz allein. In der Arbeit kommt Herz und Geist zur
Durchdringung, zur Uebereinstimmung, zur Einheit; die Arbeit schafft den
Charakter, und _Charakter sollen auch unsere Frauen haben_, nicht
willenlose Schwaermerei, nicht Phantasterei, nicht lethargisches
Genussleben."
Die wichtigste Sorge ist ihr nur, dass die Bildung des weiblichen
Geschlechts auch Fruechte trage, dass sie zu positiven Leistungen fuehre. Sie
hat ein sehr richtiges Gefuehl dafuer, dass naemlich durch die den Frauen
eingeraeumten Rechte auf Bildung dem weiblichen Geschlechte auch Pflichten
erwachsen, dass man von ihm nun eine tatsaechliche Bereicherung bzw.
Veredelung unseres Kulturlebens erwarten wird. Ob die Frau, soweit sie in
Schule und Beruf in den Bahnen des Mannes wandelt, zu fruchtbarer
Kulturarbeit sich wird erheben koennen, erscheint ihr mindestens
zweifelhaft. Wenn sie dagegen "von ihrem Wesen aus", innerhalb ihrer
Bestimmung sich ungehemmt entfalten kann, dann wird sie Kulturleistungen
hervorbringen, Kulturleistungen, deren der Mann nicht faehig ist. Das ist
Henriette Goldschmidts fester Glaube.
Es kommt also alles darauf an, die Frauenbildung _naturgemaess_ zu
gestalten, sie zu gruenden auf das Wesen, auf die Natur des Weibes. Darum
ist ihr "der Pflegesinn des Weibes, seine seelische Besonderheit, seine
ihm eigentuemliche Aufgabe" Mittelpunkt fuer den Lehrplan und Ziel aller
hoeheren weiblichen Fortbildung (nach Verlassen der Schule!). Pflegen und
Erziehen muss dem weiblichen Geschlechte nicht nur als wichtigste, sondern
zugleich als schoenste Aufgabe des Lebens erscheinen.
Die Entfaltung dieses idealen Sinns denkt sich Henriette Goldschmidt nicht
nur mit Hilfe der Froebelschen Paedagogik - wenn auch durch sie in erster
Linie -, sondern auch durch Einfuehrung in die Ideenwelt unserer Klassiker.
Sie hat erkannt, dass es von grossem erziehlichen Einfluss ist, wenn "unsere
Jugend ihre Ideale durch die Erkenntnis der Ideale unserer Klassiker
laeutert". In diesem Sinne schreibt sie in ihren "Ideen ueber weibliche
Bildung" (1882): "Ich bin mir bewusst, dass meine Ansichten dem Geiste einer
Zeit verwandt sind, die unmittelbarer unter dem Einflusse unserer
klassischen Literatur, eines Herder, Lessing, Schiller sich befand, als
die unsrige. Mag eine gelehrte Jugend laecheln ueber die Traeume einer
idealistisch gestimmten Vergangenheit. _Wir leben der Ueberzeugung, dass das
deutsche Volk mehr als einmal im Laufe seiner Entwicklung zurueckkehren_
wird zu den Idealen jener Zeit, und dass es auch aus dem Drucke unserer
pessimistisch-materialistisch gestimmten Gegenwart, die ihren Gegensatz in
einem romantisch sinnlich-uebersinnlichen Rausche sucht, erwachen muss bei
dem Morgenlichte jener einzigen Zeit, die unsere Dichter und Denker
heraufgefuehrt. In diesem Sinne und im Zusammenhange mit den grossen
Paedagogen ausserhalb der Schule hat sich mir das Verstaendnis der
Froebelschen Erziehungslehre erschlossen, und in diesem Sinne moechte ich zu
ihrem Verstaendnis anregen." (S. 26.)
Damit ist in allgemeinen Zuegen der Charakter einer hoeheren
Fortbildungsschule fuer Maedchen bzw. Frauen gezeichnet, wie sie Henriette
Goldschmidt vorschwebte. Der Kindergarten und die Arbeit in ihm ist das
Fundament, auf dem sie aufgebaut ist. Jedes heranwachsende Maedchen sollte
durch ihn hindurchgehen! Eine Art _weibliches Dienstjahr_ schwebt ihr vor.
In unseren Tagen wird viel von einem "Freiwilligenjahr der Frau" geredet.
Da ist es nicht uninteressant, festzustellen, dass dieser Gedanke nicht so
funkelnagelneu ist, wie manche glauben. Bereits _1868_ hat Henriette
Goldschmidt auf der Generalversammlung des "Allgemeinen deutschen
Frauenvereins" in Braunschweig dieser Idee mit folgenden Worten Ausdruck
verliehen: "Die Maenner zahlen ihre Schuld dem Vaterlande, indem sie es
gegen den Feind verteidigen, und indem sie die Buerger gegen Gefahren
schuetzen. _Vertreter des Volks, wir Frauen verlangen eine gleiche Last!_
Alle jungen Maedchen muessten, ehe sie heiraten, _wenigstens ein Jahr lang_
taeglich mehrere Stunden in den Hospitaelern zubringen, in den
Wohltaetigkeitsanstalten, in allen Orten, die zum Schutz der Ungluecklichen
gestiftet sind. Hier muessten sie die augenblickliche und natuerliche
Erregtheit ihres weichen Herzens, die voruebergehend und deshalb
unfruchtbar ist, in ein taetiges Gefuehl verwandeln. Die Frauen muessten auch
den Eid der Treue leisten, und zwar nicht dem Staat, sondern Gott und den
Armen - und nachdem sie ihre Pflicht getan haben, ebensogut und ebenso
stolz wie der Soldat sagen koennen: 'Ich habe gedient'." -
Spaeter wollte sie dieses "Dienstjahr" ausschliesslich auf dem Gebiete der
Erziehung abgeleistet wissen. So schrieb sie 1918: "Das Dienstjahr fuer die
weibliche Jugend sei ein Lehrjahr in einer gutgeleiteten Froebelschule."
