| # taz.de -- Anja Piel über Positionen der Grünen: „Linkssein steckt in der … | |
| > Die Niedersächsin will Parteivorsitzende werden. Ein Gespräch über | |
| > erhobene Zeigefinger, nötige Umverteilung und die verzagte | |
| > Inklusionsdebatte. | |
| Bild: Das ist noch kein erhobener Zeigefinger | |
| taz: Frau Piel, Sie möchten Grünen-Chefin werden. Wie wollen Sie die Partei | |
| positionieren? | |
| Anja Piel: Ich möchte die Grünen stärker nach vorne bringen. Und zwar mit | |
| neuen Themen jenseits von Klimapolitik und Energie. Wir sollten die | |
| Ökologie stärker mit sozialer Gerechtigkeit verknüpfen – und das offensiv | |
| vertreten. | |
| Was kommt Ihnen zu kurz? | |
| Wenn wir den Ausstieg aus der Braunkohle fordern, müssen wir den Leuten | |
| klarmachen, dass darin die Chance für neue Arbeitsplätze steckt. Und wenn | |
| VW – ich komme ja aus Niedersachsen – irgendwann hoffentlich das sauberste | |
| Auto der Welt baut, nutzt das nicht nur dem Klimaschutz, sondern auch den | |
| Arbeitnehmern. Die Politik muss sich deshalb trauen, der Industrie klare | |
| Leitplanken zu setzen. Wir haben für Gerechtigkeitsfragen viele gute | |
| Antworten, werben aber zu wenig mit ihnen. | |
| In Ihrer Bewerbung steht: „Glauben wir daran, dass wir eine linke | |
| Alternative sind – oder verstehen wir uns als Partei der Mitte?“ Wie lautet | |
| Ihre Antwort? | |
| Das Linkssein steckt in der grünen DNA. Viele unserer Themen und Ansätze | |
| sind links. Angesichts des um sich greifenden Rechtspopulismus ist eine | |
| klare Positionierung angesagt. Die deutsche Gesellschaft droht sich immer | |
| mehr zu spalten. Wir müssen uns trauen, wieder über Umverteilung zu | |
| sprechen. | |
| Die Grünen schweigen seit der Wahlniederlage 2013 lieber über | |
| Steuerpolitik. | |
| Das ist doch verständlich. Solche Debatten über Instrumente langweilen auch | |
| mich. | |
| Geht es ohne? Nur mit Instrumenten wie der Vermögensteuer bekommt der Staat | |
| neue Mehreinnahmen. | |
| Klar. Aber wichtiger ist es, Ziele zu definieren, bevor man über | |
| Instrumente spricht. Deutschland ist ein reiches Land, aber auch bei uns | |
| gibt es viel Ungerechtigkeit. Wenn Kinder erst in der Schule gefördert | |
| werden, ist das zu spät, um Nachteile auszugleichen. Stattdessen braucht es | |
| motiviertes und gut bezahltes Personal in Kitas und Krippen. So könnten | |
| auch die Kinder aufholen, deren Eltern Schicht arbeiten und deshalb keine | |
| Zeit fürs Vorlesen haben. Statt erst mal in Qualität zu investieren, führt | |
| die Große Koalition in Niedersachsen jetzt kostenlose Kitas ein und | |
| entlastet damit gut verdienende Familien. Dieses Geld wird beim Personal | |
| fehlen. Solche Entscheidungen halte ich für falsch, selbst wenn sie populär | |
| sind. | |
| Grünen-WählerInnen sind gebildet und sie verdienen überdurchschnittlich. | |
| Ist ihnen das Arbeiterkind mit Migrationshintergrund nicht herzlich egal? | |
| Unsere Wählerinnen und Wähler wissen sehr gut, dass die gesamte | |
| Gesellschaft profitiert, wenn alle mitgenommen werden. Außerdem nutzt es | |
| allen Kindern, wenn sie früh andere Wirklichkeiten kennenlernen. Wir führen | |
| zum Beispiel die Inklusionsdebatte viel zu verzagt. Es geht nicht um | |
