| # taz.de -- Aktivistin über Hilfe für Verschleppte: „Der Krieg hat uns alle… | |
| > Vormittags studieren, nachmittags für die Freilassung verschleppter | |
| > Ukrainer:innen kämpfen. Die russische Aktivistin Polina Murygina im | |
| > Gespräch. | |
| Bild: Polina Murygina studiert in Flensburg- und hilft nebenbei, verschleppte U… | |
| wochentaz: Frau Murygina, als Menschenrechtsaktivistin und Anwältin helfen | |
| Sie den Familien von nach Russland verschleppten Ukrainer:innen. Fühlen Sie | |
| sich bei Ihrer Arbeit manchmal wie David gegen Goliath? | |
| Polina Murygina: Die humanitären Organisationen, die den Ukrainer:innen | |
| helfen, sind wie David – in dem Sinn, dass sie schwach sind. Russland hat | |
| einen schrecklichen Krieg begonnen. Gleichzeitig erfüllen die Vereinten | |
| Nationen nicht ihre Pflicht, wie sie in der Genfer Konvention steht. Damit | |
| tragen sie dazu bei, Russland zu Goliath zu machen. David hat ja am Ende | |
| gesiegt. Ob das bei uns auch so sein wird, da bin ich nicht sicher. | |
| Weil es so schwer ist, zu Erfolgen zu kommen? | |
| Wir kümmern uns [1][um deportierte Kinder], zivile Geiseln und | |
| Kriegsgefangene. Manchmal ist es kompliziert. Die russische Seite nimmt | |
| beispielsweise zivile Geiseln, wir als Anwält:innen bemühen uns um ihre | |
| Freilassung. Aber da es durch die Genfer Konvention verboten ist, zivile | |
| Geiseln zu nehmen, gibt es gar kein Verfahren, um sie wie Kriegsgefangene | |
| auszutauschen. | |
| Welche Möglichkeiten haben Sie dann überhaupt? | |
| Es ist zum Beispiel so: Es gibt eine Geisel auf russischem Territorium. | |
| Wenn wir nachfragen, sagt man uns, dass man die Person nicht freilassen | |
| wird. Weil sie kein Kriegsgefangener sei, werde man sie auch nicht | |
| austauschen gegen einen anderen Kriegsgefangenen. Man lasse auch keinen | |
| Anwalt zu der Person vor, weil ihr kein Verbrechen vorgeworfen wird. So | |
| gibt es Leute, die seit eineinhalb Jahren verschwunden sind und niemand | |
| weiß, ob sie noch leben oder nicht. | |
| In einem Text der Süddeutschen heißt es, dass Ihre Organisation „[2][Every | |
| human being“] schon für die Freilassung von 200 Zivilisten gesorgt hat. | |
| Das war allerdings unter anderen Bedingungen in den besetzten ukrainischen | |
| Gebieten. Manchmal ist Russland ein sehr korruptes Land, manchmal lässt | |
| sich auf den niedrigen Ebenen verhandeln. Als die besetzten Gebiete noch | |
| nicht annektiert waren, war das möglich. Ich bin immer noch sehr stolz | |
| darauf, dass es geklappt hat. Aber nach der Annexion wurde es super | |
| kompliziert. Und je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, den | |
| Leuten zu helfen. | |
| Warum? | |
| Es wird schwieriger, sie zu evakuieren, es wird schwieriger, mit | |
| Organisationen wie den Vereinten Nationen zu verhandeln. Und es gibt den | |
| Nebeneffekt, dass weltweit die Leute aufhören, sich über diesen Krieg | |
| Gedanken zu machen. Dass macht es schwieriger für kleine humanitäre | |
| Organisationen wie uns, auch wegen der Spenden. | |
| Im Moment schaut die Welt mehr auf Israel und Gaza. Auch da wurden Geiseln | |
| genommen. Was dachten Sie, als Sie davon hörten? | |
| Zuerst dachte ich, dass so etwas einfach unmöglich ist. Hat die Welt nicht | |
| gerade genug Grauen gesehen? Ich wollte wohl glauben, dass die Welt im 21. | |
| Jahrhundert endgültig begriffen hat, dass Krieg keine Antwort auf | |
| politische Probleme ist. Zumindest nach dem Ausbruch des Krieges in der | |
| Ukraine schien das so. Doch am 7. Oktober begann ein weiterer verheerender | |
| Krieg. | |
| Sind die Probleme dort ähnlich, etwa dass eine rechtliche Grundlage für die | |
| Befreiung der Geiseln fehlt? | |
