| # taz.de -- „Schmerz“ von Zeruya Shalev: Das Buch hält den Blick niedrig | |
| > Schmerzhafte Literatur: Ist Zeruya Shalevs Roman psychologische | |
| > Erzählkunst oder doch nur assoziative emotionale Erzählweise? | |
| Bild: Die Autorin Zeruya Shalev. | |
| War klar, dass ich als Schmerzkolumnist der taz das Buch hier lesen musste, | |
| auch wenn ich mich mit Zeruya Shalevs Welterfolg „Liebesleben“ damals sehr | |
| schwergetan habe. | |
| Ihr Stil behagte mir nicht. Auch in diesem Buch, ihrem fünften Roman, | |
| „Schmerz“, macht sie es den Lesenden nicht leicht: Shalev knüpft ihre Sät… | |
| aneinander, sie mag das Komma, ihre Sätze sind unechte Parataxen, | |
| Satzgirlanden, die assoziativ aneinanderhängen, weswegen man bei der | |
| israelischen Autorin gern von einer psychologischen Erzählkunst redet. Man | |
| könnte aber auch von einer emotionalen Erzählweise reden, einer, die am | |
| Sentiment, am Gefühl klebt, und sich gern selbstverliebt in Redundanzen | |
| suhlt. | |
| Die Handlung ist schnell nacherzählt. Iris, Schuldirektorin in Jerusalem, | |
| verheiratete Mutter zweier Kinder, leidet seit zehn Jahren an den Folgen | |
| eines Selbstmordattentats auf einen Linienbus. Als sie im Auto den Bus | |
| überholen wollte, explodierte er. | |
| Seitdem ist sie auf Schmerzmitteln unterwegs und ist, folgt man den langen | |
| selbstbeschreibenden Strecken, auch tatsächlich eine Schmerzensfrau: Ihre | |
| Ehe ist in Routinen erstarrt, zu ihrer Tochter Alma findet sie kein rechtes | |
| Verhältnis, auch die Nähe zu ihrem Sohn Omer bleibt oberflächlich. | |
| ## Traum der wahren Liebe | |
| Als ihr ein neuer Schmerztherapeut empfohlen wird, verändert sich ihre | |
| Welt. Die neue Schmerztherapie wird die Liebe sein, denn der Therapeut ist | |
| niemand anderes als Eitan Rosenfeld, die Liebe ihrer Jugend, ihre, wie man | |
| so schön sagt, große Liebe. Denn tatsächlich empfindet Dr. Rosen, wie er | |
| jetzt heißt, nach diesem unverhofften Wiedersehen zunächst genauso: Der | |
| lose Faden kann wieder aufgenommen, die einstmals zerrissenen Bande können | |
| wieder zusammengefügt werden. Der Traum von der endlichen Vereinigung mit | |
| der einzig wahren Liebe wird wahr. | |
| Aber, und hier endet unser Referat, der Schmerztherapeut ist nicht nur | |
| derjenige, der den Schmerz heilt, sondern auch der, der ihn verursacht hat, | |
| jedenfalls den älteren, seelischen. Damit ist er auch derjenige, der den | |
| jüngeren, politischen Schmerz vielleicht erst bedingt hat. | |
| Sharevs Roman ist somit mitnichten ein Kommentar zur Lage in Israel, zum | |
| andauernden Konflikt mit den Palästinensern. Nein, er hält den Blick | |
| niedrig, er lässt den Blick im rein Privaten. Das ist schade, denn die | |
| privaten ideologischen Aufbauten – Ehebegriff, Lebensinhalt, der Begriff | |
| der echten, wahren Liebe – werden auch erst spät und dann ebenso privat | |
| reflektiert. | |
| Trotzdem macht der Roman unerhörte Räume auf. Shalev weiß ja auch, wovon | |
| sie schreibt (und das meine ich nicht nur, weil sie selbst im Januar 2004 | |
| einem Attentat nur knapp entkommen ist): Die Vorgängerromane gelten nicht | |
| umsonst als Standardwerke der Gefühlsliteratur, als Bestseller mit | |
| psychologischem (aber notabene nicht: psychoanalytischem) Anspruch. Es sind | |
| die großen Themen – die Liebe vor allem –, die in ihren Büchern nicht nur | |
| verhandelt, sondern bis ins kleinste Detail durcherzählt werden. So auch | |
| diesmal. | |
| Shalevs Stil bleibt dabei immer gewöhnungsbedürftig. Ihre Fans werden sich | |
| auch „Schmerz“ wie ein Neuroleptikum reinpfeifen können. Andere Leser | |
| werden sich öfter mal fragen, ob Sätze wie die folgenden nicht eine Prüfung | |
| darstellen, die einem die Lektüre auch vergällen kann: „Wo ist eigentlich | |
| diese Jacke, fragt sie plötzlich, ich habe sie seit Jahren nicht mehr | |
| gesehen, und zu ihrem Erstaunen versteht er sie sofort und antwortet, sie | |
| passt mir schon lange nicht mehr, ich habe sie Schula gegeben, für ihren | |
| Mann, und sie dreht sich um, geht zur Küche und kocht frischen Kaffee, wie | |
| schwer ist es doch, eine einzelne Minute aus dem Leben herauszugreifen, | |
| diese Minute zum Beispiel, denn an jede Minute fügt sich eine weitere“. | |
| Und so weiter. Die Jacke ist übrigens genau die, die ihr Mann am Tag des | |
| Attentats trug, und wie eine solche werden auch andere Details immer wieder | |
| hin und her gewendet in diesem Buch. (Kaffee ist aber, nebenbei, immer | |
| „frisch“, wenn er gerade gekocht wird.) | |
| Am Ende wird es auch eine Lösung für den Grundkonflikt geben, den zwischen | |
| Jugendliebe und Eheleben. Es ist eine, die pragmatisch erscheint, insofern | |
| vielleicht auch die richtige ist. Mehr soll hier nicht verraten werden. Ob | |
| Pragmatik aber auch gegen den Schmerz hilft, wäre dann das Thema für eine | |
| mögliche Fortsetzung. | |
| 25 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| René Hamann | |
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