| # taz.de -- Musikbiennale von Venedig: Der innere Leitstern | |
| > Caterina Barbieri versucht als künstlerische Direktorin den Geist der | |
| > experimentellen Szene nach Venedig zu bringen. Die 69. Musikbiennale hat | |
| > begonnen. | |
| Bild: Die Barchini-Bootsprozession erreicht am Samstagabend das Arsenale-Gelän… | |
| Venedig Ein verblüffender Moment am Sonntag während der Verleihung des | |
| silbernen Löwen für „Cry of our Guardian Star“, ein Auftragswerk von | |
| US-Künstler:In Elysia Crampton für die 39. Musikbiennale in Venedig. Im | |
| Biennale-Palast kommt Elysia Crampton für ein Gespräch mit Andrea Lissoni | |
| (Kurator am Münchner Haus der Kunst) auf die Bühne. | |
| Im weißen Jeans-Anzug und weißen Stetson-Hut, brauner Lederjacke und einem | |
| karierten Poncho erwidert Crampton die erste Frage von Lissoni mit einem | |
| Griff in den Medizinbeutel. Eine Heilpflanze wird hervorgeholt. Mit den | |
| Worten „Lass uns essen“, reicht Crampton dem Kunstkurator das Kraut. | |
| „Medicine as Power“ wird später deklamiert. | |
| Zuvor verliert sich Crampton in einem Monolog über die Bedeutungen von | |
| Wasser, Luft, Landschaft und einer Katze, der in der indigenen Kosmologie | |
| der kalifornischen Wüste seherische Bedeutung zukommt. Elysia Crampton kaut | |
| weiter, die Backentaschen voller und voller. So ganz kann ich den | |
| Ausführungen nicht folgen. Muss ich auch nicht. Das Motto der 39. | |
| Musikbiennale „The Star Within“ verkörpert Elysia Crampton auch so. Die | |
| bizarre Mischmusik aus Kalifornien weist den Weg – während die Heilpflanze | |
| von einer Backentasche in die andere wandert. | |
| Verführerischer Subwoofer-Schall | |
| Am Tag zuvor eröffnete Cramptons musikalische Bootsprozession den Reigen. | |
| Lautsprecher sind auf neun Barchini installiert, kleinen Barken mit | |
| Außenborder, die den Kanal unter der Brücke „Ponte dei Giardini“ nahe dem | |
| Arsenale hindurchgleiten. Ihr Subwoofer-Schall weht hinter den Booten | |
| verführerisch her. | |
| Im letzten der neun Barchini sitzen Elysia Crampton und Bruder Joshua, | |
| diesmal in azurblauen, metallisch blinkenden Mariachi-Anzügen und | |
| breitkrempigen Stetsons. Zwei Gestalten aus einem [1][David-Lynch-Film] auf | |
| einer Barke in der Lagunenstadt. [2][Der Film „Atlantide“ des italienischen | |
| Filmemachers Yuri Ancarani] kommt in den Sinn, der die Subwoofer-Subkultur | |
| der venezianischen Jugend zum Drama inszeniert. Heute dringen aus den | |
| Lautsprechern verspulte Gitarren, leicht sonnenstichige Samplesounds, | |
| somnambul fühlt sich diese Musik an. | |
| Beim Auftaktkonzert am Isolotto des Arsenale geht die Style-Verwirrung | |
| weiter. Die Cramptons droppen unter dem Titel „Los Thuthanaka“ harschen | |
| Noise, aufgebohrt mit Cumbiabeats, wieder Metal, aber auch Oregon-artiger | |
| ECM-Fusion, dazu Radiojingles: „Full Mix en Vivo“. Im Katalog wird | |
| theoretisch nachgewürzt: „Verwurzelt in der Aymara-Kosmologie und im | |
| antikolonialen Denken, werden Folktraditionen mit digitalen Technologien | |
| und Clubkultur-Anmutung fusioniert, um Sounds zu kreieren, in denen | |
| Identitäten, Geschichte und Widerstand zusammenfließen.“ | |
| In Venedig fließt sowieso alles zusammen. Das müffelnde Brackwasser der | |
| Kanäle mit der Adria, schlingernde Bootsmotoren mit den bröckelnden | |
| Fassaden der Paläste, Disneyland-Selfiestick-Overtourism mit den | |
| griesgrämigen Bediensteten der Serviceindustrie, die diese molto-crazy | |
| Atmosphäre scheinbar stoisch ertragen. Irgendwo in diesem morbiden, | |
| spätkapitalistischen All-Inclusive fügt sich auch der indigene | |
| Fusionambientbarock als Soundtrack ein. | |
| Weltpremiere von „Travelling Light“ | |
| Trotzdem ist man auch erleichtert, als im Teatro alle Tese im Arsenale am | |
| Abend die Weltpremiere von „Travelling Light“, einem Liederzyklus des | |
| portugiesischen Gitarristen Rafael Toral ansteht. Langsam schleicht der | |
| Künstler auf die Bühne, in der Hand ein Messgerät, mit dem er die Akustik | |
| des Gewölbes knacksend und morsend austestet. Als er dann schließlich zur | |
| Gitarre greift, geschieht jenseits von Fließbewegungen, die per Fußpedal | |
| ausgelöst werden, nur Sparsames. | |
| Toral surft auf timegestretchten Lehntönen. Gelegentliche Jazzharmonien der | |
| Bläsersektion ringen um Aufmerksamkeit, mit behutsamer Saudade inszeniert. | |
| Das Zusammenspiel klappt am besten mit dem Hornisten Yaw Tembe und dem | |
| Klarinettisten José Bruno Parrinha, die jeweils über die Tonkaskaden von | |
