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# taz.de -- Der Wortzerteiler
> NACHRUF Der Schriftsteller und Philologe Walter Jens galt als moralische
> Instanz und Vorzeigeintellektueller der Bundesrepublik, bevor ihn vor
> vielen Jahren die Demenz zum Rückzug zwang. Am Sonntagabend ist er im
> Alter von 90 Jahren in Tübingen gestorben
VON JÖRG MAGENAU
Wenn Walter Jens sprach, dann hatte er die Hände scherenartig erhoben, als
müsse er jedes Wort einzeln betasten und zerteilen. Martin Walser fühlte
sich dadurch an eine Languste erinnert. So jedenfalls schreibt er in dem
warnenden „Brief an einen ganz jungen Autor“ im Jahr 1962, in dem er
jüngere Kollegen auf das vorbereitete, was ihnen in der Gruppe 47
bevorstand. Die Worte, die Jens in der Luft zerschnitt, waren nicht seine
eigenen. Es war, Satz für Satz, das soeben Gehörte. Zusammen mit Walter
Höllerer, Hans Meyer, Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser bildete er
die Kritikerbank, die in der Gruppe 47 das große Wort führte. Er war unter
ihnen der Etikettierer, der erste Platzanweiser der Gegenwartsliteratur:
„Da wo er Dich hinsetzt, da sitzt Du (vorerst)“, schrieb Walser.
Der sehr junge Autor mochte, wenn er Glück hatte, während der Jens-Rede an
Kinsky oder an Demosthenes denken und darüber vergessen, dass es um ihn und
seine Literatur ging. Er war nicht der Einzige, der das vergaß. Jens
sprach, um zu sprechen, und berauschte sich daran. Dabei war er eigentlich
selbst noch ein recht junger Autor. 1947 hatte er als 24-Jähriger seine
erste Erzählung veröffentlicht. In den 50ern folgte Roman auf Roman –
Bücher, die sich symbolistisch und parabelhaft mit der Erfahrung der
faschistischen Diktatur auseinandersetzten. „Nein. Die Welt der
Angeklagten“ hieß ein in zahlreiche Sprachen übersetzter Science-Fiction.
An Orwells „1984“ erinnernd, entwarf Jens darin das Bild einer totalitären
Gesellschaft, in der es nur noch Angeklagte, Zeugen und Richter gab, bis
zum obersten Beherrscher. Jens war als Schriftsteller bekannt, bevor er
Kritikerruhm errang. Doch es ist der Kritiker, der in Erinnerung geblieben
ist.
Ihn selbst haben solche künstlichen Grenzziehungen nie interessiert. Als
Schriftsteller trat er als Poeta doctus auf, der mit seiner Bildung nicht
hinterm Berg hielt. Vorzugsweise schöpfte er aus Stoffen der griechischen
Mythologie. Als Wissenschaftler erwies er sich dann aber als Erzähler – bis
hin zu den letzten, zusammen mit seiner Frau Inge geschriebenen Bestsellern
über die Familie Mann.
## Historische Schuld
1923 in Hamburg geboren, machte er zunächst als Fußballtorwart beim
Eimsbütteler TV von sich reden. Als Asthmatiker blieb er glücklich vom
Kriegseinsatz verschont und konnte stattdessen Germanistik und Klassische
Philologie studieren. Welche Bedeutung die NSDAP-Parteimitgliedschaft
hatte, die erst im Jahr 2003 bekannt wurde, ist umstritten. Jens
behauptete, davon nichts gewusst zu haben, und vermutete, es habe sich um
einen „reinen Karteivorgang eines HJ-Jahrganges“ gehandelt – eine
Auffassung, die auch von Historikern nicht zu bestätigen und nicht zu
widerlegen ist. Sein weiterer Lebensweg als engagierter Demokrat und
Vorzeigeintellektueller der Bundesrepublik hat aus dieser unschönen
Zugehörigkeit so oder so eine Marginalie gemacht. Politische Moral und
westdeutsches antifaschistisches Bewusstsein beruhten auf der historischen
Schuld und arbeiteten sich daran ab. Die Aufgabe der sogenannten
Vergangenheitsbewältigung bestand für die ganze Generation – auch ohne
Zugehörigkeitsnachweis in Form einer Karteikarte.
1944 promovierte Jens in Freiburg über „Die Stichomythie in Sophokles’
Tragödien der Mannesjahre“. Stichomythie bezeichnet den Wechsel von Rede
und Gegenrede mit jedem Vers in altgriechischer Dichtung. Da war er also
schon ganz in seinem rhetorischen Element. 1949 folgte in Tübingen die
Promotion über Tacitus und 1950 ein Lehrstuhl für Klassische Philologie.