Und sie fuegt hinzu, warum sie gerade den Kindergarten fuer die geeignetste
Staette zur Ableistung der weiblichen Dienstpflicht haelt: Der "Schrei nach
dem Kinde" ertoent jetzt lauter denn je. "Hier, im Kindergarten, ist die
Staette, _wo der Wille zum Kinde_ in der keuschesten Weise in den
jugendlichen Gemuetern erweckt wird und das muetterliche Gefuehl in einer
unserer Kultur gemaessen Weise sich betaetigt."
Jedenfalls soll die heranwachsende weibliche Jugend zu der Erkenntnis
gefuehrt werden, dass _die Erziehungsaufgabe eine wichtige allgemein
menschliche Angelegenheit_ ist, insbesondere eine Pflicht des weiblichen
Geschlechts, auf deren Ausuebung man sich vorbereiten muss. Dass in dieser
Beziehung bisher eine Luecke in unserem Schulwesen bestand, brachte
Henriette Goldschmidt ihren Lesern bzw. Hoerern gern dadurch zum
Bewusstsein, dass sie ein Wort des Philosophen _Herbert Spencer_ zitierte,
naemlich folgendes: "Wenn durch irgendeinen Zufall keine Spur von uns bis
auf die ferne Zukunft erhalten bliebe, ausser einem Haufen unserer
Schulbuecher oder einigen Pruefungsheften der Schule, so koennten wir uns
ausmalen, in welche Verlegenheit ein Altertumsforscher jener Periode kaeme,
in ihnen keine Zeichen zu finden, dass die Schueler jemals moeglicherweise
Eltern werden wuerden. Wir koennen uns vorstellen, dass er folgendermassen
schliesst: _Dies muss der Schulplan fuer die ehelosen Staende gewesen
sein ..._ ich finde nicht die geringste Beruecksichtigung der
Kindererziehung. Sie konnten nicht so toericht sein, fuer diese schwerste
aller Verantwortlichkeiten jeglichen Unterricht zu unterlassen. Offenbar
also war dies der Schulkursus eines ihrer Klosterorden."
Die Verwirklichung ihrer Ideen ueber allgemeine weibliche Hoeherbildung
versucht sie in ihrem, 1878 gegruendeten, "_Lyzeum fuer Damen_" in Leipzig
(jetzt "Froebel-Frauenschule"). - 1911 hat sie in ihrer Denkschrift "Vom
Kindergarten zur Hochschule fuer Frauen", unter Anlehnung an das 1878
erschienene erste Programm dieser Anstalt, _das Wesen dieser neuartigen
hoeheren Frauenbildungsstaette_ in folgender Weise dargelegt:
"Das Lyzeum will der Idee dienen; '_das instinktive passive Tun der Frau_'
auf ihrem _eigensten_ Gebiete in ein _bewusstes_ zu wandeln: es will die
weibliche Jugend der wohlhabenden, der gebildeten Staende mit dem Wissen
und Koennen ausstatten, das der Erziehungsberuf innerhalb der _eigenen_
Familie erfordert. _Der Erziehungsberuf der Frau ist als gleichwertig der
Berufsbildung des Mannes zu betrachten, er bedarf der Vorbereitung._
Kein Mann beschraenkt sich, darf sich auf diejenige Wissenschaft
beschraenken, die seine Fachbildung erheischt. Der Arzt studiert nicht nur
Naturwissenschaften, der Jurist nicht nur Rechtswissenschaft, der
Geistliche nicht nur theologische Schriften usf., - sondern ein jeder
lernt sein besonderes Fach erst recht kennen, wenn er durch das Studium
der Geschichte, Literatur, Philosophie usw. Klarheit ueber die Stellung
gewinnt, die seine Spezialwissenschaft innerhalb der Gesamtwissenschaft
einnimmt.
Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, hat das Lyzeum in seinem Lehrplan:
Geschichte, Literatur, Kunstgeschichte, Mathematik, Naturwissenschaften
und die Fortfuehrung des fremdsprachlichen Unterrichts aufgenommen.
Das Lyzeum waere aber keine hoehere Lehranstalt fuer die weibliche Jugend,
wenn nicht Erziehungslehre, Geschichte der Erziehung, Gesundheitslehre,
Psychologie den Mittelpunkt des Planes bildeten.
Das Lyzeum waere keine hoehere Lehranstalt im Sinne und Geiste unserer neuen
Paedagogik, wenn es sich mit theoretischen "anschauungslosen Definitionen"
begnuegte. "Erziehung" verlangt: "Willen und Koennen." Dieses Wollen und
Koennen ist durch Froebels Lehre und Methode gegeben: die letztere verlangt
kuenstlerische Uebungen, das Zeichnen, das Tonen usw. - Gymnastik und
Gesang.
Das Lyzeum waere aber auch keine hoehere Lehranstalt im Sinne und Geiste
_unserer auf soziale Hilfsarbeit gerichteten Zeit_, wenn es die weibliche
Jugend nicht zu solcher Hilfsarbeit erzoege. _Das Lyzeum steht in
Verbindung mit den Volkskindergaerten_ und gibt den jungen Maedchen
Gelegenheit zum Verkehr mit den Kindern des Volkes, - zur Dienstleistung
fuer dieselben. Es bahnt den Weg zum Verstaendnis und zur Wuerdigung der
sogenannten untern Staende und zur Versoehnung der schroffen Gegensaetze
innerhalb der verschiedenen Glieder der Volksfamilie.
