| # taz.de -- Abschied von Russland: Mütterchen, es ist Zeit zu gehen | |
| > Mehr als ihr halbes Leben verbrachte unsere Korrespondentin in dem Land, | |
| > das seinen Nachbarn überfallen hat und die eigenen Leute nicht frei reden | |
| > lässt. | |
| Bild: Inna Hartwich im Jahr 2019 auf der Insel Sachalin. Wegen ihrer Recherche … | |
| Moskau taz | Minus 46 Grad. Ich war ein Eisklotz voller Schichten aus | |
| Mikrofasern, Fleece und Fell. Die Augen gingen kaum noch auf, der Raureif | |
| auf den Wimpern wog schwer. Ich sank im Schlitten aus Hartplastik zusammen. | |
| Mich beschlich immer mehr die Sorge, einzuschlafen und zu erfrieren, hier | |
| im Norden der Insel Sachalin, „am Rande der Welt“, wie das indigene Volk | |
| der Niwchen sie nennt. Knapp neun Flugstunden von Moskau weg, eine | |
| Nachtfahrt im Zug, vier Stunden in einem Bus, fast eine in einem anderen. | |
| Ich atmete sehr langsam, das Schneemobil ratterte durch den fest gewordenen | |
| Schnee in der Pomr-Bucht des Ochotskischen Meeres, weit im Osten Russlands. | |
| Die Niwchen lebten hier bereits vom Fischfang und der Robbenjagd, als | |
| russische Zaren noch nicht mit japanischen Kaisern um die Vorherrschaft auf | |
| der Insel stritten. Sie lebten auf Sachalin, als zuerst das russische | |
| Zarenreich und später das sowjetische Terrorregime seine Gefangenen hier | |
| ausschüttete und in den Tod trieb. Es ist ihr „Land der Ahnen“. Mehr | |
| schlecht als recht trotzen sie heute den wirtschaftlichen | |
| Herausforderungen, der Fisch geht ihnen aus, weil die Bohrtürme von | |
| Rosneft, einem der größten Ölproduzenten weltweit, die Laichplätze der | |
| Lachse bedrohen. Die Niwchen verlieren viele ihrer Verwandten an den | |
| Alkohol, sehen ihre Kinder wegziehen, weil das Festland mehr zu bieten hat | |
| als das Robbenfett in einem Holzverschlag und die Legenden, die die Alten | |
| nach und nach vergessen. | |
| Sind es die Gräber der Vorfahren, die sie in dieser nicht enden wollenden | |
| Schönheit aus Schnee und Eis halten? Ein Gefühl, das sich Heimat nennt? | |
| Schmerzvoll, es aufgeben zu müssen und woanders nicht mehr das | |
| wiederzufinden, das einem so nah und vertraut ist? Ist es die Weite, die | |
| seltsame Stille, die gar nicht still ist, weil das Meer immer tost? Der | |
| knirschende Schnee, das Gefühl der Unendlichkeit? | |
| Der Fischer, der mich hinter sich herzog, eine Viertelstunde bereits, | |
| stellte sich solche Fragen nicht. Er, der bis vor wenigen Minuten noch mit | |
| bloßen Händen aus einem präzise ausgemessenen Eisloch Stinte, Dorsche, | |
| Grundeln in einen anderen Schlitten beförderte, pfiff gegen den Wind an, | |
| während ich nur noch einen Gedanken hatte: Wärme, gebt mir Wärme! | |
| ## Die Pioniere sind zurück im Land | |
| Ich weiß nicht mehr recht, wie meine Füße mich vom Schlitten ins Haus des | |
| Fischers getragen haben. Damals, 2019, noch weit vor dem Krieg, der von | |
| einer Minute auf die nächste alles an Gewissheiten zerstörte und einen | |
| undurchsichtigen Schleier auf das Land legte. Diesem Krieg, der alles in | |
| ein Davor und ein Danach teilt, der den Alltag in jeder Minute bestimmt. | |
| Die Arbeit sowieso. | |
| Zu den Niwchen kann ich nicht mehr. Der Geheimdienst FSB, der schon vor | |
| sechs Jahren alles überwachte und mich nach einigen Recherchetagen im | |
| Schnee sieben Stunden lang in einer grauen Amtsstube befragte, anbrüllte | |
| und erniedrigte, ohne auch nur ein Glas Wasser zu erlauben, hat nun alles | |
