| # taz.de -- Optimismus und grauenhafte Zahlen: „Hört sich das fatalistisch a… | |
| > Wie können wir die Welt wieder „in Ordnung“ bringen, Armin Nassehi? Der | |
| > Soziologe über das Diabolische bei Merz, fehlende Kompetenz und kleine | |
| > Fortschritte. | |
| Bild: Der Wunsch, dass das Richtige entsteht, wenn wir es wollen, ist gründlic… | |
| [1][taz FUTURZWEI] | Herr Professor Nassehi, unlängst schien uns die Welt | |
| noch in Ordnung. | |
| Armin Nassehi: Mir auch, muss ich jetzt wohl antworten. | |
| taz FUTURZWEI: Das war jetzt schon die ganze Antwort? | |
| Armin Nassehi: Ich habe alles gesagt, wir brauchen gar kein Gespräch. | |
| taz FUTURZWEI: Dann lassen Sie uns präzisieren: Bis zur Wahl von Obama zum | |
| US-Präsidenten waren viele Liberaldemokraten in diesem Modus, dass doch | |
| alles langsam immer besser wird. Seit der ersten Wahl von Trump herrscht | |
| der Eindruck, es werde alles immer schlechter. Wie lange schien denn für | |
| Sie die Welt in Ordnung zu sein oder ist sie jetzt noch in Ordnung? | |
| Nassehi: Sie ist natürlich nicht in Ordnung, das wissen wir ja alle. Aber | |
| sie wirkt dann in Ordnung, wenn wir denken, dass wir mit ein paar | |
| instrumentellen Maßnahmen die Dinge in Ordnung bringen könnten, das ist | |
| nämlich die Ordnung, die gilt. Wir haben große Probleme mit allem | |
| Möglichen, mit Klimafragen, mit Energiefragen, mit Fragen von Ungleichheit, | |
| mit Fragen von Zugehörigkeit. In Ordnung ist die Welt ja dann, wenn Leute | |
| wie wir, die wir unser Geld damit verdienen, Spiegel vorzuhalten, so tun | |
| können, als gäbe es problemlos implementierbare Konzepte. Und darunter | |
| leiden, dass die anderen diese Konzepte nicht in Anspruch nehmen. | |
| taz FUTURZWEI: Es geht darum, die Vorstellung aufrechtzuerhalten, dass die | |
| Welt in Ordnung sein könnte? | |
| Nassehi: Das ist ja eine interessante Art von Ordnung, dass auch wir daran | |
| glauben, dass es sieben Punkte oder, weil es jetzt komplexer ist, 27 Punkte | |
| gäbe, und wenn wir die gegen den Willen derer, die nicht wollen, abarbeiten | |
| würden, dann wäre die Klimaerwärmung weg und dann hätten wir nicht mehr so | |
| ein stressiges Leben und dann müsste man nicht Symbolpolitik an Grenzen | |
| machen. Die große Unordnung besteht inzwischen darin, festzustellen, dass | |
| diese Idee – wenn wir nur das Richtige tun, es richtig wollen und diesen | |
| Willen auch noch mit guter Laune allen anderen als einsichtsfähige | |
| Notwendigkeit unterstellen, sogar wie die alten Linken behaupten, dass das | |
| der eigentliche Willen der Kujonierten sei, wenn wir also nur das Richtige | |
| tun, dann wird das Richtige dabei rauskommen – inzwischen ziemlich | |
| dekonstruiert worden ist. Also auf Deutsch, in die Tonne gekloppt worden | |
| ist. | |
| taz FUTURZWEI: Moment, Moment. Kann ja sein, dass das für die kritischen | |
| Sozialwissenschaftler und Kulturwissenschaftler zutrifft. Aber | |
| Klimaforscher sind immer noch in diesem Modus. Die gehen nur langsam ins | |
| Magische über mit ihren wunderbaren Berechnungen, wie man im Jahr 2070 noch | |
| zurück auf 1,5 Grad kommt. | |
| Nassehi: Naja, die kritischen Sozial- und Kulturwissenschaftler basteln | |
| tatsächlich schön mit an der hübschen Ordnung und wissen genau, was zu tun | |
| ist. Sie repräsentieren diese Ordnung geradezu. Klimawissenschaftler sind | |