Das Lyzeum ist bestrebt:
1. die Kluft ueberbruecken zu helfen, welche zwischen maennlichem und
weiblichem Geistesleben, namentlich in den hoeheren Staenden vorhanden
ist,
2. das instinktive, passive Tun der Frau in ein bewusstes zu wandeln,
damit sie den muetterlichen Erziehungsberuf in seiner ganzen
Bedeutung und Verpflichtung erkenne,
3. in der weiblichen Jugend das Gefuehl und das Gewissen zu erwecken fuer
unsere sozialen Notstaende, - sie aufzuruetteln aus dem traegen
Genussleben, in dem mehr Kraefte verbraucht werden als in der
angestrengtesten Taetigkeit.
In aller Kuerze haben wir die _idealen_, die _humanen_ Ziele des Lyzeums
bezeichnet.
Das Lyzeum waere aber keine hoehere Lehranstalt im Sinne und nach den
Forderungen unserer auf die _wirtschaftliche Selbstaendigkeit_ der Frau
gerichteten Zeit, wenn es nicht zur Loesung der so brennend gewordenen
Erwerbsfrage beitragen koennte."
Die Berufe, fuer die das Lyzeum vorbereitet, sind:
a. Erzieherin in der Familie,
b. Leiterin von Kindergaerten und aehnlichen Anstalten,
c. Lehrerin der Froebelschen Paedagogik an Kindergaertnerinnenseminaren.
Henriette Goldschmidt erkannte aber bald, dass in dem engen Rahmen eines
"Lyzeums fuer Damen" ihre grosse Idee nicht volle Verwirklichung finden
konnte. Darum erhob sie fast jedes Jahr in den Programmen des Lyzeums den
Ruf:
"_Das Lyzeum soll zu einer Hochschule sich gestalten_, an der
wissenschaftlich tuechtige Maenner und Frauen unserer weiblichen Jugend zu
dem schwierigsten, verantwortlichsten und idealsten Berufe, dem der
Erziehung des Geschlechtes der Zukunft die Weihe der Wissenschaft geben."
Der Gedanke einer Hochschule fuer Frauen war nicht neu. Bereits im Dezember
1849 war der Plan, solche Hochschulen zu gruenden, in _Hamburg_
aufgetaucht, und zwar in Froebelkreisen. Es bildete sich damals in der
Hansestadt ein "Allgemeiner Bildungsverein deutscher Frauen", aus dessen
Statuten in diesem Zusammenhang folgendes interessiert:
"1. _Zweck_: Verbreitung humaner Bildung ohne Ruecksicht auf konfessionelle
Unterschiede.
2. _Bildungsmittel_: Hochschulen fuer das weibliche Geschlecht,
Kindergaerten, Verbindung der Erziehung der Familie mit dem Unterricht der
Schule, Armenpflege, Krankenpflege.
3. _Stellung_: Hamburg ist vorlaeufig der Sitz des Zentralvereins, welcher
zur Foerderung der allgemeinen Zwecke sich mit allen deutschen
Frauenvereinen in Verbindung setzt. Diese schliessen sich dem Zentralverein
an, indem sie sich zu regelmaessiger Unterstuetzung der gemeinsamen Zwecke
verpflichten.
4. _Das erste gemeinsame Unternehmen_ ist die Stiftung einer Hochschule
fuer Maedchen in Hamburg in Verbindung mit der Befoerderung der
Kindergaerten."
Im Januar 1850 wurde die neue Anstalt eroeffnet. Ein Neffe Friedrich
Froebels: _Carl Froebel_ war ihr erster Rektor. Ihm zur Seite stand ein
Verwaltungsausschuss, dem folgende Frauen angehoerten: Emma Isler geb.
Meyer, Bertha Traun geb. Meyer, Elise Bieling geb. Stroem, Mathilde Seybold
geb. Mohrmann, Henriette Salomon geb. Goldschmidt, Emilie Wuestenfeld geb.
Capelle.
Auch Friedrich Froebel, der waehrend des Winters 1849/50 in Hamburg weilte
und paedagogische Vortragskurse abhielt, unterstuetzte die junge Anstalt.
Zur Charakterisierung der Hamburger Frauenhochschule sei aus dem ersten
Programm derselben noch folgendes mitgeteilt:
"Die Anstalt soll erwachsenen Maedchen nach vollendetem Schulkursus eine
weitere Ausbildung gewaehren, die alles umfasst, was das praktische,
gesellige und geistige Leben in seinen hoechsten Sphaeren von gebildeten
Frauen verlangen kann.
Die eigentlichen Schuelerinnen, von welchen eine Ausbildung nach allen drei
Richtungen gewuenscht wird, wohnen als Pensionaerinnen in dem Pensionshause
der Anstalt, welchem Professor Carl Froebel und seine Frau Johanna Froebel
geb. Kuestner vorstehen. Wenn die Zahl der Pensionaerinnen zwanzig
uebersteigt, wird ein zweites Pensionshaus errichtet.
Zur Uebung fuer das praktische Leben werden die Schuelerinnen auf moeglichst
zweckmaessige Weise mit den Haushaltsgeschaeften und der dazu noetigen
Buchhaltung vertraut gemacht. In dem zur Anstalt gehoerenden Kindergarten
lernen sie die erziehende Beschaeftigung und naturgemaesse Behandlung der
Kinder kennen.
Fuer das gesellige Leben bieten ausser der Anstalt die Familien des
Bildungsvereins und andere die den Schuelerinnen wuenschbaren Gelegenheiten
dar.
Der wissenschaftliche Unterricht wird in halbjaehrliche Lehrkurse
eingeteilt und zum Teil in Vortraegen, zum Teil an Uebungen geknuepft.
Auch ausser der Anstalt wohnende Maedchen und Frauen werden zur Teilnahme an
den Lehrkursen als Hochschuelerinnen oder als Zuhoererinnen einzelner
Vorlesungen zugelassen."