| Die Situation ist völlig anders. [3][Die Hamas-Terroristen versuchen] nicht | |
| einmal, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit vorzutäuschen. Man kann mit | |
| ihnen nicht verhandeln. Ich will damit nicht sagen, dass Russland ein | |
| kleineres Übel ist als die Hamas. Aber Russland ist ein Land, in dem ein | |
| gewisses Maß an Organisation des Lebens durch Gesetze eingeführt wurde. Und | |
| es versucht so zu tun, als ob vom Standpunkt des Gesetzes aus alles in | |
| Ordnung wäre. | |
| Sie haben mit gerade mal 25 Jahren eine eigene humanitäre Organisation | |
| mitgegründet. Warum haben Sie sich nicht den bestehenden angeschlossen? | |
| Zu Beginn des Krieges habe ich einer Organisation geholfen, die Leute | |
| evakuierte, und war da in der Rechtsabteilung mit Dokumenten beschäftigt. | |
| Wie kommst du in die EU, wenn deine Dokumente zusammen mit deinem Haus | |
| explodiert sind? Wie wird innerhalb der EU mit Ukraine-Flüchtlingen | |
| umgegangen, was sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten? Mit | |
| solchen Fragen haben wir uns befasst. Und dann wurden in der Stadt | |
| Kazakhskaya zivile Geiseln genommen. Es war noch nie vorgekommen, dass man | |
| rein zufällig eine so große Gruppe von Leuten festgenommen hat, wir hatten | |
| eine Liste mit 170 Namen, darunter auch Frauen und Kinder. | |
| Was passierte mit den Leuten? | |
| Eine Person starb, weil es keine medizinische Versorgung gab und den | |
| Menschen nicht erlaubt wurde, die Schule, in der sie festgehalten wurden, | |
| zu verlassen. Dann verschwand eine Person, die versucht hatte, ein Video | |
| von dem zu machen, was vor sich ging. In diesem Moment habe ich verstanden: | |
| Man kann nicht aus den besetzten Gebieten und Russland evakuieren, also mit | |
| Russland kooperieren, und gleichzeitig einen kleinen juristischen Krieg mit | |
| dem russischen Verteidigungsministerium führen. Letzten Endes wurde die | |
| juristische Abteilung der Evakuierungsorganisation die neue Organisation | |
| „Every human being“. Und die Geiseln von Kazakhskaya sind nach drei Monaten | |
| frei gelassen worden. | |
| Sie arbeiten von Deutschland aus. Wie sind Sie hierher gekommen? | |
| Ich habe nach meinem Master in Jura für die Anti-Korruptions-Stiftung | |
| [4][von Alexei Nawalny gearbeitet]. 2021 wurden die | |
| Nawalny-Mitarbeiter:innen immer mehr kriminalisiert. Ich musste Russland | |
| schnell verlassen, um nicht meine Freiheit zu verlieren. | |
| Und warum gingen Sie in das eher unbekannte Flensburg? | |
| Flensburg war die erste Uni, die mir geantwortet hat. Ich habe entschieden, | |
| einen zweiten Master zu machen, und nun studiere ich in Flensburg | |
| [5][European Studies], das ist eine Art Politikwissenschaft. Ich habe mich | |
| für die Abschlussarbeit auf Sanktionen spezialisiert, das ist irgendwie | |
| ironisch. | |
| Was meinen Sie? | |
| Ich mag es, als Anwältin zu arbeiten, zu den Gerichten zu gehen, Leute zu | |
| verteidigen. Jahrelang zu studieren war nicht mein Ding. Und als ich meinen | |
| ersten Master beendet hatte, dachte ich: Ich werde nie wieder studieren. | |
| Und dann, ein Jahr später, habe ich mich an einer deutschen Uni | |
| eingeschrieben. | |
| Es wirkt wie ein sehr spezielles Doppelleben auf mich: Sie sind an der Uni | |
| im kleinen Flensburg unter Studierenden mit ihrem friedlichen, sicheren | |
| Leben, und dann gehen Sie nach Hause und versuchen, das russische | |
| Verteidigungsministerium zu kontaktieren. | |
| Zu Beginn des Krieges gab es eine sehr große Diskrepanz. Ich begann, Leuten | |
| zu helfen, die mir erzählten, dass eines ihrer Kinder getötet und das | |
| andere [6][nach Russland deportiert] worden war. Sie haben mich gebeten, | |
