| # taz.de -- Nachbarschaft in Syrien: Die Kraft des Brotes | |
| > In Qamischli ist Brot nicht nur ein Lebensmittel, das die hungrigen | |
| > Bäuche sättigt. Es schlägt auch eine Brücke zwischen Bewohner:innen | |
| > der Stadt. | |
| Bild: Außen knusperig braun und köstlich duftend: Brote in Qamischli | |
| Wenn früh am Morgen das zarte Sonnenlicht auf die Straßen von [1][Qamischli | |
| im Nordosten Syriens] fällt, versammeln sich viele der Einwohner:innen | |
| vor den Bäckereien der Stadt. Es ist die unausgesprochene tägliche | |
| Verabredung. Und nichts deutet darauf hin, dass die langen Warteschlangen | |
| im Straßenbild mehr sein könnten als das ermüdende Anstehen für einen | |
| runden Laib Brot voller Löcher – außen knusperig braun und so köstlich | |
| duftend, dass man schon auf dem Nachhauseweg davon nascht. | |
| Was dort tatsächlich geschieht, ist etwas ganz anderes. Tag für Tag warten | |
| vor den Bäckereien Männer in einfacher Arbeitskleidung, bereit für einen | |
| langen Tag, einige in verblichenen Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln, | |
| andere in traditionellen Dishdashas-Gewändern mit Tüchern über den | |
| Schultern gekleidet. Frauen in schwarzen Abayas-Kleidern mit bestickten | |
| Tüchern und alten Stofftaschen für das Brot in den Händen. Verschlafene | |
| Schulkinder, den Ranzen auf den Rücken geschnallt und ältere Menschen, die | |
| sich auf Holzstöcke stützen oder auf einem Stein in der Nähe sitzend | |
| warten, bis sie an der Reihe sind. | |
| Manchmal höre ich dort einen Satz auf [2][Arabisch], dann auf [3][Kurdisch] | |
| oder Aramäisch und in dem hier typischen Jazira-Dialekt, der die Sprachen | |
| miteinander verbindet. Oft gefolgt von Gelächter oder einer sarkastischen | |
| Bemerkung. Hier ist das Brot nicht nur ein Lebensmittel, um die vielen | |
| hungrigen Bäuche vor der Schule oder Arbeit zu sättigen, vielmehr schlägt | |
| es eine Brücke, die die Bewohner:innen unterschiedlicher Religionen, | |
| Sprachen, Klassen und Generationen miteinander verbindet. Das Brot, das wir | |
| teilen, stimmt uns solidarisch miteinander, es gibt uns ein Gefühl von | |
| Zugehörigkeit. | |
| Ich erinnere mich an einen Morgen, an dem ein älterer kurdisch stämmiger | |
| Mann einen Laib Brot aus der Tüte zog und fragte: „Ist das Brot oder Gold?“ | |
| Die Wartenden brachen in Gelächter aus. Dass man hier bis zu einer Stunde | |
| lang auf einen Laib Brot warten musste, der teuer war, erschien absurd. | |
| Dass man es dennoch tat und gemeinsam darüber lachen konnte, tröstlich. | |
| Es ist schon bemerkenswert, dass sich viele der Vorurteile gegenüber meinen | |
| Nachbarn, die mir früher durch den Kopf gingen, an der Bäckerstür | |
| auflösten. Onkel Mahmoud, der mürrisch wirkende Mann von nebenan, erwies | |
| sich als guter Witzeerzähler, der mit den Kindern in der Warteschlange | |
| spielte. Eine Frau, die bei Begegnungen in unserem Viertel unnahbar wirkte, | |
| erzählte einmal mit sanfter Stimme, wie das Brot an Feiertagen kostenlos an | |
| Christen verteilt wurde. Hier in der Warteschlange schmolzen selbst die | |
| hartnäckigsten Stereotype dahin. Denn niemand fragte: Zu welcher Partei | |
| gehörst du? Oder zu welcher Konfession? Die alles entscheidende Frage | |
| lautete: Bist du an der Reihe? Oder: Möchtest du ein Brot für die kranke | |
| Nachbarin mitnehmen, die es nicht mehr bis zum Bäcker schafft? | |
| Es stimmt, dass 14 Jahre Bürgerkrieg Wunden und Bitterkeit bei den Menschen | |
| hinterlassen haben, doch die morgendlichen Gespräche der Wartenden vor den | |
| Bäckereien meiner Stadt brachten die Menschen zusammen. | |
| Wenn ich an diesen Tagen mit den noch warmen Broten nach Hause komme, habe | |
| ich das Gefühl, dass ich nicht nur Brot für meine Familie mitgebracht habe, | |
| vielmehr viele kleine Geschichten voller Freude und Mitmenschlichkeit. Sie | |
| erinnern mich daran, dass das kulturell vielfältige Qamischli Vorbild für | |
| ein gutes Zusammenleben in Syrien sein kann. | |
| 2 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ronak Mohammad Shikhi | |
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