Der erste _Lehrplan_ der Hamburger Frauenhochschule umfasste: Einleitung in
die Philosophie, Erziehungslehre, Erklaerung der Gedichte Schillers,
Geschichte der Religionen, Englisch, Franzoesisch, Geschichte, Geographie,
Literatur, Sprachlehre, Formenlehre, Zeichnen, Gesang, Uebungen im
Kindergarten.
Ausserdem war den Hochschuelerinnen Gelegenheit gegeben, an den ausserhalb
der Anstalt stattfindenden Vortraegen Friedrich Froebels teilzunehmen.
Es herrschte ein frisches, geistig reges Leben in der jungen
Frauenhochschule. _Malvida von Meysenbug_, die die Anstalt damals
besuchte, erzaehlt anschaulich davon in ihren beruehmten "Memoiren einer
Idealistin":
"Ich war keine junge Schuelerin mehr, ich war ein gereiftes Wesen, das aus
den Konflikten des Daseins zu der einzig wahren Zuflucht fluechtete, zu
einer edlen nutzbringenden Taetigkeit. Ein eigenes, beinahe feierliches
Gefuehl erfasste mich, als ich die Schwelle des Hauses, in welchem ich ein
neues Leben beginnen wollte, ueberschritt." Und dann schildert sie ihr
Bekanntwerden mit Froebels paedagogischem System: "Ich hatte bereits davon
reden hoeren, sah es hier zuerst in der Praxis (in dem Kindergarten der
Hochschule!) und war entzueckt davon. Psychologisch tief und geistvoll fand
ich alle Grundsaetze, welche Froebels System zugrunde liegen und worin sein
eigentlicher Wert besteht. Meine erste Bekanntschaft mit diesem System war
eine wahrhaft beglueckende."
Die Hochschuelerinnen wurden aber nicht nur in das Reich des Geistes
eingefuehrt, sondern sie mussten auch haeusliche Arbeiten verrichten. Malvida
von Meysenbug erzaehlt z. B. u. a.: "Einmal in der Woche standen wir im
Garten froehlich um einen Waschtrog, und waehrend die Haende Waesche rieben,
besprachen wir Gegenstaende aus den Vortraegen oder sonst wichtige Fragen.
Wir taten die groebere Arbeit, weil es zum Vorteil der Anstalt diente, die
unser allerhoechstes Interesse war, und wir fuehlten uns dadurch nicht
gedemuetigt. Viele der begabtesten Schuelerinnen, denen bisher jede
haeusliche Beschaeftigung ein Greuel war, suchten diese jetzt mit der
geistigen Arbeit zu vereinen. Die Leichtsinnigen wurden ernst, die Faulen
fleissig. _Es __war eine Stroemung, die sie alle zum Guten fortriss_."
Der jungen Anstalt war aber nur ein kurzes Dasein beschieden. Sie fiel der
- nach der Revolution von 1848 - einsetzenden Reaktion zum Opfer. Die
Beziehungen der Hamburger Frauenhochschule zu den _freireligioesen
Gemeinden_ genuegten den Gegnern, die Anstalt durch gedruckte Pamphlete zu
verdaechtigen. Sie wurde "als ein Herd der Demagogie dargestellt, wo unter
dem Mantel der Wissenschaft revolutionaere Plaene geschmiedet wuerden." Viele
Eltern wurden dadurch irre gemacht und erlaubten ihren Toechtern nicht den
Besuch der Schule. Der Mangel an Hoererinnen brachte die Anstalt in
finanzielle Schwierigkeiten, und sie musste geschlossen werden.
Vielleicht waere es gelungen, die Hamburger Frauenhochschule zu erhalten,
wenn man sich dazu haette entschliessen koennen, dem damals herrschenden
Geist der Reaktion Zugestaendnisse zu machen. Aber das wollte man nicht.
"Man fand es besser, die Verwirklichung der Idee der Zukunft zu
ueberlassen, als einen Kompromiss mit der alten Welt zu machen." Die
Stimmung, die damals bei den Freunden der Anstalt herrschte, bringt
Malvida von Meysenbug in den Worten zum Ausdruck: "Die Erfahrung war
gemacht, ein Resultat war gewonnen. Der Gedanke, die Frau zur voelligen
Freiheit der geistigen Entwicklung, zur oekonomischen Unabhaengigkeit und
zum Besitze aller buergerlichen Rechte zu fuehren, war in die Bahn zur
Verwirklichung getreten: _Dieser Gedanke konnte nicht wieder sterben._ Wir
zweifelten nicht, dass viele von denen, welche seine erste Inkarnation in
unserer Hochschule gesehen hatten, noch seinen voelligen Triumph sehen
wuerden, wenn nicht in Europa, so doch in der neuen Welt."
Diese Hoffnungen erfuellten sich - durch _Henriette Goldschmidt_.
Eine der Mitbegruenderinnen der Hamburger Frauenhochschule - und zugleich
eine der geistig bedeutendsten Frauen jener Kreise - _Emilie Wuestenfeld_ -
stellte gleichsam die Verbindung zwischen Hamburg und Henriette
Goldschmidt dar. Die beiden Frauen kannten sich persoenlich und Henriette
Goldschmidt nannte spaeter Emilie Wuestenfeld "ihre liebe
Gesinnungsgenossin", da diese, ebenso wie sie selbst, "eine Reform der
Erziehung des weiblichen Geschlechtes, eine neue Grundlage fuer die
Fortbildung der erwachsenen weiblichen Jugend _als notwendigen
Ausgangspunkt fuer den Eintritt der Frau in die Kulturarbeit der Zeit_ fuer
notwendig hielt," vor allem aber war sie Henriette Goldschmidt deshalb
eine "liebe Gesinnungsgenossin", weil Emilie Wuestenfeld Henriette
Goldschmidts Ueberzeugung teilte, "_dass dieser Ausgangspunkt in der
gluecklichsten Weise in der Paedagogik Froebels vorhanden_" sei.