| unter Kontrolle. Das Frieren von heute ist ein anderes als das Frieren in | |
| der Bucht vor Sachalin. | |
| Die Fischersfrau hatte mir den Pelzmantel abgenommen und mich in Richtung | |
| Gasofen bugsiert. Ich spürte Leben in mir aufsteigen, es zog von den Zehen | |
| in den Kopf, meine Augen blinzelten wieder, die Finger griffen nach einer | |
| Tasse warmen Tees. Die feuchten Wollsocken baumelten auf einer Leine über | |
| dem Ofen, der hier nie ausging. | |
| Ach, Mütterchen … | |
| So empfängst du deine Besucher*innen. Du lässt sie zunächst in der Kälte | |
| stehen. Kein Lächeln. Du blaffst sie an, bellst fast, musterst sie. Fremde | |
| erscheinen dir immer gefährlich, suspekt. Du zeigst ihnen die kalte | |
| Schulter – und eine rührende Art von Neugier. Nach einer gewissen Zeit, | |
| wenn auch der Fremde sich geöffnet hat, wenn er dich angelächelt hat – oder | |
| vielleicht auch angeblafft hat, weil er dachte, so gehöre es sich im Umgang | |
| mit dir – lässt du ihn die Wärme verspüren, die von dir ausgeht. Manchmal | |
| auch eine gefährliche Hitze. | |
| Ich bin eine etwas anders geartete „Fremde“. Manchmal sagst du sogar, ich | |
| sei eine „Nascha“, eine „Unsrige“. Geburtsland: Sowjetunion. 1980 war d… | |
| Meine deutschen Vorfahren hast du einst ins Lager gesteckt, hast sie | |
| schuften und hungern lassen. Sie haben deinen Gulag überlebt, voller Angst | |
| und Traumata, die sie bis heute in sich tragen. Meinen ukrainischen | |
| Urgroßvater hast du vom NKWD, dem Vorgänger des heutigen FSB, festnehmen | |
| lassen und ihm seine Identität genommen. Sein Sohn hat seinen Namen | |
| geändert und nie etwas über die Festnahme des Vaters erzählt. Die Vorwürfe, | |
| die sich im „Fall“ gegen den ukrainischen Urgroßvater, der nur noch | |
| sowjetisch sein durfte, finden, sind teils wortgleich mit den Vorwürfen | |
| gegen die heutigen Regimekritiker*innen. Es sind fast 90 Jahre vergangen. | |
| Ich bin nicht die „Deine“. Aber ich kenne deine Mechanismen von Demütigung | |
| und Bestrafung von klein auf. Weiß, dass ein Individuum ein Nichts ist für | |
| dich und das Kollektiv alles. „Immer bereit!“ Dieser Spruch der | |
| Jungpioniere, auch mir ging er als Kind über die Lippen – bis ich die | |
| zusammengebrochene Sowjetunion verließ und lernte, die Welt mit anderen | |
| Augen zu sehen. Vielfältig, auch zweifelnd, Fragen stellend. | |
| Die Pioniere sind zurück im Land, nun nicht mehr sowjetisch, sondern | |
| russisch. Sie haben sich zur neu gegründeten „Jugendarmee“ gesellt, die in | |
| Wettbewerben feiert, wer am schnellsten eine Kalaschnikow auseinandernimmt | |
| und wieder zusammensetzt. Auch Fahnenappell und die militärische | |
| Grundausbildung in der Schule sind wieder da. Du bist geübt in | |
| Indoktrination, schon der Allerkleinsten. Ich erinnere mich an das Gedicht | |
| „Kakerlake“ des sowjetischen Kinderautors Kornej Tschukowski. Du bist wie | |
| der dicke Schädling dort: Ein „schrecklicher Riese, rot und mit | |
| Schnurrhaaren“ tauchte bei allerlei Tieren auf und versetzte sie in Angst | |
| und Schrecken. „Bringt mir eure Kinderlein“, schrie die Kakerlake bei | |
| Tschukowski. „Ich werde sie zum Abendessen verspeisen.“ | |
| Du verspeist. Kinder und Erwachsene zugleich. Nicht der Bär, die Kakerlake | |
| müsste dein Nationaltier sein, in jeder Ecke deines Riesenlandes versteckt | |
| sie sich, nicht auszurotten. | |
| ## Barmherzigkeit war noch nie deine Stärke | |
| Ach, Mütterchen … | |
| Du duldest keine Fragen, keinen Zweifel. Für dich gibt es ein ständiges | |
