| # taz.de -- Die USA nach dem Super Tuesday: Das Comeback-Kid | |
| > Niemand gab mehr einen Pfifferling auf Joe Bidens Kandidatur bei den | |
| > US-Demokraten. Nun ist der 77-Jährige ernsthafter Konkurrent für Sanders. | |
| Bild: Politische Auferstehung: Joe Biden in Spartanburg | |
| NEW YORK taz | Es waren fünfzig Stunden, die die Stimmung an der | |
| Demokraten-Basis verändern sollten. Zwischen der Schließung der Wahllokale | |
| in South Carolina am Samstagabend und der Öffnung der Wahllokale in 14 | |
| Bundesstaaten und einem Territorium am Super Tuesday mobilisierte die | |
| Demokratische Partei ihre komplette Nomenklatura für einen Mann, der nur | |
| Tage zuvor politisch totgesagt worden war. | |
| Die Operation [1][Joe Biden] ging mit der Präzision eines Uhrwerks und mit | |
| der Wucht einer Dampfwalze über das Land. Sie wurde aus sämtlichen Zentren | |
| der demokratischen Macht gefüttert. Alle paar Minuten erschien eine neue | |
| Unterstützungserklärung. Zentristische Präsidentschaftskandidaten beendeten | |
| reihenweise ihre eigenen Kampagnen, um Joe Biden nun endlich den Vortritt | |
| zu lassen. | |
| Gouverneure, Senatoren, Abgeordnete und Bürgermeister der Partei – | |
| insgesamt 1.500 an der Zahl – wussten in den Stunden vor dem Super Tuesday | |
| plötzlich mit ultimativer Sicherheit, dass Joe Biden ihr Mann war. Einer | |
| nach dem anderen erklärten sie: „Biden for President“. Und kündigten ihr | |
| eigenes Engagement an seiner Seite an. | |
| Spät in der Nacht zum Mittwoch stand fest, dass es geklappt hatte. Biden | |
| stand in Los Angeles an einem Mikrofon, breitete die Arme aus und setzte an | |
| zu einer Siegesrede. Sein Sakko war schief geknöpft. Er wirkte wie so oft | |
| verloren und unkonzentriert. Stand wie ein Unbeteiligter dabei, als mehrere | |
| Demonstrantinnen die Bühne stürmten und von dort verdrängt wurden. Und | |
| begann mit einem seiner legendären Fauxpas. „Dies ist meine kleine | |
| Schwester“, sagte er, als er nach der Hand seiner Frau griff, die neben ihm | |
| stand. Die Schwester rahmte ihn auf der anderen Seite ein. | |
| „Leute, es sieht verdammt gut aus“, rief Biden nach den höflichen Lachern | |
| aus dem Publikum in das Mikrofon. Dann richtete er sich an „jene, die | |
| niedergeschlagen, ausgezählt und zurückgelassen wurden“. Ihnen widme er | |
| seine Kampagne. Zugleich erinnerte der 77-Jährige mit diesen Worten an | |
| seinen eigenen langjährigen Ruf als Comeback-Kid. | |
| In einer atemberaubenden Wende bei den demokratischen Vorwahlen hat Biden | |
| Siege in zehn Bundesstaaten davongetragen. Nachdem er schon am Samstag | |
| South Carolina haushoch gewonnen hatte, räumte er am Super Tuesday Staaten | |
| quer durch die USA ab – von Neuengland über den Süden bis nach Texas. Er | |
| etablierte sich damit als Favorit des Rennens. | |
| Es war ein triumphaler Tag für Biden. Aber während er seinen Unterstützern | |
| dankte, tröpfelte der Beifall aus der Menge nur höflich. | |
| Wenige Stunden zuvor hatte am anderen Ende der USA, in Vermont, der | |
| demokratische Sozialist [2][Bernie Sanders] seine Super-Tuesday-Rede | |
| gehalten. Er sprach in Burlington, Vermont, der Stadt, in der er 31 Jahre | |
| zuvor seine politische Karriere mit seiner ersten Wahl zum Bürgermeister | |
