| # taz.de -- Flanieren im Berliner Stadtbild: Über die Spree und es zieht wie H… | |
| > In Kreuzberg, Neukölln und im Plänterwald kann man auch übers Stadtbild | |
| > reden, da begegnen einem nämlich Füchse, Waschbären und Die Sterne. | |
| Bild: Berlin, Alexanderplatz: Fuchs im Stadtbild | |
| Samstagmorgens um zehn ist die Welt in Deutschland noch in Ordnung. In | |
| Kreuzberg ist die Welt schon Freitagnachmittag um drei in Ordnung, | |
| Kreuzberg ist Avantgarde: Mein Nachbar kommt völlig aufgelöst des Weges, | |
| „Herr Weber, die taz ist überall ausverkauft!“ Das gab’s noch nie. „Me… | |
| Frau hat ein Exemplar ergattert und bringt es mit!“ Sonst sagt er immer | |
| nur, „Schreiben Sie was Anständiges!“ „Das würde Ihnen so passen!“, | |
| entgegne ich dann, oder „Auf gar keinen Fall!“ | |
| Am Freitagnachmittag ist der Kater vom Donnerstag überwunden, aber der | |
| Blues bleibt hartnäckig. In der taz-Kantine wurde am Abend zuvor die | |
| sogenannte Seitenwende gefeiert, Tag X, der [1][die letzte taz-Printausgabe | |
| unter der Woche] beschließt, die am Freitag schließlich erschienen ist. | |
| Ökonomisch kann ich es nachvollziehen, mein Geist humpelt aber noch | |
| hinterher: Ich mag Papier weiterhin, es ist geduldig. Ist die taz-App | |
| geduldig? Sicher werde ich mich an den Digital-only-Zustand gewöhnen, werde | |
| jetzt aber eher keine Raschel-App runterladen, um Papierknistern zu | |
| simulieren. | |
| Bei den Reden von Chefinnen und Geschäftsführung gab es Dank und | |
| Wertschätzung für die Arbeit; nicht selbstverständlich in einem Laden, in | |
| dem viele Leute hinter den Kulissen schuften, oft ohne Lob. Viele Ehemalige | |
| ließen sich blicken – auch nicht selbstverständlich. Natürlich wird auch | |
| Politprominenz gesichtet. | |
| Das wird hier jetzt aber keine Society-Reportage. Sorry. Und das taz-Haus | |
| ist auch kein Raumschiff wie das Kanzleramt, es steht nahe dem Halleschen | |
| Tor und gehört zur unmittelbaren Nachbarschaft in Kreuzberg. Von der Party | |
| muss ich dringend los, als der Erste die Schuhe ausgezogen hat, um mit | |
| Strumpfsocken auf den Dancefloor zu gehen. | |
| Freitagabend kommt eine Freundin zum Abendessen, die Rede fällt bald auf | |
| Söder, Merz und [2][die unsägliche #Stadtbild-Debatte]. Von Ferne erinnert | |
| sie an Trump und seine Behauptung, die Innenstadt von Chicago gleiche einem | |
| Kriegsgebiet. Anstatt die Brandmauer hochzuziehen, wollen Söder und Merz | |
| der AfD Wählerstimmen abluchsen, in dem sie deren Wording übernehmen und | |
| den Menschen nun vorgaukeln, Deutschland müsse aussehen, wie die | |
| Stadtsilhouette auf der Verpackung von Nürnberger Lebkuchen. Zum Kotzen! | |
| ## Bunte Blätter am anderen Ufer | |
| Wir echauffieren uns aber nicht nur, wir gondeln fröhlich hinüber nach | |
| Friedrichshain ins Astra. Auf der Warschauer Brücke zieht es wie Hechtsuppe | |
| – normal. Die Sterne spielen live und das zieht auch: Mehr als 1.000 Leute | |
| finden sich ein, Altersspanne zwischen 16 und 60, die Halle ist brechend | |
| voll, der Merch-Stand wird umlagert. | |
| Evergreens wie „Big in Berlin“, „Die Interessanten“ und „Wenn dir San… | |
| Pauli auf den Geist geht“ bilden eine Klammer und schließen Songs des | |
| krautig-discoiden neuen Albums als Sneakpreview mit ein, das im Januar | |
| veröffentlicht wird. Ich treffe viele alte Bekannte, darunter eine Freundin | |
| aus München, die zufällig in der Stadt ist. Die Sterne sind auch wie alte | |
| Bekannte, verlässlich, routiniert, gut, dass es sie gibt. | |
| Am Samstag geht’s an die frische Luft. Hinaus durch den friedlichen Görli | |
| und den weitläufigen Treptower Park bis in den verwunschenen Plänterwald. | |
| Dort ist es unnatürlich still, die klamme Luft kriecht in beide | |
| Lungenflügel, Herbstlaub erscheint als reine Farbe, explodierend, | |
| leuchtend, tönend. Feuerrot, blutorange, ockergelb, dunkelgrün. Wann und wo | |
| habe ich diese Farben lieb gewonnen? Es muss im Plänterwald gewesen sein. | |
| ## Höchste Zeit für Melancholie | |
| Plötzlich stehen Furries vor uns. Drei Füchse, die aussehen wie Maskottchen | |
| der Bausparkasse Wüstenrot. Etwas später kommt noch ein | |
| blau-schwarz-getigerter Waschbär (Auspuff-Maskottchen) hinzu und winkt | |
| freundlich. Vielleicht in hundert Jahren wird der erste bayerische | |
| Ministerpräsident [3][ein Furry sein], identifiziert sich als Wolpertinger | |
| und redet trotzdem weniger Stuss [4][als der depperte Mensch Markus Söder]. | |
| Das wär doch mal was. | |
| Sonntag radle ich in die Anzengruberstraße nach Neukölln. Nicht nur wegen | |
| des bayerisch klingenden Straßennamens mag ich die, dort gibt es auch einen | |
| indischen und einen polnischen Supermarkt und das CANK, einen | |
| Veranstaltungsort in einem ehemaligen Hertie, der gerade für eine | |
| Ausstellung zwischen genutzt wird. | |
| Hergerichtet wie ein Chilloutraum, flackert angenehmes trübes Licht in | |
| lila, dazu liegt man auf weichen Kissen oder sitzt auf einer Tribüne in | |
| Pyramidenform und schaut Videoarbeiten von CEL aus London und Chrystelle | |
| Oyiri aus Paris. Pop meets Kunst meets Videospielästhetik, ohne | |
| Reibungsverluste. Der ganze Raum ist eine Installation, in die man sich | |
| wahlweise reinflätzen kann oder zu der man rumlungern kann, wie am | |
| Dancefloor. Ich verheddere mich mit meinem Schal und Kopfhörerkabel, | |
| verliere einen Handschuh, finde ihn wieder. Es ist kalt, höchste Zeit für | |
| Melancholie. | |
| 21 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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