| Toral improvisieren, bis eine Art Ellington-Suite-Anmutung entsteht. Diese | |
| Musik ist gut fürs Karma. | |
| Exorzistisch zum Kehraus um Mitternacht wird es dagegen mit [3][der | |
| belgisch-kongolesischen Künstlerin Nkisi] und der Weltpremiere von „Anomaly | |
| Index“, ihrem Stück für „Nord Wave 2, HPD-20, schnurlosen Mikrofonen und | |
| weiteren Plug-ins“. Den Gerätepark hat die Künstlerin – ganz in Schwarz �… | |
| wie eine Wagenburg um sich gruppiert. Das künstlerische Vorhaben: | |
| monströser Lärm. | |
| Fast schon meditativ wirken die gelegentlichen Schläge auf zwei Rotodrums | |
| und einige Becken. Das Noise-Herz der Finsternis dringt in jede Ritze des | |
| riesigen Raums. Man vergisst alles, was man über kongolesische Musik weiß | |
| und lernt Neues über die Brüsseler Industrialszene und ihre tribalistische | |
| Electronic-Body-Music. Hinaus in die sternenklare milde venezianische | |
| Nacht. | |
| Venezianische Musik im 16. Jahrhundert | |
| Musik war schon im Venedig des 16. Jahrhunderts allgegenwärtig und hatte | |
| für alle sozialen Klassen Bedeutung. Sie spielte an katholischen Festtagen | |
| und im Karneval. Im 17. Jahrhundert gab es 18 Theater in der Stadt, an | |
| vielen Häusern gehörten Musiker zum Ensemble. | |
| Das kulturelle Erbe Venedigs empfindet [4][Caterina Barbieri], | |
| künstlerische Direktorin der Musikbiennale, eher als Hemmschuh, gesteht sie | |
| anderntags der taz. Barbieri, selbst gefeierte Elektronik-Komponistin, hat | |
| ihrer Heimat schon als Studentin den Rücken gekehrt und wurde in Stockholm | |
| ausgebildet. Inzwischen ist sie regelmäßig auch [5][in der experimentellen | |
| Berliner Szene] zu Gast und versucht, den freien Geist von dort auch bei | |
| der Musikbiennale zu etablieren. | |
| Was das vielfältige Programm anbelangt, ist ihr das gelungen, und man sieht | |
| auch am gemischten Publikum, dass ihre Arbeit ankommt. „Musik ist der | |
| innere Leitstern“, schreibt Barbieri im Katalog. „Sie erfüllt unsere | |
| Sehnsucht für Größeres … öffnet für die Unendlichkeit des Kosmos.“ | |
| Am Sonntag bekommt man eine Ahnung von jener cosmic music, als [6][der | |
| französische Komponist Maxime Denuc] im Arsenale seine dreiteilige, | |
| MIDI-gesteuerte Pfeifenorgel für die Weltpremiere von „Elevation“ | |
| präsentiert. Ein Werk beeinflusst von Bach und dem Berliner | |
| Dubtechnoproduzenten René Loewe (alias Vainqueur). Denucs | |
| 360-Grad-Technofuge lädt zum Deep Listening ein, denn die Ellipsen der | |
| Orgelpfeifen, ihre Drones werden zur wellenförmigen körperlichen Erfahrung. | |
| Viel Publikum für William Basinski | |
| Publikumsmagnet ist am Eröffnungswochenende William Basinski. | |
| Offensichtlich treffen seine impressionistische Pianoloops den | |
| Massengeschmack. Vier Flügel und zwei Pauken stehen auf der Bühne, das | |
| Publikum drumherum. Schon mit der Begrüßung zieht der US-Künstler die | |
| Sympathien auf sich: „Gut, dass ihr sitzt, wir sind müde.“ | |
| Übermüdet wirkt auch die Weltpremiere seines „Garden of Brokenness“, eine | |
| minimalistische Pianofigur, versetzt und im Tempo zerdehnt. Dazu gewähren | |
| zärtliche Tupfer auf die Pauken Streicheleinheiten. Erschöpfung und | |
| Melancholie treffen geradewegs den Empathie-Nerv. Mir war es allerdings zu | |
| verschmust. | |
| Sofort liefert [7][der afroamerikanische Produzent Speaker Music (Deforrest | |
| Brown Jr.)] die Antithese. Setzt sich ans Laptop, betätigt eine Taste und | |
| stützt einen Ellbogen auf. Aus den Boxen kommt eher keine „Speaker Music“, | |
| sondern satte Übersteuerung. Der Komponist selbst schreibt von „synoptic | |
| audio“, er steuert künstlerische Höhepunkte der great black dada music an, | |
| verweilt aber nur kurz. | |
| Das ist genau das Problem, denn auch die guten Momente seiner | |
| Überwältigungtaktik versanden im Lärm. Andererseits weckt das Konzert von | |
| Speaker Music auf, erfrischt, wie fast alles an diesem Auftaktwochenende | |
| der Musikbiennale. | |
| 14 Oct 2025 | |
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| [1] /Nachruf-auf-Regisseur-David-Lynch/!6062889 | |
| [2] /Venezianische-Bootskultur-im-Film/!5876680 | |
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| [4] /Neue-Musik-aus-Berlin/!5936152 | |
| [5] /Berliner-Musikfestival-Atonal/!5959137 | |
| [6] /Festival-Meakusma-in-Eupen/!6034159 | |
| [7] /Techno-Album-von-Speaker-Music/!5954348 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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