| Barmherzigkeit gegenüber Kindern mit Handicaps. Alle Kinder erwerben in | |
| Inklusionsgruppen Sozialkompetenz, sie gehen unbefangener mit Behinderungen | |
| und Krankheiten um und sind sensibler für Krisen und für ihre eigenen | |
| Grenzen. Solche Zusammenhänge sind unseren Leuten sehr wichtig. | |
| Mit Verlaub: Gerade in Ihren Milieus wird sehr genau darauf geachtet, dass | |
| der Nachwuchs nicht auf der Problemschule mit den Migrantenkids landet. | |
| Grüne sind nicht automatisch bessere Menschen. Wir müssen Botschaften | |
| entwickeln, die auch Skeptiker mitnehmen. Und wir sollten die Leute mit | |
| ihren Erfahrungen ernst nehmen. Natürlich müssen die Bedingungen stimmen: | |
| Eine Klasse, in der 70 Prozent der Kinder kein Deutsch sprechen, | |
| funktioniert nicht. | |
| Hilft den Grünen ein Fokus auf Gerechtigkeit? Auf dem Feld tummeln sich | |
| schon SPD und Linkspartei. | |
| Die SPD wird sich in der Großen Koalition kaum profilieren können. Und die | |
| Linke vertritt die reine Lehre, setzt sie aber nicht in Regierungshandeln | |
| um. Das ist eine Chance für die Grünen, die in Bündnissen | |
| verantwortungsvoll handeln. Ich sehe das ganz unideologisch. Es geht darum, | |
| auch in schwierigen Konstellationen Kompromisse durchzusetzen. Schritt für | |
| Schritt. Robert Habeck hat zu Recht gesagt, in einem Jamaika-Bündnis | |
| müssten die Grünen linker werden. | |
| Die Grünen haben sich in den vergangenen Jahren zahm präsentiert, um | |
| bürgerlich-konservative Wähler anzusprechen. War diese Strategie falsch? | |
| Zahm waren wir bestimmt nicht. Aber vielleicht haben manche von uns ein | |
| falsches Bild von der bürgerlichen Mitte. Ich glaube, Menschen sind in | |
| hohem Maße fähig zu Solidarität. Man muss nur vernünftig mit ihnen | |
| sprechen. Und, mal ganz grundsätzlich: Die ökologische Wende klappt nur, | |
| wenn man die Menschen mitnimmt, die bei Lidl einkaufen. Nur mit den | |
| Besserverdienern wird das nichts. | |
| Hat Ihre Partei bisher nicht vernünftig mit den Leuten geredet? | |
| Die Grünen haben oft den Fehler gemacht, Probleme mit Sozialromantik zu | |
| überpudern. Konflikte muss man benennen. Ganz schlimm ist auch, sich auf | |
| die Kiste zu stellen und mit erhobenem Zeigefinger die bessere Welt zu | |
| predigen. Kommunikation läuft auf Augenhöhe. Mir ist wichtig, nah an | |
| Menschen zu sein, um daraus Politik abzuleiten. | |
| Das behauptet jeder Politiker von sich. | |
| Oft machen kleine Dinge den Unterschied. In Niedersachsen haben wir in der | |
| rot-grünen Regierung diverse Flüchtlingsgipfel gemacht. Ich habe dem | |
| Ministerpräsidenten und dem Innenminister vorgeschlagen, auch eine | |
| Flüchtlingsfamilie aus erster Hand berichten zu lassen. Betroffene wissen | |
| nun mal, wovon sie reden. Ein anderes Beispiel: Als es im Parlament um | |
| Inklusion ging, habe ich meine Rede in leichter Sprache gehalten. | |
| Cem Özdemir findet, dass die Grünen um FDP-Wähler werben müssten. Was sagen | |
| Sie? | |
| Ich bin ja noch mit Politikern wie Genscher oder Scheel groß geworden. Sie | |
| haben die Ostverträge ausgehandelt und Europa ganz anders gedacht als die | |