Das also war die historische Grundlage fuer Henriette Goldschmidts _Idee
einer Frauenhochschule_.
Im Jahre 1910 endlich - sie war inzwischen 84 Jahre alt geworden - erhielt
Henriette Goldschmidt eine grosse Stiftung zur Verwirklichung ihres
Gedankens.
Und nun ging sie ans Werk.
Bereits im Oktober 1911 konnte die neue Anstalt in ihrem stattlichen Heim
zu Leipzig eroeffnet werden.
_Klarer und zielsicherer als einst die Hamburger Frauenhochschule wollte
die Leipziger Anstalt den grossen Gedanken Froebels verwirklichen_, den
Gedanken, das weibliche Geschlecht seiner instinktiven Taetigkeit zu
entheben und es von seiten seines Wesens und seiner menschheitpflegenden
Bestimmung ganz zu derselben Hoehe wie das maennliche Geschlecht zu erheben.
- Das erste (von Henriette Goldschmidt entworfene) Programm der neuen
Anstalt verkuendete daher: "Die Hochschule will
1. der Frau fuer die Ausuebung des muetterlichen Erziehungsberufes eine
auf gruendlicher Einsicht beruhende Vorbereitung geben und
2. die Frau befaehigen, sich den mannigfaltigen gemeinnuetzigen Aufgaben,
die ihr innerhalb der Gemeinde des Staates und der Gesellschaft
erwachsen, mit weitem Blick und mit vollem Verstaendnis fuer die
Beduerfnisse der Gegenwart zu widmen."
Zu diesem Zweck wurde die regelmaessige Abhaltung "_freier Vorlesungen_" ins
Auge gefasst, und zwar wurden drei Gruppen gebildet, naemlich
I. Vorlesungen fuer allgemeine Bildung,
II. Paedagogische Vorlesungen,
III. Sozialwissenschaftliche Vorlesungen.
Das Programm sah fuer die verschiedenen Gruppen im einzelnen vor:
"*I. Vorlesungen fuer allgemeine Bildung.*
A. _Philosophische Vorlesungen_.
1. Einleitung in die Philosophie,
2. Geschichte der Philosophie,
3. Darstellung der Philosophie einzelner hervorragender Denker,
4. Allgemeine Psychologie,
5. Ethik,
6. Aesthetik.
B. _Geschichtliche Vorlesungen_.
Vorlesungen
1. aus Kulturgeschichte,
2. aus solchen Abschnitten der politischen Geschichte, die zum
Verstaendnis der Gegenwart dienen,
3. aus Literaturgeschichte,
4. aus Kunstgeschichte.
C. _Naturwissenschaftliche Vorlesungen_.
Vorzugsweise sind Vorlesungen ueber Fragen der Biologie in Aussicht
genommen. Doch sollen auch Geologie, Physik und Chemie in den Umkreis der
Vorlesungen gezogen werden.
II. *Paedagogische Vorlesungen.*
1. Kinderpsychologie,
2. Vorlesungen aus der Geschichte der paedagogischen Bewegungen,
besonders des 18. und 19. Jahrhunderts und der Gegenwart,
3. Geschichte der Erziehung des weiblichen Geschlechts,
4. Erziehungsprobleme,
5. Gesundheitspflege in Haus und Schule.
III. *Sozialwissenschaftliche Vorlesungen*
(einschl. Staats- u. Rechtswissenschaft).
1. Vorlesungen allgemeineren national-oekonomischen Charakters,
2. Geschichte der Frauenbewegung,
3. Die soziale Arbeit der Frau,
4. Die Stellung der Frau im Recht,
5. Geschichte der politischen Parteien der neuesten Zeit,
6. Einfuehrung in die Staatswissenschaft."
Neben diesen freien Vorlesungen, die fuer alle nach Bildung strebenden
Frauen zugaenglich sein sollten, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten,
waren _Studienkurse_ zur Ausbildung auf bestimmte Frauenberufe vorgesehen.
Der Eintritt in diese Studienkurse setzte eine sachgemaesse Vorbildung
voraus. Es wurden eingerichtet:
I. Studienkurse fuer Lehrerinnen der paedagogischen Faecher an
Kindergartenseminaren, Frauenschulen und anderen Lehranstalten und
II. Studienkurse fuer soziale Berufstaetigkeit.
Das war die Anstalt, die 1911 als "Hochschule fuer Frauen" in Leipzig
eroeffnet wurde, die Anstalt, die nach Henriette Goldschmidts eigenen
Worten die Kroenung ihres Lebenswerkes darstellte und ueber deren Pforte ihr
Lieblingswort leuchtete:
'_Der Erziehungsberuf ist der Kulturberuf der Frau_'.
DIE NACHWIRKUNG UND FORTENTWICKLUNG IHRER IDEEN AN DER LEIPZIGER
HOCHSCHULE FUeR FRAUEN.