| „Nelsja“ (Man darf nicht) und ein „Nado“ (Man muss). Warum die Menschen | |
| etwas nicht dürfen oder etwas müssen, erklärst du nicht. Du stellst nur | |
| fest. Hält sich der Mensch nicht daran, wird er bestraft. Immer. | |
| Barmherzigkeit war noch nie deine Stärke. Um ans Ziel zu kommen, kennst du | |
| nur Gewalt. | |
| Es gab eine Zeit, in der du dich geöffnet hattest. Eine chaotische Zeit, in | |
| der niemand wusste, wie mit Freiheit umzugehen sei. Und wie mit einer | |
| Wirtschaft, die zusammengebrochen war. Die Freiheit war nach einiger Zeit | |
| anstrengend, zu wild das alles. Selbst denken ist anstrengend, | |
| Verantwortung übernehmen ist anstrengend. Du hast es gern gesehen, als die | |
| Menschen alles an dich übergaben und auf ihrer Datscha das Leben genossen. | |
| „Der Politik bin ich fern“, sagen sie gern. Nicht alle natürlich. Wie lebt | |
| es sich in einer Gesellschaft des Umbruchs? In einer Gesellschaft, die | |
| Teile ihrer Geschichte verleumdet und eine Zukunft leben will, in der sie | |
| ihre Erzählung vom kulturhistorischen „Sonderfall“ jedem aufzubinden | |
| versucht? | |
| Ich war als Kind gegangen und bin als Erwachsene zu dir zurückgekehrt. Nach | |
| Russland. Ich bin durch den postsowjetischen Raum gereist. Habe als | |
| Austauschstudentin dein Unileben kennengelernt (sehr verschult), später als | |
| Gastredakteurin bei einer russischen Zeitung gearbeitet (als es noch | |
| unabhängige Medien gab). Ich bin Jahre bei dir geblieben, überzeugt davon, | |
| dich meinen Leser*innen erklären zu können, deine Geschichte, deine | |
| Schmerzen. Ich blieb auch noch da, als viele Kolleg*innen dir längst den | |
| Rücken gekehrt hatten. Dich zu verstehen, machte das lange Beobachten, | |
| Zuhören, Fragen stellen dennoch nicht einfacher. | |
| Ich lernte hier die Liebe kennen, vor einem Gerichtsgebäude, wo sonst. | |
| Russlandberichterstattung ist weiterhin Gerichtsberichterstattung. Nur dass | |
| die Gerichte kaum mehr Journalist*innen in die Verhandlungssäle lassen. | |
| Nach ein paar Jahren woanders war ich wieder bei dir, zu einem Zeitpunkt, | |
| als deine Gesellschaft immer militaristischer wurde. Mehr als mein halbes | |
| Leben lang habe ich bei dir verbracht, habe unserem Kind deine Sprache | |
| mitgegeben, meine Sprache der Kindheit, die ich nicht Putin und seinen | |
| willfährigen Handlangern überlasse. | |
| Ich habe als Fünfjährige im Steppenwind zu Alla Pugatschowa herumgetänzelt, | |
| da war sie längst eine Diva. Du hast sie, eine Nationalheilige fast, tief | |
| stürzen lassen, weil sie Rückgrat bewies und dich für deinen Überfall auf | |
| die Ukraine kritisierte. Ihre Lieder sind heute wie gelöscht im Land. Ich | |
| mache sie oft laut im Auto an, wenn ich mit 80 Stundenkilometern über die | |
| achtspurigen Straßen durch das Moskauer Stadtzentrum brettere – ja, das | |
| darf man –, vielleicht eine Art persönlichen Protests. Manchmal weinen der | |
| Himmel über der Stadt und ich dabei um die Wette. | |
| Du frisst einen auf, du machst krank, du lässt Wut aufkommen und Hass und | |
| Mitleid, eine ganze Palette an Emotionen. Du lässt Tränen vergießen, um | |
| dich und deinetwegen, und klebst doch an einem. Da hilft auch kein Gläschen | |
| Wodka als Absacker, „na possoschok“, wie du sagst. | |
| Die Willkür ist dein ständiger Begleiter. Du hast dich in der Gewalt | |
| eingerichtet. In alten Verbrechen, die du nicht verarbeiten willst, auch | |
| Jahrzehnte nach diesen Verbrechen nicht; du wälzt jeden nieder, der dies | |