| ganz ähnlich, aber auch ein bisschen anders. Sie haben heute immer | |
| komplexere Modelle, sie haben mehr Wissen, aber das macht auch die | |
| Einwirkungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten noch komplexer und | |
| voraussetzungsreicher. Aber Naturwissenschaftler sind Leute, die sagen: Wir | |
| wissen doch jetzt alles und wir wissen, was getan werden muss. Und dann ist | |
| da so eine komische Gesellschaft, und die macht das nicht. | |
| taz FUTURZWEI: Was sagen Sie denen als Sozialwissenschaftler? | |
| Nassehi: Ich kontere dann immer und sage, dass auch eine Gesellschaft ein | |
| interessantes Rückkopplungssystem ist, bei dem bestimmte Parameter zu | |
| unbeabsichtigten Folgen führen, zu Kipppunkten, zu Zuständen, in denen man | |
| womöglich keinen kausalen Zugriff mehr auf bestimmte Dinge hat. Die | |
| Naturwissenschaftler sind wahnsinnig schlaue Leute, aber in ihrer | |
| Kommunikation sind sie oft sehr kausalistisch. Wenn wir x tun, passiert y. | |
| So etwas Ähnliches gilt ja interessanterweise auch für unsereins. Wir | |
| laufen in ähnliche Kurzschlüsse rein, und zwar mit ähnlichen Illusionen. | |
| Jetzt ist die Frage, was ist die Konsequenz daraus? Heißt das, dann lassen | |
| wir es eben? Das kann es nicht sein. | |
| taz FUTURZWEI: Vielleicht wäre ja schon mal nicht schlecht, anzuerkennen, | |
| dass im Moment Ratlosigkeit vielleicht produktiver ist, als Rat zu haben | |
| und Rat zu geben. Und das Frustrierende ist: Sie geben ja alle weiter Rat | |
| und modifizieren den so ein bisschen. | |
| Nassehi: Also, kausale Sätze kriegen wir ja alle hin. Etwa so: Wenn es mehr | |
| [2][Elektroautos] gibt, dann gibt es weniger [3][CO2]-Ausstoß, und dann | |
| wird die Erderwärmung nicht aufgehalten, aber die Kurve ist etwas flacher. | |
| Solche Sätze stimmen, aber sie -erreichen gar nicht die Betriebstemperatur | |
| aller Faktoren, die da mit reinspielen. Und dann kann man sagen, jetzt | |
| machen wir es komplexer und sagen: Dafür muss allerdings der Energiemix | |
| komplett aus erneuerbaren Energien bestehen. Und dann werden noch mehr und | |
| noch mehr und noch mehr Parameter dazukommen. Das überfordert natürlich die | |
| öffentliche Diskussion. Ich rede oft mit vernünftigen Leuten, die | |
| feststellen, dass ihre Lösungen Probleme für die anderen produzieren. Die | |
| sagen alle inzwischen: Wir können gute Entscheidungen eigentlich nur dann | |
| treffen, wenn wir dafür sorgen, dass das nicht in die öffentliche | |
| Diskussion kommt. | |
| taz FUTURZWEI: Weil? | |
| Nassehi: Weil es dann sofort zerpflückt wird. Das zerschießt ja alles, was | |
| wir demokratietheoretisch so hochhalten. Aber wahrscheinlich werden manche | |
| Lösungen nur realisiert, wenn man sie aus den Debatten raushält. Man kann | |
| ja von CO2-Bepreisung halten, was man will, aber die Experten sagen, das | |
| funktioniert nur, wenn das nicht jeden Tag in der [4][Bild-Zeitung] steht. | |
| Ob das stimmt oder nicht, weiß ich nicht, aber es klingt plausibel. | |
| taz FUTURZWEI: Der Gestaltwandel der Öffentlichkeit verhindert, dass man | |
| noch irgendeine ernsthafte Debatte führen kann. Es ohne Öffentlichkeit zu | |
| versuchen, ist dann aber leider nicht mehr besonders demokratisch. | |
| Nassehi: Das ist jetzt ein sehr riskanter Satz, den ich sage, aber die | |
| Frage wäre, ob nicht die meisten Entscheidungen mit großer Wirkung eher | |