| begonnen hatte. In seiner von jubelnden Anhängern unterbrochenen Rede ging | |
| es um höhere Mindestlöhne und härtere Besteuerung von Spitzenverdienern, um | |
| die Definition von Krankenversicherung „als Menschenrecht und nicht als | |
| Privileg“ und um die Abschaffung von Studiengebühren. | |
| Auch Bernie Sanders erklärte, „wir werden gewinnen“. Aber für ihn war der | |
| Super Tuesday viel härter verlaufen als erwartet. Er gewann nur vier | |
| Bundesstaaten. Darunter ist zwar aller Wahrscheinlichkeit nach Kalifornien, | |
| die größte Trophäe, mit Hunderten von Delegierten. Aber Sanders schaffte | |
| in keinem der Staaten mit starken afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen | |
| den Durchbruch. Er verlor Oklahoma und Minnesota. Und er verfehlte Texas, | |
| wo er noch wenige Tage zuvor als wahrscheinlicher Sieger erschienen war. | |
| Anders als Joe Biden erwähnte der 78-jährige Bernie Sanders in seiner | |
| Ansprache nicht jene, die ihn unterstützt hatten, sondern jene, die sich | |
| gegen ihn und seine Kampagne stemmen, „das politische und das | |
| unternehmerische Establishment, die Gier der Wall Street, von | |
| Pharmakonzernen, Versicherungen und Minderalölindustrie“. Es war seine Art, | |
| die Basis auf härtere Auseinandersetzungen und mächtigere Gegner | |
| einzustimmen. | |
| Der Super Tuesday hat die Karten in dem demokratischen | |
| Präsidentschaftswahlkampf neu gemischt. Im Jahr 2019 hatte die Kampagne als | |
| die diverseste in der Geschichte der USA begonnen. Mehr als zwei Dutzend | |
| Teilnehmer kamen ins Rennen um die Nachfolge von Donald Trump. Unter ihnen | |
| waren besonders viele Frauen und Repräsentanten aus der | |
| afroamerikanischen-, der latino- und der asiatischen Bevölkerung sowie der | |
| schwule Ex-Bürgermeister einer Kleinstadt. Anfang März 2020 ist von der | |
| Vielfalt nichts und niemand mehr übrig. | |
| Am Morgen nach dem Super Tuesday steht fest, dass der Rest dieses | |
| demokratischen Vorwahlkampfs und der Weg zum Nominierungsparteitag im Juli | |
| in Milwaukee ein Duell zwischen zwei fast gleichaltrigen weißen Männern | |
| sein wird. Doch trotz dieses vermeintlich ähnlichen Erscheinungsbildes | |
| repräsentieren die beiden starke Unterschiede. Zwischen Biden und Sanders | |
| verläuft der tiefe ideologische Graben zwischen Bewahrern und Erneuerern, | |
| der die Demokraten seit Jahren spaltet. Ihr nun beginnendes Duell erinnert | |
| an eine Neuauflage der Konstellation von 2016 – mit dem Unterschied, dass | |
| dieses Mal Biden in die Rolle von [3][Hillary Clinton] geschlüpft ist. Und | |
| dass Sanders heute bekannter und beliebter ist als noch vier Jahre zuvor. | |
| Sanders hat seine Fans in den zurückliegenden Monaten immer wieder gewarnt, | |
| dass die „politische Revolution“ zahlreiche mächtige Gegenspieler habe. Er | |
| kündigte harten Gegenwind und Niederlagen an. „Wir werden nicht immer | |
| gewinnen“, mahnte er noch am Samstagabend, nachdem Biden seinen allerersten | |
| Primary-Wahlkampf in South Carolina eingefahren hatte. | |
| ## Dampfwalze gegen Sanders | |
| Doch auf die Wucht der Dampfwalze, mit der die Demokratische Partei über | |
| die Super-Tuesday-Staaten gerollt ist, war die Kampagne von Sanders nicht | |
| vorbereitet. Die großen und kleinen Unterschiede, über die die Kandidaten | |