| dennoch versucht. Auch mit neuen Verbrechen findest du dich ab, die du | |
| täglich begehst und über die du der ganzen Welt erzählst, all das sei nur | |
| zu deinem Schutz, zu deiner Verteidigung. Du lügst dir in die Tasche und | |
| verdrehst die Tatsachen so geschickt, dass dir die Welt so viele Jahre | |
| alles Mögliche abgenommen hat, trotz deiner Kriege, Tschetschenien, | |
| Georgien, Ukraine, mit dir Geschäfte machte, deine Gastfreundschaft | |
| hervorhob und deinen angeblichen Willen zur Partnerschaft. | |
| ## Der Westen: Vorbild und Rivale zugleich | |
| Die russische Seele sei es, die sie so anlocke, die dich so besonders | |
| mache, schwärmten die Unbelehrbaren stets. So manche/r von ihnen schwärmt | |
| wohl auch noch heute von ihr. Du hast diese Seele nie gehabt, du hast sie | |
| nur mittels des Franzosen Eugène-Melchior de Vogüé bereits im 19. | |
| Jahrhundert ziemlich erfolgreich in die Welt hinaustragen können. Du | |
| ließest dich damals auf einen Fremden ein, auch noch einen aus dem Westen. | |
| Vorbild und Rivale zugleich ist dieser Westen stets für dich. Du arbeitest | |
| dich an ihm ab, du brauchst ihn zum Überleben. Du klebst an ihm. Du bist | |
| eine zähe Sache. | |
| Ach, Mütterchen … | |
| Matuschka. Mat’. Mama. Russland ist weiblich, hervorgegangen aus der | |
| Vorstellung von der Erde als göttliche Mutter, die zum Symbol der Stärke, | |
| der Widerstandskraft und der Fruchtbarkeit stilisiert wurde. Diese Stärke | |
| willst du allen weismachen und bist zuweilen so erbärmlich unsouverän und | |
| infantil, weil du ständig auf andere zeigst und fast schon trotzig brüllst: | |
| „Aber die haben das auch gemacht! Wir dürfen jetzt auch!“ Widerstand ist so | |
| eine Sache bei dir. Du machst dir die Menschen, die durchaus ständig am | |
| Klagen sind, gefügig. Du nimmst ihnen immer mehr den Raum, sich dir zu | |
| entwinden. Verlangst, dass sie sich dir unterwerfen, egal, was du von ihnen | |
| willst. Sie sollen dir blindlings folgen, sollen Gehorsam leisten, gern | |
| vorauseilend, und bloß nicht aufmucken. Den Gürtel enger zu schnallen, | |
| gehört mitunter zu deiner Spezialität. Manchmal bist du geradezu stolz auf | |
| deine Leidensfähigkeit. | |
| Und das mit der Fruchtbarkeit? Im Ernst? Du schickst deine Söhne in den | |
| Krieg, du sagst schon den Kleinsten, es sei ihre Pflicht, für dich, die | |
| Mutter Heimat, auf Schlachtfeldern zu sterben, du nimmt allen die Zukunft | |
| und zwingst die Frauen, gern schon Schulmädchen, zur Geburt von Kindern, | |
| die du zum Frischfleisch für deine imperialistischen Fantasien machst oder | |
| zumindest zu Mitläufer*innen. Völlig schonungslos. | |
| Ich weiß, du gibst dich aufopferungsvoll, ach so liebend, immer nur dein | |
| Kind im Blick. Mamotschka, Mamulja, Mamussik, geradezu lieblich kommen | |
| deine Namen daher. Doch du hast dich längst mit deiner Rolle der | |
| aufopfernden Dienerin eines Verbrecherstaates abgefunden. Du als Mütterchen | |
| Russland, so lässt sich über deine Entstehungsgeschichte herausfinden, | |
| hattest stets ein Zaren-Väterchen an deiner Seite. Der Monarch schloss eine | |
| heilige Allianz mit dir, die Ehe. Und schon gehörtest du ihm, er sprach für | |
| dich und tat alles in deinem Namen. | |
| ## Im Namen des Friedens lässt du töten | |
| Das Väterchen ist kein Zar mehr, du hast dich längst dem Präsidenten | |
| ausgeliefert. Dem Mann, einem Geheimdienstler, der in deinem Namen sagt, | |