| nicht so demokratische Entscheidungen gewesen sind. Aber ohne die | |
| öffentliche Legitimation funktioniert das auch nicht. Nur braucht die | |
| öffentliche Legitimation- Symbolgeschichten. Also [5][Innenminister | |
| Dobrindt] weist 32 Leute in Kufstein ab, und damit ist die Umvolkung | |
| abgewendet und so weiter. Das hat ja alles eine symbolische Bedeutung in | |
| der Öffentlichkeit. | |
| taz FUTURZWEI: Aber das Interessante ist ja, dass das ja genau dazu führt, | |
| dass Leute sich nicht mehr für Politik und politische Aushandlungen | |
| interessieren. Es gibt ja Untersuchungen darüber, dass sich die Abwendung | |
| von Information und von Debatte immer weiter verbreitet. | |
| Nassehi: Wir reduzieren uns auf Lösungen, die keine sind und von denen wir | |
| wissen, dass sie keine sind. Dann sagen wir, man muss das nur richtig | |
| kommunizieren. | |
| taz FUTURZWEI: Genau. | |
| Nassehi: Wenn die Reifen immer wieder geplatzt sind, dann muss man darüber | |
| besser kommunizieren. Dann platzen sie nicht mehr so laut. | |
| taz FUTURZWEI: Kommen wir mal zu den Zahlen des Grauens. Wir haben in | |
| [6][dieser Ausgabe] eine Reihe von Zahlen, die wirklich grausame Fakten | |
| benennen. Es gibt aber auch die Gegenthese, dass die Zahlen und Fakten viel | |
| besser sind, als unser dramatisierendes Reden uns glauben lässt. | |
| Nassehi: Die Zahlen des Heils? | |
| taz FUTURZWEI: Die Zahlen des Heils, ja, genau. Aber erstmal eine Zahl des | |
| Grauens. Die Ausgaben für Rüstung steigen weltweit in diesem Jahr um zehn | |
| Prozent auf 2.718 Milliarden US-Dollar. Die globale Armutsbekämpfung geht | |
| runter auf etwa 200 Milliarden, also auf weniger als ein Dreizehntel davon. | |
| Belegen diese Zahlen, dass die Staaten der Welt auf dem Weg zu mehr | |
| Konfrontation sind? | |
| Nassehi: Die spannende Frage ist, ob die Konflikte vorher da sind oder | |
| danach kommen. Man kann sagen, wir rüsten jetzt alle auf und werden dadurch | |
| sicherer. Der Umkehrschluss wäre, wir rüsten nicht auf und werden dadurch | |
| sicherer. Auch hier gibt’s keine monokausalen Lösungen. Aber das sind in | |
| der Tat Zahlen des Grauens. Das würde ich auch so sehen. | |
| taz FUTURZWEI: Also eine andere verblüffende Zahl: Im Moment herrscht der | |
| Eindruck, die Bundeswehr sei desaströs unterfinanziert. Die Zahlen sagen | |
| aber, dass Deutschland weltweit am viertmeisten für Militär ausgibt, hinter | |
| den USA, China und Russland. Und wenn wir die fünf Prozent vom | |
| Bruttoinlandsprodukt für Nato-Verteidigung ausgeben, dann überholen wir | |
| sogar Russland. | |
| Nassehi: Die Ökonomen sagen immer, dass das Zeug hier teurer ist als in | |
| Russland und man weniger fürs Geld kriegt. Vielleicht ist die Bundeswehr | |
| die Deutsche Bahn unter den Armeen: Wir geben wahnsinnig viel Geld aus, und | |
| die Dinge funktionieren offensichtlich trotzdem nicht. | |
| taz FUTURZWEI: Heißt? | |
| Nassehi: Ich bin gar nicht dagegen zu sagen, dass es so etwas wie | |
| Abschreckungspotenziale geben muss. Wahrscheinlich muss es das im Moment. | |
| Aber einfach die Ausgaben zu erhöhen, wird keines der Probleme lösen. Wie | |
| man übrigens bei der [7][Deutschen Bahn] auch durch die Erhöhung der | |
| Ausgaben die Züge wohl nicht pünktlicher macht. Es ist wohl eher ein | |
| Umsetzungsmanagement-, Komplexitätsbearbeitungs- und wahrscheinlich auch | |