| Klobuchar und Biden sowie O’Rourke und Buttigieg mit Tausenden von Wählern | |
| über Wochen diskutiert hatten, sie waren plötzlich nicht mehr wichtig. | |
| Stattdessen verbündeten sich alle Beteiligen für ein gemeinsames Ziel: | |
| Sanders’ Wahlsieg zu verhindern. | |
| Das Vorbild für dieses Vorgehen lieferte South Carolina. Dort schwieg der | |
| führende schwarze Demokrat Jim Clyburn, der seit Jahrzehnten im | |
| US-Repräsentantenhaus sitzt und in dem Bundesstaat als Königsmacher gilt, | |
| bis zwei Tage vor dem Super Tuesday. Dann rief er ohne jedes Wenn und Aber | |
| zur Wahl von Biden auf. In South Carolina, wo die Mehrheit der | |
| demokratischen Wähler schwarz sind und wo bis dahin ein großer Teil von | |
| ihnen unentschieden war, machte sein Engagement den Unterschied. | |
| In den Stunden nach den Vorwahlen in South Carolina hat die Demokratische | |
| Partei dieses Modell quer durch die Vereinigten Staaten eingesetzt. Das | |
| „Establishment“, wie Bernie Sanders es nennt, zeigte, wozu es fähig ist. | |
| Die Zentristen waren dabei so erfolgreich, dass Biden selbst Bundesstaaten | |
| gewann, in denen er nicht über eigene Wahlkampfbüros verfügte und in denen | |
| er nie größere Auftritte veranstaltet hat. | |
| Auch die Sanders-Kampagne legte in den Tagen vor dem Super Tuesday zu. Auch | |
| sie erweiterte ihre Basis. Auch sie erhielt Unterstützung: von | |
| Klimaorganisationen, von Einwanderergruppen und von Gewerkschaftern. | |
| Zusätzlich klopften Sanders’ Leute an mehr Haustüren und riefen bei mehr | |
| Wählern an als die Unterstützer jedes anderen Kandidaten. Bei | |
| Wahlkampfveranstaltungen in Stadien und Parks in Texas, Massachusetts, Utah | |
| und Kalifornien jubelten Tausende junge Leute Sanders zu. | |
| Aber Sanders Basis aus mehrheitlich jungen Aktivisten, von Freiwilligen, | |
| die zwar den Enthusiasmus und die Erfahrung von drei Jahren Opposition | |
| gegen Donald Trump mitbringen, und die gelernt hat, die sozialen Medien | |
| meisterhaft zu nutzen, schaffte es in den entscheidenden Stunden zwischen | |
| South Carolina und dem Super Tuesday nicht, dem Apparat der Demokratischen | |
| Partei die Stirn zu bieten. | |
| ## Noch ist nichts entschieden | |
| Joe Biden verfügt nun über 453 Delegierte gegenüber 382 für Sanders. Damit | |
| liegt Biden noch weit unter der für eine Nominierung nötigen Mehrheit von | |
| 1.991 Stimmen. Das letzte Wort über den Kandidaten, der im November Donald | |
| Trump herausfordern wird, ist noch nicht gefallen. An den beiden kommenden | |
| Dienstagen in diesem Monat finden weitere Primaries statt. Und noch bis | |
| Mitte April laufen Vorwahlen in Bundesstaaten, die Hunderte von Delegierten | |
| zu vergeben haben, darunter auch New York. | |
| Die Auseinandersetzungen zwischen Biden und Sanders, die sich bei Debatten | |
| gegenseitig als „mein Freund“ bezeichnen und die seit Jahrzehnten in | |
| Washington unterschiedliche Positionen vertreten, werden sich nun | |
| zuspitzen. Als Argumentationshilfe hat die Sanders-Kampagne Ratgeber an | |
| ihre Basis verteilt. Die großen Themen darin sind die Unterschiede zwischen | |
| den beiden Männern. | |
| Ganz oben steht die Erweiterung der Sozialversicherung, das zugleich | |
| beliebteste und am stärksten angefeindete Regierungsprogramm. Trump, wie | |