| heutige Lindner-FDP. Wenn Cem Liberale meint, denen Bürgerrechte wichtig | |
| sind und die ein solidarisches Europa wollen, dann hat er recht: Denen | |
| bieten wir viel. Ich kann mir auch vorstellen, dass manche FDP- und | |
| CDU-Wähler bei Gerechtigkeitsthemen denken: Da ist bei uns zu viel Kälte im | |
| System, da bieten die Grünen mehr. | |
| Das Wahlergebnis im Bund war mit 8,9 Prozent mittelprächtig. Welche Fehler | |
| haben die Grünen gemacht? | |
| Ich sage immer: Die Grünen verdienen allein wegen der Wichtigkeit ihrer | |
| Projekte zweistellige Wahlergebnisse. Wir haben unsere Möglichkeiten bei | |
| Gerechtigkeitsthemen nicht ausgeschöpft. Beide Parteiflügel hätten | |
| gemeinsam Schlüsselprojekte definieren und diese offensiv kommunizieren | |
| müssen. Solche Absprachen gemeinsam zu finden, das ist eine meiner Stärken. | |
| Warum glauben Sie, dass Sie eine gute Parteivorsitzende wären? | |
| Vorab: Ich schätze Annalena Baerbock, meine Konkurrentin, total. Sie ist | |
| wirklich gut. Ich bringe Regierungserfahrung aus einem großen Bundesland | |
| mit – in schwierigen Zeiten mit steigenden Flüchtlingszahlen. Man sagt mir | |
| nach, ich wirke integrativ. Streiten ohne den Laden zu zerlegen, solche | |
| Prozesse organisiere ich gerne und erfolgreich. Ich habe mir mit den Jahren | |
| einen Blick dafür erworben, wo man die Grünen mitnehmen kann – und wo | |
| nicht. | |
| Der Parteitag Ende Januar wird auch über eine Satzungsänderung entscheiden. | |
| Robert Habeck, der sich ebenfalls als Parteichef bewirbt, fordert eine | |
| Übergangsfrist von einem Jahr, um sein Ministeramt in Schleswig-Holstein | |
| übergeben zu können. Was raten Sie der Partei? | |
| Leute, die aus einem Amt in den Bundesvorstand wechseln, müssen ein paar | |
| Dinge regeln. Die Chance dazu sollten sie bekommen. Unsere Satzung hat hier | |
| eine Lücke. Ich bin sicher, dass der Parteitag eine kluge Lösung findet. | |
| Ihr Vater war Betriebsratschef in einem Stahlhandelsunternehmen – und | |
| SPD-Wähler. Hat Ihr Elternhaus Sie politisiert? | |
| Definitiv. Und nicht nur mein Vater. Meine Mutter, eine gelernte Drogistin, | |
| war unglaublich debattierfreudig. Die Freude an der Demokratie, die | |
| Wertschätzung für Diskussionen und das Interesse an Sozialpolitik und guter | |
| Arbeit kommen von meinen Eltern. Unser Hauptstreitpunkt war die Atomkraft. | |
| Mein Vater fand sie gut, weil Helmut Schmidt, sein Kanzler, sie auch gut | |
| fand. | |
| Sie sind im sozialen Wohnungsbau aufgewachsen. Wie hat Sie das beeinflusst? | |
| Den Umzug hat mein Vater im Familienrat mit uns beschlossen – da war ich | |
| sieben oder acht Jahre alt. Es ging um das Modellviertel Buntekuh in | |
| Lübeck. Es gab eine Stadtteilschule, einen Inklusionskindergarten und einen | |
| tollen Abenteuerspielplatz. Dort lebten viele Gastarbeiterfamilien mit | |
| Deutschen zusammen, später kamen Boatpeople aus Vietnam dazu. Mein bester | |
| Freund war der Sohn eines türkischen Ingenieurs. In unserem Haus haben wir | |
| nach Ramadan das Fastenbrechen gefeiert, weil eine türkische Familie über | |
| uns wohnte. So etwas prägt. | |
| 11 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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