| # taz.de -- Essen in Katalonien: Heilsame Schäume | |
| > Katalonien ist für seine Spitzenküche berühmt, doch die Menschen vor Ort | |
| > ernähren sich häufig nicht gut. Die Fundació Alícia will das ändern. | |
| Bild: Beispielhaft für die katalanischen Küche: süß und salzig – Espinaca… | |
| taz | Eine tausendjährige Benediktinerabtei mit mächtigem Glockenturm und | |
| Klostergarten, drumherum sanft gewellte Weinberge. Kurz scheint es, als sei | |
| im Món Sant Benet die Zeit stehengeblieben, doch das gläserne Nebengebäude | |
| deutet auf mehr hin. Hier, im Hinterland von Barcelona, befindet sich ein | |
| innovatives [1][Forschungszentrum für Ernährung]: die Fundació Alícia. | |
| In einer der großen Laborküchen im Inneren formen an diesem Morgen | |
| Jugendliche einer Schulklasse Burgerpatties aus Kichererbsenmehl. Ein | |
| lautstarkes Unterfangen. „Wir veranstalten hier viele Workshops, auch für | |
| Profis“, sagt Adriana Gálvez, die durch das Gebäude führt. Die Stiftung hat | |
| sich zum Ziel gesetzt, den Menschen in der Region eine gute und nachhaltige | |
| Ernährung näherzubringen. Denn die ist für viele hier keine | |
| Selbstverständlichkeit mehr. | |
| Das mag man kaum glauben, wurde Katalonien doch gerade zur „Weltregion der | |
| Gastronomie“ ernannt – ein Titel, mit dem Arantxa Calvera, die Direktorin | |
| der katalanischen Tourismusagentur, stolz auf Messen und Tourismusevents | |
| wirbt. Keine andere Region der Welt hat solch eine hohe Dichte an | |
| Feinschmeckeradressen mit zwei oder drei Michelin-Sternen vorzuweisen. | |
| Geprägt und gepusht wurde das Image ab den 1990er-Jahren [2][durch Ferran | |
| Adrià und seine innovative Molekularküche], in der Lebensmittel wie | |
| Austern, Gemüse und Pilze durch chemische und physikalische Prozesse bis | |
| zur Unkenntlichkeit zu Schäumen, Emulsionen oder Gelatinen verarbeitet | |
| werden. | |
| Der kulinarische Alltag vieler in der Region sähe jedoch ganz anders aus, | |
| berichtet Adriana Gálvez von der Fundació Alícia: „Zu Hause greifen die | |
| Menschen immer mehr zu Fertigprodukten mit fragwürdigen Zusatzstoffen.“ | |
| Dies war einer der Gründe, warum das Team der Fundació schon bald nach | |
| ihrer Gründung seinen Fokus verschob. Ursprünglich war es 2003 angetreten, | |
| um mit Unterstützung von Ferran Adrià Küchentraditionen, -innovationen und | |
| -techniken zu erforschen. Inzwischen widmen sich die etwa zwanzig | |
| Ernährungswissenschaftler, Biologen, Köche und Mediziner der sozialen Seite | |
| von Ernährung. „Wir wollten auf die Gesellschaft Einfluss nehmen“, erinnert | |
| sich Gálvez, die einen Master im Bereich Gesundheit und Stoffwechsel hat. | |
| Denn die Katalanen ernährten sich schlechter und entwickelten immer mehr | |
| Lebensmittelunverträglichkeiten. | |
| ## Wildschweine schmackhaft machen | |
| Noch ein anderes Thema beschäftigt die Stiftung: „Es besteht die Gefahr, | |
| dass durch die vielfältigen Einflüsse anderer Küchen die katalanische | |
| Kochtradition und damit ein Stück Kultur verloren geht“, sagt Arantxa | |
| Calvera und verweist auf „El Llibre de Sent Soví“, das wohl erste Kochbuch | |
| auf der Iberischen Halbinsel und eine der ersten Publikationen in | |
| katalanischer Sprache, erschienen im Jahr 1324. Mit über zweihundert | |
| Rezepten legte es die Grundlage für eine lange Tradition und die | |
| charakteristischen Kombinationen der katalanischen Küche: süß und salzig – | |
| bei Gerichten wie Espinacas a la catalana, Spinat mit Rosinen und | |
| Pinienkernen –, sowie Mar i Muntanya, Meer und Gebirge, die Vereinigung von | |
| Fisch und Fleisch, etwa in Form von Pollastre amb llagosta, Hühnchen mit | |
| Languste. | |
| Um diese Traditionen zu bewahren, erforscht die Stiftung, wie man | |