| üblich unterstützt von dem republikanischen Chef des Senats, Mitch | |
| McConnell, hat für die nächste Legislaturperiode Einschnitte in diese | |
| Sozialversicherung angekündigt. Biden hat im Laufe seiner langen Karriere | |
| in Washington vielfach solche Schritte befürwortet. Ein anderes Thema, das | |
| die Kampagne Sanders nun einsetzen will, ist der Handel. Biden, so die | |
| Argumentation, sei für all jene Abkommen wie den nordamerikanischen | |
| Freihandel bis zum China-Deal eingetreten, die in den USA Millionen von | |
| Arbeitsplätzen gekostet hätten. Sanders lehnte diese Freihandelsabkommen | |
| schon immer ab. | |
| Das dritte und zugleich komplexeste Thema für die kommenden | |
| Auseinandersetzungen zwischen Biden und Sanders wird die | |
| Krankenversicherung werden. Biden ist – als ehemaliger Vizepräsident unter | |
| Barack Obama – mitverantwortlich für die Gesundheitsreform. Sie ist | |
| populär, weil sie Millionen von zuvor nicht Versicherten Zugang zu einem | |
| Krankenschutz verschafft hat. Und sie ist zugleich unpopulär, weil immer | |
| noch viele Millionen Menschen gar nicht oder unterversichert sind, und weil | |
| die Reform nichts an den hohen Kosten im Gesundheitswesen geändert hat. | |
| Biden will an privaten Krankenversicherungen festhalten. Sanders hingegen | |
| propagiert eine staatliche Krankenversicherung für alle. Seine Kampagne | |
| wird unter anderem damit argumentieren, dass die Profiteure des privaten | |
| Gesundheitssystems – die Versicherungen, die Pharmaindustrie und die | |
| privaten Kliniken und Medizingerätehersteller – zu den stärksten Finanziers | |
| von Bidens Kampagne gehören. | |
| ## Schlammschlacht droht | |
| Jenseits dieser Themen werden die beiden Männer auch über ihre Vita | |
| streiten. Biden und seine Unterstützer werden versuchen, Sanders als „zu | |
| links“ und „zu radikal“ für die USA zu disqualifizieren. Sie werden dara… | |
| beharren, dass Sanders eine Sympathie für Diktatoren wie Fidel Castro habe. | |
| Und sie werden auf sein Engagement für die Sandinisten in Nicaragua und | |
| andere linke Bewegungen in aller Welt verweisen. Umgekehrt sind zahlreiche | |
| Momente aus Bidens Leben bekannt, die ihn angreifbar machen. Eines erzählt | |
| von seinem Sohn Hunter, der ein Spitzeneinkommen im Aufsichtsrat eines | |
| ukrainischen Energiekonzerns verdiente, während sein Vater als | |
| US-Vizepräsident die Korruption in der Ukraine bekämpfte. | |
| Sanders selbst hat in seinem politischen Leben auf Negativkampagnen | |
| verzichtet. Er hat auch dieses Mal kein einziges Negativ-Video in Umlauf | |
| gebracht. | |
| Doch dafür sorgt schon Donald Trump. Er wird jeden beliebigen | |
| demokratischen Herausforderer als „gefährlichen“ und „radikalen | |
| Sozialisten“ bezeichnen. So hat er es auch schon im Jahr 2016 mit Hillary | |
| Clinton gehalten. Zusätzlich ist zu erwarten, dass der US-Präsident auch | |
| seine im letzten Wahlkampf erprobten Schmierenkampagnen ausweiten wird. Die | |
| Slogans, zu denen er seine Basis bei jedem neuen Auftritt ermunterte – von | |
| „sperrt sie ein“ über „krumme Hillary“ bis hin zu „wo sind die E-Mai… | |
| haben tiefe Spuren in den Köpfen hinterlassen – und das nicht nur bei | |
| Wählern der Republikanischen Partei. | |
| 4 Mar 2020 | |
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