| Russland kenne keine Grenzen. Der das Nachbarland überfällt und den | |
| Menschen weismacht, es sei gar kein Überfall, sei kein Krieg, es sei eine | |
| „militärische Spezialoperation“, nach drei Tagen beendet, die Soldaten | |
| würden mit Blumen empfangen. | |
| Eine Überschätzung von Anfang an. Du und er, ihr findet auch nach | |
| dreieinhalb Jahren keinen Weg mehr heraus, ihr habt alles auf diesen Krieg | |
| eingestellt, den ihr nicht Krieg nennt. Denn einen Krieg, so sagt der | |
| moderne Zar, dein Präsident, den führten die anderen, angeblich gegen dich, | |
| deine Interessen. Es ist eine pervertierte Geschichte, und du trägst sie | |
| mit, so stromlinienförmig wie die meisten um dich herum. | |
| Wie machst du das? Wie schaffst du es, das Denken abzustellen und all das | |
| zu ignorieren, was nicht zu ignorieren ist? Du spaltest die Fakten so weit | |
| ab, dass du ganz verwundert darüber bist, dass deine Verwandten in der | |
| Ukraine nicht mit dir sprechen wollen. „Aber ich, ich habe ihnen doch | |
| nichts getan“, stammelst du allen Ernstes. „Ich, ich bin doch so | |
| friedliebend“, sagst du und lässt sogleich (ja, als unteilbare Gemeinschaft | |
| mit dem Väterchen) Drohnen und Raketen auf ukrainische Städte niederregnen. | |
| Das sei alles deins, behauptest du, du wollest das nur mal schnell | |
| „befreien“. Deine „Befreiungskünste“ aber schätzt niemand. Im Namen d… | |
| Friedens lässt du töten und versinkst im Sumpf aus Verwerflichem und | |
| Beschönigendem. Du willst nicht nachdenken, willst nichts wissen, willst | |
| nichts fühlen. Du willst keinen Schmerz spüren, der täglich um dich ist, | |
| der tote Bruder, der verwundete Enkel, der verschollene Nachbar. | |
| Du hast das russische Wort „gore“ vergessen und die Bedeutung dahinter. Sie | |
| ist so vielfältig: Leid, Schmerz, Kummer, Misere, Ungemach, Last, Unglück, | |
| Elend. Du willst all das von dir weisen, du Patriotin! Willst lieber im | |
| überfüllten Café deinen Sommerdrink schlürfen, willst über Brücken voller | |
| prächtiger Blumen laufen, willst Festivals feiern, jedes Wochenende, alles | |
| gratis, willst dich betäuben in diesen Farben und Gerüchen, dich | |
| unterhalten lassen. Du willst im Sommerregen tanzen. Dabei tanzt du auf den | |
| Knochen Getöteter und Geschundener. Auf der Asche von verbrannten Babys und | |
| den Überresten von verschütteten Alten. | |
| Du hast dir eine scheinbar sorgenfreie Realität geschaffen. Bunte Kulissen, | |
| dekoriert mit übergroßen Blumenkübeln entlang der Einkaufsstraßen. Es ist | |
| eine „Verdatschung“ der ganzen Gesellschaft, eine Flucht ins Grüne, ein | |
| bisschen in der Erde buddeln, in der Hängematte baumeln, in die Sonne | |
| hinausblinzeln. Hinter den Kulissen der Abgrund, in dem der Morast blubbert | |
| und stinkt. Was passiert, wenn du aus der Hängematte hinaus- und in die | |
| Schlucht hineinfällst? | |
| ## Du raubst das Ich | |
| Du könntest der Welt deine dampfenden Vulkane von Kamtschatka zeigen, deine | |
| Schneetundra an der Barentssee. Du könntest sie den Steppenwind am Ural | |
| spüren und den Lachs an den sibirischen Flüssen schmecken lassen. Du | |
| könntest so vieles. Stattdessen drohst du mit Atomwaffen und zerstörst | |
| Häuser, Leben, Gewissheiten. Du bringst deine eigenen Leute hinter Gitter, | |
| weil sie dein verbrecherisches Tun anprangern. Du schmeißt deine Leute aus | |
| dem Land und nennst sie „ausländische Agenten“, „Extremisten“, | |
| „Staatsverräter“, weil sie Krieg sagen zum Krieg. Du nimmst mit deinen fast | |