Zehn Jahre hat die Anstalt als "Hochschule fuer Frauen" bestanden. Der im
Voranstehenden abgedruckte Plan von 1911 wurde im Laufe dieser Jahre
vielfach abgeaendert und erweitert. Aber die treibende Kraft fuer all diese
Reformen war nicht eigentlich mehr Henriette Goldschmidt, sondern die
Initiative ging jetzt aus von den verschiedenen _Vertretern der einzelnen
Hauptfaecher_, die ihr Lehr- und Arbeitsgebiet - zum Teil auf Anregungen
von aussen - erweitern und ausbauen mussten. Eine ausfuehrliche Darstellung
dieser Entwicklung gehoert daher nicht in eine Biographie Henriette
Goldschmidts. Immerhin wird es den Lesern erwuenscht sein, die Nachwirkung
und allmaehliche Realisierung der Goldschmidtschen Ideen wenigstens in
grossen Zuegen kennen zu lernen. Darum seien im folgenden aus der Geschichte
der Leipziger Frauenhochschule die wichtigsten Daten angegeben:
_Im Winter-Semester 1911/12_ wurde die "Hochschule fuer Frauen" als Anstalt
des "Vereins fuer Familien- und Volkserziehung" mit zusammen 898 Hoererinnen
und Studierenden eroeffnet. Sie umfasste damals drei Abteilungen, naemlich
a. die _Allgemeine Abteilung_ (in erster Linie fuer Hoererinnen
bestimmt),
b. die _Paedagogische Abteilung_ (bestimmt zur Ausbildung von
Lehrerinnen der Froebelschen Paedagogik an
Kindergaertnerinnenseminaren, Frauenschulen usw.),
c. die _Sozialwissenschaftliche Abteilung_ (bestimmt zur Ausbildung von
beruflichen und ehrenamtlichen Kraeften fuer das gesamte Gebiet der
sozialen Arbeit).
Im _Sommer-Semester 1913_ traten neu hinzu besondere Kurse zur
_Fortbildung staatlich gepruefter_ und in laengerer Praxis bewaehrter
_Krankenschwestern_ fuer leitende Posten (Oberinnen, Oberschwestern,
lehrende Schwestern). Im Herbst 1916 wurden diese Kurse in eine
selbstaendige Abteilung umgewandelt.
_Ostern 1914_ wurde der umfangreiche, mit allen Einrichtungen moderner
Unterrichtstechnik ausgestattete _Erweiterungsbau_ in Benutzung genommen.
(Koenigstr. 18/20).
Vom _Sommer-Semester 1914_ an wurde - nachdem die dazu noetigen
Laboratorien in der Anstalt geschaffen worden waren - die _Naturkundliche
Abteilung_ ausgebaut, die der Ausbildung technischer Assistentinnen fuer
medizinische und industrielle Laboratorien dient.
Im _Winter-Semester 1916/17_ erfolgte die rechtliche und finanzielle
Losloesung der Hochschule vom "Verein fuer Familien- und Volkserziehung" und
ihre Umwandlung in eine selbstaendige, dem saechsischen Ministerium des
Kultus und oeffentlichen Unterrichts unmittelbar unterstellte _rechtsfaehige
Stiftung_.
_Ostern 1917_ wurden Lehrgaenge zur Ausbildung staatlich gepruefter
_Jugendleiterinnen_ an die Anstalt angegliedert.
Seit _Sommer-Semester 1917_ wurden allmaehlich fuer alle Abteilungen (mit
Ausnahme der Allgemeinen Abteilung) _staatliche Pruefungen_ eingerichtet.
Am _1. April 1921_ loeste sich der "_Verein fuer Familien- und
Volkserziehung_" auf und vermachte der Hochschule neben seinen
Grundstuecken und sonstigen Vermoegenswerten seine saemtlichen Anstalten
(Froebel-Frauenschule, Seminar fuer Kinderpflegerinnen,
Henriette-Goldschmidt-Kinderheim und drei Volkskindergaerten).
Am _1. Oktober 1921_ ging die Stiftung "Hochschule fuer Frauen" mit ihren
gesamten Anstalten _in den Besitz der Stadt Leipzig_ ueber unter
gleichzeitiger Umgestaltung und Verschmelzung der verschiedenen
Lehranstalten zu einem "_Sozial-paedagogischen Frauenseminar_", bestehend
aus folgenden Abteilungen:
_ 1. Frauenhochschulkurse_ (bisherige Allgemeine Abteilung).
_ 2. Wohlfahrtsschule_ (zur Ausbildung von Wohlfahrtspflegerinnen und
sonstigen Sozialbeamtinnen auf Grund der staatlichen Pruefungsordnung
von 1921).
_ 3. Ausbildungsanstalt fuer Jugendleiterinnen_ (Lehrbetrieb und Pruefung
geregelt nach den staatlichen Bestimmungen Sachsens vom 6. Februar
1918).
_ 4. Oberinnen-Lehrgang_ zur Fortbildung staatlich gepruefter
Krankenschwestern fuer leitende Stellungen in der Krankenpflege (mit
staatlich genehmigter Pruefungsordnung von 1917).
_ 5. Lehranstalt fuer technische Assistentinnen_ (mit staatlich
genehmigter Pruefungsordnung vom 15. Oktober 1917).
_ 6. Froebel-Frauenschule bzw. Kindergaertnerinnenseminar_ (Lehrbetrieb
und Pruefung geregelt nach den saechsischen Bestimmungen vom 6.
Februar 1918).
_ 7. Seminar fuer Kinderpflegerinnen_ (ohne staatliche Pruefung).
_ 8. Soziale Anstalten bzw. Uebungsstaetten_
(Henriette-Goldschmidt-Kinderheim, 3 Volkskindergaerten und eine
Kinderlesehalle).
Es ist haeufig die Frage aufgeworfen worden, _warum die Umwandlung der
Frauenhochschule in ein sozial-paedagogisches Frauenseminar erfolgt sei_.
Die Umwandlung hat sich in Wirklichkeit allmaehlich ganz von selbst
vollzogen.
Der Entfaltung des innersten Frauentums im Sinne der
Froebel-Goldschmidtschen Idee der allgemeinen Hoeherbildung des weiblichen
Geschlechts "um seiner menschheitpflegenden Bestimmung willen" (vgl. S.