| ein Mutproblem, die Sachen entsprechend zu machen. | |
| taz FUTURZWEI: Es liegt nicht an zu wenig Geld, wie wir in Deutschland | |
| regelmäßig glauben? | |
| Nassehi: [8][Geld] ist immer zu wenig, das liegt schon in seiner Funktion | |
| begründet. Ich würde aber eher sagen: Es gibt offensichtlich ein | |
| Kompetenzproblem. | |
| taz FUTURZWEI: Und die Regierung hat jetzt richtig Geld zum Ausgeben. | |
| Nassehi: Ja, [9][Kanzler Merz] hat einen ganzen Wahlkampf damit gemacht, | |
| dass er kein Geld mehr ausgibt. Das hat ja etwas Diabolisches, wenn jemand | |
| wie Merz nun diese Hunderte von Milliarden Schulden aufnehmen muss und | |
| wahnsinnig viel Geld für Infrastruktur ausgibt, wenn die | |
| [10][Ampel-Regierung] an sechzig Milliarden Euro gescheitert ist. Dass das | |
| für viele unglaubwürdig wirkt, ist kein Zufall. Umfragen zeigen, dass man | |
| keinem der politischen Akteure irgendetwas zutraut. Auch der [11][AfD] | |
| nicht. Die Ergebnisse sind demütigend. Es gibt ein generalisiertes | |
| Misstrauen in allgemeine Strukturen, in Kollektives. Und es gibt das, was | |
| man das Zufriedenheitsparadox nennt. | |
| taz FUTURZWEI: Bei mir geht es ja, aber das Allgemeine ist schlecht. | |
| Nassehi: Richtig. Selbst wenn einiges funktioniert, verschwindet dieser | |
| Eindruck nicht, gerade im [12][Osten]. Wer mobil ist, haut dann natürlich | |
| da ab, in diesem Fall meist junge Frauen. Das wissen wir aus der | |
| Migrationsforschung, dass die Leute selten abhauen, weil sie sich von dem | |
| Ziel etwas Besseres erhoffen, sondern fast immer, weil es dort, wo sie | |
| gerade sind, schlecht ist. | |
| taz FUTURZWEI: Egal, über welches gesellschaftliche Teilsystem wir | |
| sprechen, es wird immer gesagt, da ist kein Geld. Aber in Wirklichkeit ist | |
| unheimlich viel Geld, egal ob in Bildung, Medizin oder sozialen Sachen. Das | |
| systemische Problem besteht darin, wie dieses Geld verarbeitet und | |
| verorganisiert wird. Das Verrückte ist, dass trotzdem immer in derselben | |
| Richtung weitergemacht wird. | |
| Nassehi: Was Sie gerade über das [13][Militär] gesagt haben, kann man in | |
| Deutschland auch über die Medizin sagen. Es gibt kaum ein Land, in dem so | |
| viel Geld ausgegeben wird für [14][Medizin]. Und in den objektiven und | |
| vergleichbaren Parametern wie Lebenserwartung oder Gesundheitsstatus sind | |
| wir keineswegs die besten. Am meisten Geld geben wir tatsächlich aus für | |
| diagnostische Maßnahmen, die ziemlich teuer sind. Es funktioniert also die | |
| immer gleiche Lösungslogik. Wenn etwas nicht gut ist, brauchen wir mehr | |
| davon. Wenn etwas nicht funktioniert, brauchen wir mehr: mehr Komplexität, | |
| noch mehr Arbeitsgruppen, noch mehr Lösungsvorschläge. | |
| taz FUTURZWEI: Was tun? | |
| Nassehi: Es ist immer nur more of the same. Und wenn man sparen will, less | |
| of the same. Statt zu fragen: Gibt es eigentlich alternative, dritte | |
| Modelle? Kann man die gleichen Ziele mit anderen Mitteln erreichen? | |
| Schlechtere Gesundheitssysteme produzieren das gleiche Ergebnis. Und vom | |
| [15][Bildungssystem] wollen wir gar nicht erst reden. Wir stecken da | |
| wahnsinnig viel Geld rein und gönnen uns, dass sieben Prozent eines | |
| Jahrgangs, in manchen Regionen erheblich mehr, keinen Abschluss haben. Und | |
| dass wir an bestimmten Stellen gar nicht mehr unterscheiden können, ob | |
