| # taz.de -- Verfassungsgericht zum Wahlrecht: Generalabrechnung in Karlsruhe | |
| > Grüne, Linke und FDP klagten gegen das aktuelle Bundestagswahlgesetz. Das | |
| > Bundesverfassungsgericht nutzte das Verfahren für Grundsatzkritik. | |
| Bild: „Wo ist die Selbstbestimmung, wenn ich mir das Wahlrecht erst von einem… | |
| Karlsruhe taz | Das Bundesverfassungsgericht neigt dazu, alle Wahlgesetze | |
| für verfassungswidrig zu erklären, die durchschnittliche Bürger:innen | |
| beim Lesen nicht verstehen. Das zeichnete sich in Karlsruhe bei der | |
| mündlichen Verhandlung um das aktuelle Bundeswahlgesetz am Dienstag ab. | |
| Eigentlich ging es um das bislang noch geltende Bundeswahlgesetz, auf | |
| dessen Grundlage der derzeitige Bundestag gewählt wurde und das bald wohl | |
| noch einmal [1][für eine Wiederholungswahl in Berliner Wahlkreisen] zum | |
| Einsatz kommt. | |
| Das Gesetz war 2020 von der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD | |
| beschlossen worden. 216 Abgeordnete von Grünen, Linken und FDP klagten | |
| damals per Normenkontrolle dagegen, weil es die CDU/CSU leicht bevorzuge, | |
| indem drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Juristisches | |
| Hauptargument der damaligen Opposition war, das Gesetz sei nicht | |
| „normenklar“. So sei uneindeutig, ob es um drei Mandate bundesweit oder pro | |
| Bundesland gehe. | |
| ## Grundsatzurteil möglich | |
| Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat aus dieser Klage nun | |
| eine Generalabrechnung mit allen bestehenden und künftigen Wahlgesetzen | |
| gemacht. Der [2][federführende Richter Peter Müller] erinnerte daran, dass | |
| Karlsruhe schon oft verständlichere Wahlgesetze angemahnt hat. | |
| Jetzt plant er wohl ein Grundsatzurteil, wonach Wahlgesetze immer dann | |
| gegen das Demokratieprinzip verstoßen, wenn Bürger:innen sie beim Lesen | |
| nicht verstehen. Schließlich verwirkliche sich im Demokratieprinzip die | |
| Menschenwürde, weil es Selbstbestimmung ermögliche. „Aber wo ist die | |
| Selbstbestimmung, wenn ich mir das Wahlrecht erst von einem Anwalt erklären | |
| lassen muss?“, fragte Richter Müller. | |
| Viele hatten sich von der Karlsruher Verhandlung über das Wahlgesetz offene | |
| oder versteckte Randbemerkungen zum neuen, [3][im März beschlossene | |
| Wahlgesetz] erhofft. Dort war der Bundestag auf Kosten von Direktmandaten | |
| verkleinert worden und außerdem zu Lasten der Linken und der CSU die | |
| [4][Grundmandateklausel gestrichen] worden. Doch in den ersten Stunden | |
| spielte das keine Rolle. Denn wenn das Bundesverfassungsgericht mit Müllers | |
| Ansatz Ernst macht, dann ist kein Wahlgesetz in Bund und Ländern mehr | |
| verfassungskonform. Alle Wahlgesetze müssten neu beschlossen werden. | |
| Rechtsprofessor Bernd Grzeszick, der den Bundestag vertrat, zeigte sich | |
| erstaunt. Die Bundestagswahl 2021 sei doch problemlos verlaufen (außer in | |
| Berlin, doch das hatte andere Gründe). Alle hätten grob gewusst, wie die | |
| Wahl funktioniert: dass es Stimmen für die Partei gibt und Stimmen für die | |
| Wahlkreisbewerber:innen. Alle technischen Details, wie die Stimmen dann im | |
| Mandate umgerechnet werden, interessierten die meisten Bürger:innen doch | |
| überhaupt nicht. Solche Normen richteten sich nur an die Wahlbehörden. | |
| ## Warnung vor „populistischen Missverständnis“ | |
| Für die Bundesregierung stimmte Rechtsprofessor Heinrich Lang zu. „Wer | |
| liest schon Paragraf 6 des Bundeswahlgesetzes, bevor er wählen geht?“ Auch | |
| er hielt es für ausreichend, wenn die Bürger:innen die Grundzüge des | |
| Wahlrechts verstehen. | |
| Die geladenen Sachverständigen warnten das Verfassungsgericht ebenfalls. | |
| „Die Laienperspektive ist im Wahlrecht wenig geeignet“, sagte Martin | |
| Morlok, der jahrzehntelang führende deutsche Wahlrechtler. Die Umsetzung | |
| von Millionen Stimmen in konkrete Mandate setze nun mal komplizierte | |
| mathematische Verfahren voraus. | |
| Rechtsprofessor Emanuel V. Towfigh wurde grundsätzlich: „Die Rechtslage ist | |
| in einer modernen Gesellschaft notwendigerweise komplex.“ Die Gesetzgebung | |
| könne nicht so simpel sein, dass alle Bürger:innen sie verstehen. Wenn | |
| es darauf ankomme, müsse man sich eben beraten lassen. Er warnte vor dem | |
| „populistischen Missverständnis“, dass eine abgehobene Juristenkaste die | |
| Bürger:innen an den Rand schiebe. | |
| Im Lauf der Verhandlung zeigte sich jedoch, dass Richter Müller im Zweiten | |
| Senat breit unterstützt wird. Das Urteil wird in einigen Wochen verkündet. | |
| 18 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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