146 ff.) sollte die Anstalt _urspruenglich_ dienen. Dieser hohen
Kulturaufgabe wegen war bei der Gruendung der Name "Hochschule fuer Frauen"
gewaehlt worden. Man hatte geglaubt, dass zahlreiche Frauen rein um dieser
Idee willen die Anstalt besuchen wuerden.
Aber die Entwicklung verlief anders.
Die grosse Idee der Anstalt wurde nur von ganz wenigen richtig verstanden.
Diese wenigen konnten sich meist aus wirtschaftlichen Gruenden nicht eine
hochschulmaessige Weiterbildung leisten, die nicht mit Sicherheit
unmittelbaren praktischen Nutzen versprach. Die Verhaeltnisse in unserem
Vaterlande haben es nun einmal mit sich gebracht, dass jetzt die meisten
Frauen eine _gruendliche Ausbildung fuer bestimmte, wirtschaftliche
Sicherheit bietende Berufe_ suchen muessen. Dieses immer staerker
hervortretende Beduerfnis nach _solcher_ Berufsbildung bestimmte mit Recht
in der Folge mehr und mehr den weiteren Ausbau der Anstalt (vgl. S.
170-172). Die urspruengliche Idee wurde dadurch allmaehlich in den
Hintergrund gedraengt und schliesslich ganz vergessen.
Man beschraenkte sich bei der Auswahl der Berufe, fuer die die
Frauenhochschule vorbereiten sollte, bewusst auf spezifische Frauenberufe,
also auf solche, die den Frauen Gelegenheit geben, ihre urspruengliche
Naturanlage zu entfalten. Es kamen da in erster Linie in Frage die uralten
Domaenen der Frauenarbeit: Kinderpflege, Wohlfahrtspflege und
Krankenpflege. Zwar konnte man sich auch auf anderen Schulen dafuer
ausbilden. Die Hochschule aber beabsichtigte, fuer diese wichtigen
Arbeitsgebiete gruendlicher und umfassender, eben hochschulmaessiger
vorzubereiten, als dies anderswo geschah. - Aber auch dieser Gedanke liess
sich nicht dauernd verwirklichen, da inzwischen der Staat nach und nach
fuer alle in Betracht kommenden Frauenberufe allgemeinverbindliche
Ausbildungs- und Pruefungsvorschriften erliess, denen sich naturgemaess auch
die Frauenhochschule anpassen musste, was Erleichterungen ihrer bisherigen
Aufnahme- und Pruefungsvorschriften sowie Kuerzungen ihrer Studienplaene
noetig machte.
So war denn die Anstalt im Jahre 1921 tatsaechlich bereits eine
Berufsschule fuer Frauen geworden, die in aeusseren und rechtlichen
Beziehungen (Aufnahmebestimmungen, Dauer der Ausbildung, Kosten, Pruefungen
und Anstellungsmoeglichkeiten) mit entsprechenden anderen Anstalten in
Deutschland uebereinstimmte. Es war daher nur eine letzte Konsequenz dieser
Entwicklung, dass beim Uebergang der Anstalt an die Stadt Leipzig dies auch
im Namen der Schule zum Ausdruck gebracht wurde. Es waere innerlich unwahr
gewesen, wenn der Name "Hochschule" beibehalten worden waere, nachdem die
Entwicklung ausserhalb und innerhalb der Anstalt sich im Laufe eines
Jahrzehnts anders vollzogen hatte, als man bei der Gruendung der
Frauenhochschule anzunehmen berechtigt gewesen war.
Im gewissen Sinne aber besitzt das Leipziger Sozial-paedagogische
Frauenseminar auch nach seiner Anpassung an die gegenwaertigen
Zeitverhaeltnisse noch eine gewisse Eigenart, und zwar unterscheidet es
sich durch folgendes von allen aehnlichen Anstalten:
1. Die Anstalt hat sich in gewissem Umfang die frueheren guten Beziehungen
der Frauenhochschule zur Universitaet Leipzig bewahrt, wodurch die
Vielseitigkeit und Qualitaet des Lehrkoerpers und damit das Niveau sowie der
vorwiegend akademische Charakter des Unterrichtsbetriebs in den hoeheren
Abteilungen des Sozial-paedagogischen Frauenseminars sichergestellt ist.
2. Die Anstalt vermeidet bewusst die Einstellung auf die Fachausbildung fuer
nur einen Frauenberuf, wie das die sonstigen Froebelseminare, sozialen
Frauenschulen u. dgl. tun. Die bisherige zehnjaehrige Erfahrung hat
gezeigt, wie vorteilhaft es fuer die Erweiterung des Gesichtskreises der
Schuelerinnen ist, wenn sich an derselben Bildungsstaette Lehrer und
Schuelerinnen mit den verschiedensten geistigen Interessen und Berufszielen
zusammenfinden. Aus diesem Grunde wird neben gruendlicher theoretischer und
praktischer Fachausbildung Gelegenheit geboten zu umfassender allgemeiner
Fortbildung der Schuelerinnen nach eigener Wahl. Ohne dem eigentlichen
paedagogischen Grossbetrieb das Wort reden zu wollen, muss doch gesagt
werden, dass nun einmal ein paedagogischer Zwergbetrieb - wie ihn die
meisten derartigen Anstalten darstellen - von wenigen, besonders guenstig
liegenden Ausnahmefaellen abgesehen, in persoenlicher und sachlicher
Beziehung nicht die gleiche Leistungsfaehigkeit entfalten kann, wie eine
grosse oeffentliche Lehranstalt.