1963 wurde daraus die bundesweit erste Rhetorik-Professur, ein Lehrstuhl,
der eigens für ihn eingerichtet wurde und den er bis zu seiner Emeritierung
1988 besetzte. Seine Vorlesungen waren Ereignisse für weit mehr als das
akademische Publikum. Zu Jens pilgerte das Tübinger Bürgertum, das ja auch
seine Bücher las: Die Vergegenwärtigungen der griechischen Klassik
(„Euripides. Büchner“, 1964), die Nacherzählungen biblischer Stoffe („D…
Fall Judas“ (1975), „Jesus von Nazareth“ (1978) oder all seine
literaturgeschichtlichen Darstellungen, die von Lessing zu Thomas Mann
führten. Man las auch seine Fernsehkritiken in der Wochenzeitung Die Zeit,
denn es war kein Geheimnis, wer sich hinter dem Pseudonym „Momos“ verbarg.
Und Jens schrieb nebenbei auch selbst Fernseh- und Hörspiele. Egal, wo man
hinkam: Jens war immer schon da.
## Gestorbene Sprache
Als Hanseat war er in Tübingen das, was man auf Schwäbisch einen
„Reingeschmeckten“ nennt. Das nordisch-kühle Auftreten, die scharfe
Präzision seiner Rede unterschieden ihn von der behäbigen Sprechweise der
Eingeborenen. Die Kurzatmigkeit des Asthmatikers kam seinem Redetalent
seltsamerweise entgegen. Sie steigerte das Tempo. Die Sätze rollten in
hastigem Stakkato dahin, sodass sich die Worte fast überschlugen. Das
Schwäbische war der Kontrast, in dem diese Sprechweise erst so richtig zur
Geltung kommen konnte.
Tübingen wurde zu seiner Heimat. Hier wird er auf dem Stadtfriedhof
begraben, in der Nähe von Uhland und Ottilie Wildermuth und Carlo Schmid
und mit einem schönen Blick auf die Schwäbische Alb. In den 80er Jahren war
Tübingen ein Zentrum der Friedensbewegung. Pietistische Moral, Pazifismus
und Christentum konnten hier die Verbindung eingehen, die für einige Jahre
eine enorme politische Kraft entfaltete. Jens stand dabei in der vordersten
Reihe. Als Präsident des PEN-Zentrums von 1976 bis 1982 und als Präsident
der Berliner Akademie der Künste von 1989 bis 1997 hatte er den
institutionellen Rahmen, den er als engagierter Intellektueller wohl gar
nicht gebraucht hätte, um seine Statements zum Zeitgeschehen zu platzieren
– ganz egal, ob die lasche SPD oder der arrogante Deutsche Fußballbund
Gegenstand seiner Abkanzelungen war. Als Universalgelehrter konnte er den
Intellektuellen noch einigermaßen glaubhaft als universal Zuständigen
darstellen, solange die Gesellschaft noch geneigt war, diesen Glauben zu
teilen. Seine große Zeit ging deshalb spätestens 1989 zu Ende. Er war ein
Repräsentant des geteilten Deutschlands. Ähnlich wie Günter Grass war er
kein Freund der Einheit, schien ihm doch die Teilung die richtige,
friedenssichernde Konsequenz der Geschichte zu sein.
Es ist einigermaßen tragisch, dass dieser Sprachmächtige am Ende vom
Sprachverlust heimgesucht wurde. „Mir ist die Sprache gestorben“, soll er
in einem seiner letzten lichten Momente gesagt haben, nachdem er seit 2003
ins große Vergessen driftete. Am Ende erkannte er nicht einmal mehr den so
sehr bewunderten Theodor Fontane und fragte, wer denn der schnauzbärtige
Mann auf dem Bild sei. Bücher hielt er verkehrt herum, um das Lesen
wenigstens noch zu simulieren. Seine Familie machte aus der
Alzheimer-Erkrankung kein Geheimnis. Sie versteckte Jens in Tübingen nicht.
Sein Sohn Tilman veröffentlichte kurz vor dessen 85. Geburtstag einen
infamen Text, in dem er die Demenz des Vaters auf das Auftauchen der
vergilbten NSDAP-Karteikarte zurückführte und damit die Krankheit als
Endstadium des lebenslänglichen Beschweigens einer doch eher läppischen
Parteimitgliedschaft deutete. Er schmähte den Lebenden, der sich doch, als
wäre er schon tot, nicht mehr wehren konnte.
Eindrucksvoll dagegen, wie Inge Jens die Krankheit ihres Mannes in einem
Interview im Stern beschrieb: Es war das letzte, traurige Kapitel einer
Liebesgeschichte, die damit endet, dass der Geliebte unansprechbar wird und
in sich selbst verschwindet. Seit 1951 waren die beiden verheiratet und in
gegenseitiger Abhängigkeit miteinander verbunden. Ihr gemeinsamer
Bestseller „Frau Thomas Mann“ war ein schöner Höhepunkt dieser
intellektuellen Partnerschaft. Das letzte, 2005 erschienene Buch über
„Katjas Mutter“ musste dann schon der Krankheit, der zunehmenden
Erstarrung, dem Entsetzen und Erschrecken über das Entgleiten der Sprache
abgetrotzt werden. Nun ist Walter Jens im Alter von 90 Jahren gestorben.
11 Jun 2013
## AUTOREN
JÖRG MAGENAU
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