| das Kind zurückzuholen. Und dann ging ich zur Uni und hörte eine Vorlesung | |
| über die Große Depression, über die Wirtschaftskrise der 20er Jahre, und | |
| ich dachte: Die Große Depression, das bin in Wirklichkeit ich hier. | |
| Wie sind Sie damit umgegangen? | |
| Es sind zwei unterschiedliche Welten, die sich irgendwie treffen müssen. | |
| Als der Krieg begann, war das für viele in Flensburg ein Thema. Aber die | |
| Leute haben den Krieg inzwischen vergessen. Und ich habe Verwandte in der | |
| Ukraine, die sich vor Bombenangriffen verstecken. Ich hatte das Gefühl, | |
| verrückt zu werden mit diesem normalen Teil meines Lebens. Ich stand auf, | |
| ging zur Uni – und dann lief ich nach Hause und beschäftigte mich mit | |
| schrecklichen Dingen. Ich hatte einen Burn-out und sah keinerlei Sinn darin | |
| zu studieren. | |
| Haben Sie sich Hilfe geholt? | |
| Ich bin im Herbst 2021 nach Deutschland gekommen und habe angefangen, | |
| Deutsch zu lernen, aber dann brach der Krieg aus und ich hatte andere | |
| Prioritäten. Ich spreche wirklich schlecht Deutsch, und einen | |
| englischsprachigen Psychologen habe ich in Flensburg nicht gefunden. Aber | |
| es ging vorüber. | |
| Wie kam das? | |
| Ich weiß es nicht genau, seit einigen Monaten fühle ich mich gut. Ich | |
| akzeptiere, dass Krieg ist, ich akzeptiere, dass es sehr viele Leute gibt, | |
| die Hilfe brauchen und dass ich diese Hilfe gebe und dann studieren und | |
| meine Abschlussarbeit schreiben muss. Ich glaube, es war ein lang dauernder | |
| Schock. Wenn du Emigrantin bist, ist es gleichgültig, in welchem Land du | |
| bist. Ich kann nicht zurück in mein Land, um meine Familie zu sehen, und | |
| man kann nicht alles über Whatsapp besprechen, weil es den russischen | |
| Geheimdienst gibt, sie verfolgen das. Andererseits arbeite ich mit anderen | |
| Menschenrechtsaktivist:innen und Anwält:innen aus verschiedenen | |
| Ländern zusammen, und wir haben alle irgendwie unseren Frieden damit | |
| gemacht. | |
| Was genau sind Ihre Mittel, um zu helfen? | |
| Es gibt ein sehr spezielles Phänomen in Russland: Manchmal sind Leute für | |
| die Gefängnisse der zivilen Geiseln oder Kriegsgefangenen zuständig, die | |
| empathisch sind und nicht komplett loyal gegenüber dem Regime. Die geben | |
| uns Informationen, sodass ich beim Verteidigungsministerium gezielt nach | |
| einer bestimmten Person fragen kann. Das Ministerium sollte dann dem Roten | |
| Kreuz den genauen Aufenthaltsort geben, sodass die Familie ihr schreiben | |
| kann. In einer idealen Welt wäre es so. Aber die russische Seite tut das | |
| nicht. | |
| Und dann? | |
| Schreiben wir an 20 Stellen in der Hoffnung, dass eine davon eine normale | |
| Antwort schickt. Nach eineinhalb Jahren habe ich verstanden, dass das | |
| System nicht nur wegen der russischen Seite so abgefuckt ist. Natürlich | |
| verursacht das russische Regime das Problem. Aber das humanitäre System, | |
| das man nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hat, ist komplett nutzlos, | |
| genauso wie das Rote Kreuz in vieler Hinsicht. | |
| Inwiefern? | |
| Sie haben eine Monopolstellung. Und wenn man sie bittet, an einen | |
| bestimmten Ort zu gehen, nach einer bestimmten Person zu forschen, sagen | |
| sie: Wir sammeln Spenden und kaufen Anziehsachen für die Leute, aber dafür | |
| gibt es andere Organisationen. Das Rote Kreuz hat ein besonderes Mandat und | |
| besondere Möglichkeiten, aber es nutzt sie nicht. Und mit den Vereinten | |
| Nationen ist es das Gleiche: Sie sitzen nur in ihren Büros und schreiben | |
| Berichte. Das kann ich auch als Studentin in Flensburg. | |