| klassische katalanische Rezepte an moderne Geschmäcker anpassen und zudem | |
| noch auf bestimmte Krankheitsbilder abstimmen kann. Das Wissen gibt sie in | |
| Form von Broschüren, Büchern und im Internet weiter, dazu bei Workshops an | |
| Schulen und für Mitarbeitende von Schul-, Krankenhaus- und andere | |
| Großküchen. | |
| Wie kann man sich das konkret vorstellen? „Nehmen wir als Beispiel | |
| Hülsenfrüchte“, sagt der Brasilianer Vinicius Capovilla, der als Biologe im | |
| Team von Adriana Gálvez arbeitet. „Sie sind traditioneller Bestandteil der | |
| Mittelmeerdiät und preiswerte Eiweiß- und Eisenlieferanten. Aber viele | |
| wissen nicht viel damit anzufangen.“ Er zieht ein dickes Buch aus dem | |
| Regal, das die Fundació Alícia herausgegeben hat. Die Hülsenfrüchterezepte | |
| darin gehen weit über Allerweltsgerichte wie Hummus hinaus und machen sich | |
| die innovativen Kreationen der katalanischen Spitzenköche zu eigen. | |
| „Man kann Linsen zum Beispiel mithilfe eines Siphons aufschäumen. Dann | |
| verlieren sie ihre Schwere, gleichzeitig bekommen sie mehr Volumen. Das ist | |
| gut für Diabetiker, die dadurch das Gefühl bekommen, mehr Sättigendes zu | |
| essen“, erklärt Capovilla. Ebenso lasse sich aus Hülsenfrüchten auch etwas | |
| Knuspriges oder Gelatineartiges machen. „Wir arbeiten [3][mit | |
| verschiedensten Texturen], die wir uns von den Küchenchefs abgeguckt | |
| haben.“ | |
| Gleichzeitig versucht die Stiftung, bestimmte Produkte zu promoten. „In | |
| Katalonien haben wir gerade eine Wildschweinplage. Aber viele Köche wagen | |
| sich an die Tiere nicht heran. Wir versuchen, es ihnen schmackhaft zu | |
| machen“, sagt Vinicius Capovilla. „Oder das Thema Fisch“, wirft Adriana | |
| Gálvez ein. „Die meisten Menschen hierzulande kaufen immer dieselben | |
| Sorten: Lachs, Seehecht oder Kabeljau.“ Dabei hätten die hiesigen Fischer | |
| Probleme, ihren regionalen Fang loszuwerden, sagt Gálvez. „Es gibt | |
| Tintenfischsorten, die sehr schmackhaft sind und viel günstiger als die | |
| üblichen Calamars. Doch kaum jemand kennt sie.“ Im Delta des Ebro wiederum | |
| gebe es zurzeit [4][eine Schwemme von Blaukrabben], auch die gelte es, den | |
| Verbrauchern nahezubringen. | |
| Bei der Ernährung in Krankenhäusern und für Menschen mit speziellen | |
| Erkrankungen geht die Frage nach den richtigen Rezepten über | |
| Produktvielfalt hinaus. Oft würde Patienten nur gesagt, was sie nicht essen | |
| dürfen. „Wenn sie dann noch unter Appetitlosigkeit leiden und keine Lust | |
| zum Kochen haben, läuft es selten auf eine ausgewogene und heilsame | |
| Ernährung hinaus“, sagt Adriana Gálvez. Deshalb haben die | |
| Ernährungsexperten inzwischen Essempfehlungen für insgesamt sechzig | |
| Krankheitsbilder entwickelt, von Bluthochdruck über Schuppenflechte und | |
| Schlafproblemen bis hin zu verschiedenen Krebsarten. Dabei geht es vor | |
| allem darum, Sekundärerscheinungen wie Übelkeit, Verstopfung oder Probleme | |
| mit der Mundschleimhaut zu lindern | |
| Im Internet veröffentlichen sie unzählige Rezeptideen, auch auf Englisch, | |
| die ganz genau auf die jeweiligen Diätvorschriften und Befindlichkeiten | |
| abgestimmt sind. Wo bei Epileptikern ein Pizzateig aus gemahlenen Mandeln | |
| für einen möglichst hohen Fettgehalt sorgen soll, eignet sich für | |
| Diabetiker eher eine kohlehydratarme Teigbasis aus Möhren. Auf den | |
| Menüplänen stehen leichtverdauliche Fisch-Kürbis-Flans, Rote-Bete-Crémes | |
| mit Minze, Hamburger aus Kichererbsen und Pilzen, erfrischende | |
| Apfel-Gurken-Kaltschalen oder Birnen-Granizados mit grünem Tee. So kann | |
| sich eine Genesung katalanisch schmecken lassen. | |
| 19 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrike Wiebrecht | |
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