| täglichen Vorschlägen und Gesetzen jeden Raum zum Gestalten. Du raubst das | |
| Ich. | |
| Zurück bleibt die Tragik. Da ist L., jung, Anwältin, mehrere Sprachen | |
| beherrschend. Sie erkennt genau, was los ist bei dir, sie sieht bei den | |
| eigenen Eltern, wie gut du darin bist, die Hirne der Menschen zu vernebeln. | |
| Sie stritt mit Vater und Mutter, sie stritt für ihre Position. Aber selbst | |
| Väter und Mütter können denunzieren. L. verstummte. Nur in ihrem Innern | |
| schreit sie laut gegen dich an. Und gegen sich. Äußerlich lebt sie ein | |
| unauffälliges Leben. Bringt die Tochter in den staatlichen Kindergarten, | |
| wohl wissend, dass die Leiterin dieses Kindergartens Geld sammelt für die | |
| Ausrüstung der Soldaten im Donbass. Sie windet sich, sie holt sich | |
| psychiatrische Hilfe – und findet sich ab mit dir. Das Kind in einen | |
| Privatkindergarten geben? Von welchem Geld? Das Kind zu Hause lassen? Wer | |
| verdient das Geld? Eine Wahl zu haben, ist ein Privileg. | |
| Da ist A., ein Kleinunternehmer. Niemand in seiner Umgebung sieht alles, | |
| was bei dir passiert, irgendwie kritisch. A. fühlt sich allein. Die | |
| Geschäfte laufen schlecht, weil die Finanztransaktionen wegen der | |
| Sanktionen ein mühsames Ding sind. A. versteht das alles. Doch überleben | |
| muss man irgendwie. Auch er findet sich ab mit dir. | |
| Da ist S., einst in oppositionellen Kreisen aktiv. Nach Festnahmen | |
| flüchtete er in ein Dorf im Norden, hier fischt er und schippt Schnee im | |
| Winter. Die Politik ist in seinem Kopf und manchmal auch an seinem | |
| Esstisch, wenn die Nachbarin vom verletzten Sohn bei der „Militäroperation“ | |
| erzählt. „So lange der Verbrecher im Kreml sitzt, so lange wird er unsere | |
| Kinder fressen“, sagt S. zur Nachbarin. Die Nachbarin will es nicht hören. | |
| Da ist ein anderer A., ein Intellektueller, zum „ausländischen Agenten“ | |
| abgestempelt. Er denkt, er schreibt, er wird immer weniger. Blass, grau, | |
| schmal. „Hier ist meine Bibliothek, hier sind meine Verwandten begraben. | |
| Es ist mein Land“, sagt er. | |
| Da ist das Mädchen V., das in der Schule eine Soldatenuniform trägt und von | |
| „roten Raketen und Maschinengewehrsalven“ singt. Die Eltern daheim sagen: | |
| „Es schadet ihr nicht.“ | |
| Da ist der Jugendliche F., der so viele Fragen hat, zu sich, zum Leben, zu | |
| allem. „Der Krieg, die Politik, die Sorgen um die Zukunft sind nicht die | |
| Themen, die erlaubt sind. Das versteht jeder“, sagt er. | |
| ## Wir müssen uns trennen | |
| Sie sind bei dir geblieben. Sie wollen, können nicht weg. Sie leben in dem | |
| Desaster, das du angerichtet hast und sie nicht verhindert haben, wie auch | |
| die Gegangenen und die Gegangenwordenen darin leben. Trotz allem träumen | |
| sich viele Exilant*innen/Relokant*innen/Emigrant*innen (die Gegangenen | |
| haben viele Namen für sich) wieder hierher, zu dir, ins Vertraute, | |
| Bekannte. Hier wartet zuweilen ein Strafverfahren auf sie oder es wurde | |
| bereits ein Urteil in Abwesenheit gegen sie gefällt. Sie sind in Amsterdam, | |
| in Riga, in Tbilissi. Sie sind rund um die Welt verstreut und sagen: „Ich | |
| will in mein Moskau zurück. In mein Russland.“ Dieses Moskau und dieses | |
| Russland aber gibt es nicht mehr. | |
| Auch wir müssen uns trennen. Vielleicht für lange. | |
| Ach, Mütterchen, пока … | |
| 11 Aug 2025 | |
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| Inna Hartwich | |
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