| Warum nimmt Russland überhaupt zivile Geiseln? Um Angst zu verbreiten? | |
| Ich versuche seit eineinhalb Jahren eine Antwort darauf zu finden, und im | |
| Grunde habe ich keine. Sie nehmen Leute, die sie für verdächtig halten – | |
| aber verdächtig bedeutet für das russische Regime eine Menge Dinge: Hast du | |
| ein Tattoo, bist du verdächtig. Es hängt stark davon ab, wie ein Typ sich | |
| gerade fühlt. Gerade hatten wir den Fall eines 17-jährigen Jungen. Warum | |
| nimmt man den fest? Ich habe keine Ahnung. Manchmal will man Leute | |
| einschüchtern, dann verschleppt man sie und wirft ihnen eine Straftat vor. | |
| Das ist illegal, aber wenn wir sie auffinden können, bekommen sie | |
| wenigstens einen Anwalt. | |
| Wie lassen sie sich auffinden, wenn nicht durch Hinweise aus den | |
| Gefängnissen? | |
| Es ist leichter, diese Leute aufzuspüren, wenn die Verschleppungen | |
| öffentlich gemacht werden, auch durch die Propagandavideos. Die sind | |
| lächerlich und manchmal unheimlich, weil man sieht, dass die Verschleppten | |
| nicht mehr alle Zähne haben und erzählen, dass sie selbst Nazis seien, | |
| Hitler gut fänden und biologische Waffen nutzten. Sie haben mich vorhin | |
| gefragt, warum wir diese Organisation gegründet haben: Ein Motiv war, dass | |
| eine Menge Leute mich angerufen haben, auf meinem deutschen Handy, und mich | |
| um Hilfe gebeten haben. | |
| Woher kennen diese Leute „Every human being“? | |
| In den besetzten Gebieten gibt es Probleme mit dem Internet, die Leute | |
| hören von uns in der Regel über andere Leute. Es ist Krieg, die Leute | |
| helfen sich gegenseitig. Wenn wir jemanden im Gefängnis auffinden, sagt er | |
| uns, dass dort zehn andere sind und gibt unseren Anwälten eine Liste mit | |
| den Namen. Dann suchen wir die Verwandten, weil wir nur tätig werden | |
| können, wenn sie uns beauftragen. | |
| Wie ist die Bandbreite, mit was für Fällen beschäftigen Sie sich? | |
| Wir teilen sie in drei Gruppen auf: Kriegsgefangene, zivile Geiseln und | |
| deportierte Kinder. Die aussichtsreichste Gruppe sind die Kriegsgefangenen, | |
| sie haben eine Chance, gefunden und ausgetauscht zu werden. Wenn du eine | |
| zivile Geisel bist, gibt es nicht so viel Hoffnung, man braucht so etwas | |
| wie einen Spezialmechanismus. Eine Menge Anwält:innen arbeiten gerade | |
| daran, das Problem auf eine internationale Ebene wie das EU-Parlament oder | |
| die UNO zu bringen. Ein deportiertes Kind zu sein, ist das Schlimmste, was | |
| passieren kann. | |
| Warum? | |
| In einigen Fällen, die mir begegnet sind, haben diese Kinder noch ein | |
| Elternteil. Aber die russische Seite entscheidet, dass dieses Elternteil | |
| nicht gut genug ist, und deportiert das Kind irgendwohin nach Russland. Bei | |
| manchen Kindern sind die Eltern gestorben, aber es gibt noch Großeltern, | |
| Tanten, Onkel, die für das Kind sorgen wollen. Stattdessen wird es | |
| möglichst schnell zur Adoption freigegeben oder in Pflegefamilien gebracht. | |
| So verändern sie alle Daten – ein Mädchen namens Polina, geboren in der | |
| Ukraine, übertritt die russische Grenze und wacht auf als Masha, russische | |
| Staatsbürgerin und ein Jahr später geboren. In unserer Liste deportierter | |
| Kinder stehen auch solche, die im Januar 2022 geboren sind. | |
| Die also noch Babys sind. | |
| Ihre eigene Mutter würde sie nach einem Jahr nicht mehr erkennen, so | |
| schnell wie sie sich in diesem Alter verändern. Auch ein Problem ist: Die | |
| Kinder, die etwa Bombardierung erlebt haben, sind traumatisiert, sie | |
| sprechen kaum, und dann bekommen sie die russischen Dokumente, in denen nur | |
| ihr Vorname erhalten bleibt. Und es wird noch komplizierter dadurch, dass | |