Henriette Goldschmidt schrieb 1911 im ersten Plan fuer die
Frauenhochschule: "_Es fehlt bisher an einer hoeheren paedagogisch-sozialen
Bildungsstaette fuer die Frauenwelt._" - Und sie hatte Recht. Ueberall
bestanden paedagogische und soziale Berufsschulen fuer Frauen _nur
getrennt_. Unsere moderne Kulturentwicklung aber, besonders der starke
soziale Zug unserer Zeit und die jetzt immer mehr sich verbreitende
Erkenntnis, dass gewisse Noete unseres Volkes nur durch grossangelegte
Erziehungsmassnahmen beseitigt werden koennen, _macht eine Vereinigung
paedagogischer und sozialer Arbeit_ dringend noetig. Je inniger die
Verbindung beider ist, umso reicher werden sich beide Teile gegenseitig
befruchten. Darum muessen schon waehrend der Ausbildungszeit unserer
zukuenftigen paedagogischen und sozialen Berufsarbeiterinnen so viel als
moeglich Faeden hinueber und herueber gesponnen werden. Das hatte Henriette
Goldschmidt erkannt und _erstrebt_, das will - getreu seiner Tradition -
das Sozial-paedagogische Frauenseminar der Stadt Leipzig in seiner jetzigen
Form _verwirklichen_.
Das Erbe Henriette Goldschmidts ist also nicht aufgegeben worden, _es lebt
fort_, nur in anderer, in zeitgemaesserer Gestalt, es lebt und wirkt fort
zum Segen unseres Volkes.
ANMERKUNGEN
1 In seinen Briefen schrieb spaeter _Karl Jatho_ ueber Dr. Goldschmidt
an seine Eltern:
Leipzig, d. 9. 11. 1872.
Eine ebenso angenehme wie nuetzliche und belebende Bekanntschaft habe
ich gemacht an dem hiesigen Rabbiner Dr. Goldschmidt - seine Frau
hielt vor einigen Jahren in einer Weiberemanzipationsversammlung zu
Kassel eine Rede, vielleicht erinnert Ihr Euch dieses Vorfalles
noch. Er ist ein Mann von ebenso wahrem Wissen als Gemuet und Herz;
seine Religion ist die Menschenliebe, sein Glaube haelt sich an einen
Gott, der in der Seele vorgebildet ist; im uebrigen unerkennbar, also
nur demuetiger Verehrung zugaenglich. Daraus wird es erklaerlich, dass
er ebenso teilnehmend in seiner nationalen wie in der christlichen
Theologie jeder Konfession arbeitet und lebt, ueberdies aber die
Philosophie als Mutter und Grund aller idealen Wissenschaften hoch
schaetzt und gruendlich studiert hat ... Und so kamen wir in ein
Gespraech ueber den Zwiespalt der Bekenntnisse, welcher umso
betruebender sei, je klarer sich die Einheit des rein menschlichen,
der guten wie schlechten Eigenschaften herausstelle ...
Leipzig, d. 21. 12. 72.
Da ist hier mein Goenner, der Rabbiner (Dr. Goldschmidt), mit dem ich
sehr rege und freudig verkehre, nach wie vor meine innigste Freude
und Verehrung. Nicht einmal verlasse ich sein Haus, wo ich nicht
eine frische Anregung zum Guten, zum Nuetzlichen empfangen haette; er
zieht alles Entgegentretende in den Ring seiner Taetigkeit, die rein
wie lauteres Gold im Wohl und Glueck der Mitmenschen ihren sich
selbstumfassenden Abschluss findet. Dabei stehen ihm die Mittel der
Gelehrsamkeit, der Weltkenntnis, der eindringlichen Rede zu Gebote,
kurz, er besitzt so vielerlei, was ich mit keinem anderen Ausdruck
zu benennen weiss als einer gesunden Religiositaet, die, frei von
aller Dogmatik, nur in der Tat ihr hoechstes Ziel erkennt. Wirken ist
sein Losungswort, Menschlichkeit der Grundton seines Charakters. Er
sucht den Himmel auf der Erde und in seinem Herzen, das im
Bewusstsein einer guten Tat den vollen Genuss eines goettlichen
Friedens empfindet ...
2 "Vom Kindergarten zur Hochschule fuer Frauen. Ein Rueckblick auf die
Anfaenge der deutschen Frauenbewegung und das Erziehungswerk
Friedrich Froebels." (Zeitschrift fuer paedagogische Psychologie 1918.)
_ 3 Originalgetreue Neuausgabe_ erschien im Verlag Ernst Wiegandt,
Leipzig. _Abgeaenderte Neuausgabe_ (bearbeitet von Henriette
Goldschmidt) in der Jaeger'schen Verlagsbuchhandlung, Leipzig.
4 Aufbewahrt im Archiv des Sozialpaedagogischen Frauenseminars der
Stadt Leipzig.
5 Ich habe in meiner Schrift "_Friedrich Froebel_" II. Aufl. 1920 (Bd.
82 der Sammlung "Aus Natur und Geisteswelt". B. G. Teubner, Leipzig)
an der Hand zahlreicher neuer Quellen gezeigt dass das
"_Kindergartenverbot_" wahrscheinlich eine Massnahme gegen die damals
zahlreich entstandenen freien Gemeinden sein sollte. Darum darf ich
in diesem Zusammenhang von einer naeheren Darstellung jener Vorgaenge
absehen.
BEMERKUNGEN ZUR TEXTGESTALT
Die Originalausgabe ist in Fraktur gesetzt. In Antiqua gesetzt sind in ihr
einzelne Woerter aus fremden Sprachen. Sie sind hier durch Unterstrich (_)
gekennzeichnet (bis auf roemische Zahlen und die Abkuerzung "Dr."), ebenso
wie gesperrt gesetzte Woerter. Fettdruck ist durch * gekennzeichnet.
Korrektur von offensichtlichen Druckfehlern:
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Seite 39: doppeltes Anfuehrungszeichen ergaenzt hinter "Fremde'."
Seite 67: "Eingegeweihten" geaendert in "Eingeweihten"
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