| es keine Kommunikation von der russischen Seite gibt, es sei denn durch | |
| [7][Maria Lwowa-Belowa]… | |
| … Russlands „Beauftragte für Kinderrechte“. | |
| Wir haben bereits 250 Orte gefunden, wo Kinder festgehalten werden, deren | |
| Namen wir jetzt versuchen zu bekommen. Die russische Seite sagt, dass es | |
| 1.500 bis 2.000 Kinder sind. Aber ich weiß, dass innerhalb von eineinhalb | |
| Jahren mindestens 800 Kinder zurückgebracht worden sind, also sind es | |
| keinesfalls nur 2.000. Auf der Website „[8][Children of war]“ sind etwa | |
| 20.000 Namen. Wissen Sie, was die Vereinten Nationen tun? Sie fragen Maria | |
| Lwowa-Belowa nach den Zahlen. Und der UN-Botschafter in Russland umarmt sie | |
| und sagt, dass Russland einen großartigen Job bei der Evakuierung der | |
| ukrainischen Kinder macht. Bei mir hat er sich als Erstes danach erkundigt, | |
| ob wir die deportierten Kinder fragen, ob sie in Russland bleiben wollen. | |
| Ich sagte: Sollen wir das Kinder, die 2020 geboren sind, fragen? | |
| Was erzählen die älteren der Kinder, die zurückgebracht werden? | |
| Ich habe mit einem Jungen gesprochen, der 12 oder 13 Jahre alt war. An dem | |
| Ort, an dem er war, gab es 50 ukrainische Kinder etwa in seinem Alter. Es | |
| war verboten, Ukrainisch zu sprechen, und es gab viel physische Gewalt. | |
| Manchmal mussten Kinder zur Strafe im Keller schlafen, etwa, wenn sie | |
| sagten, dass sie die Ukraine unterstützen – im März, da ist es in Russland | |
| ziemlich kalt. Es gibt auch Umerziehungsstunden vom | |
| Staatssicherheitsdienst, also von den Leuten, die Nawalny vergiftet haben. | |
| Leute, die man nicht zu Kindern lassen sollte. | |
| Weil Sie Nawalny erwähnen: Wie sicher fühlen Sie sich in Deutschland? | |
| Ich fühle mich sicher. Mein Level von Angst, auch um meine Familie in | |
| Russland, war ausgeschöpft, als wir Nawalny-Mitarbeiter:innen als | |
| Extremisten eingestuft wurden. Da konnte es nicht schlimmer werden. | |
| Ihre eigene Familie ist russisch und ukrainisch. | |
| Ja, ich habe eine Menge Verwandte in der Ukraine. Das ist ganz häufig in | |
| Russland und macht den Krieg zu einem noch größeren Desaster. | |
| Wie sehen Sie Ihre Zukunft, denken Sie über die Zeit nach dem Krieg nach? | |
| Ab einem gewissen Punkt habe ich aufgehört, das zu tun. Als ich 2021 | |
| Russland verließ, meine Familie, meine Freunde, habe ich einen Koffer | |
| gepackt, und das war es. Ich habe alles zurückgelassen, vermutlich auch die | |
| Hälfte meines Herzens. Ich dachte, ich würde mir ein neues Leben aufbauen, | |
| aber dann kam der Krieg, und alles brach wieder zusammen. | |
| Vermeintliche Extremistin, Emigrantin, Anwältin – das ist mit gerade mal 25 | |
| Jahren ganz schön viel. | |
| Es hat damit begonnen, dass ich ein Jahr früher eingeschult worden bin. | |
| Also war ich ohnehin ein Jahr jünger, und dann haben wir nur elf Jahre | |
| Schule. Dann vier Jahre Bachelor, zwei Jahre Master. Ich vergleiche jetzt | |
| viel Deutsche, Lett:innen, Ukrainer:innen und Russ:innen, und ein | |
| Unterschied ist, dass der Lebensstandard in Russland und der Ukraine | |
| niedriger ist. Das heißt, dass man früher zu arbeiten beginnt, also muss | |
| man früher ernsthaft werden. Als ich nach Deutschland kam, dachte ich, ich | |
| würde die Älteste im Masterprogramm sein, und dann war ich eher unter den | |
| Jüngeren. Ich dachte: Ich bin super, ich bin 25 und dabei, meinen zweiten | |
| Master zu machen. Wir bei „Every Human Being“ sagen immer, dass wir wie 30 | |
| aussehen, weil wir so viel Stress haben. Der Krieg hat uns alle verändert. | |
| 14 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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