| eigentlich migrantische oder andere Lebenslagen die schlimmsten sind. Und | |
| was machen wir? Wir sagen, wenn weniger Migranten da sind, werden diese | |
| Probleme strukturell gelöst. Da mangelt es manchmal an Ernsthaftigkeit. | |
| taz FUTURZWEI: Es ist der populistische Versuch, Ordnung zu simulieren. | |
| Nassehi: Es ist hochinteressant, dass wir uns Ersatzparameter schaffen, um | |
| Ordnung in die Welt zu bringen. Und das führt uns zum Anfang des Gesprächs | |
| zurück zur Frage: Was sind eigentlich die Parameter, bei denen man selbst | |
| das Gefühl hat, die Dinge im Griff zu haben, wenn man sie nicht im Griff | |
| hat? Das ist die Illusion, über diese Parameter die Dinge zu lösen. | |
| taz FUTURZWEI: Eine Kernthese von Hans Rosling in seinem internationalen | |
| Bestseller Factfulness lautet, dass Politiker und auch normale Menschen | |
| keine richtigen Entscheidungen treffen können, weil sie die Fakten zum | |
| Zustand der Welt ignorieren. Statt Fakten und Statistiken zu lesen, denken | |
| sie sich irgendwas. In seinen Wissenstests hat Rosling herausgefunden, dass | |
| Schimpansen, die zufällig eine Antwort tippen, mehr richtige Antworten zu | |
| Weltfakten geben als Nobelpreisträger. | |
| Nassehi: Ich habe in meinem Freundeskreis wenige Schimpansen. Es wundert | |
| mich dennoch nicht, weil Rosling ja genau damit spielt, die gültigen | |
| Vorurteilsstrukturen aka unser Wissen aufzudecken, die uns Mythen über die | |
| Welt erzählen. | |
| taz FUTURZWEI: Zum Beispiel? | |
| Nassehi: Die Welt wird besser, weil die Zahl der [16][Hungertoten] sinkt | |
| oder die Teilhabe von Frauen größer wird. Über diese kleinen Parameter kann | |
| er Vergleichbarkeiten produzieren, die anderen Parametern widersprechen. | |
| Aber das spannende ist ja, welche Parameter man sich anschaut und welche | |
| Folgen es hat, wenn man, zum Beispiel, erfolgreich Bürokratie abgebaut hat. | |
| Wenn DOGE in den [17][USA] beispielsweise Ämter ausdünnt, die ein | |
| Monitoring der Wasserqualität in Großstädten machen, hat man erfolgreich | |
| den Staatsapparat verkleinert und Bürokratie abgebaut. Aber wenn solche | |
| Daten nicht mehr gesammelt werden, wird man echte Gesundheitsprobleme | |
| bekommen. Es ist eine Frage der Messparameter. | |
| taz FUTURZWEI: Rosling sagt: Dass wir falsche Aussagen über die Welt | |
| machen, liegt an einer dramatisierenden Weltsicht. Wir glauben jetzt, dass | |
| alles immer schlechter und alles immer schlimmer wird. Und bis Trump | |
| dachten viele, es wird alles immer besser. Was denn nun? | |
| Nassehi: Es wird zugleich schlechter und besser. Aber das Schöne an Rosling | |
| ist, dass er die Perspektive wechselt und dann anderes sieht. Die globale | |
| Ernährungssituation ist zum Teil besser geworden, obwohl es oft ganz anders | |
| aussieht. Selbst die Partizipation von Gruppen, die vorher überhaupt keine | |
| Rolle gespielt haben, ist größer geworden, sogar in [18][Diktaturen]. Man | |
| kann dann genauer sehen, was wirklich hilft. | |
| taz FUTURZWEI: Das Verrückte ist ja, dass die permanente Milderung von | |
| Problemen, die vorliegen, über Jahrzehnte tatsächlich funktioniert hat. | |
| Aber nun sind wir an den systemischen Grenzen dieses Verfahrens und es gibt | |
| eine totale Unfähigkeit, das überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. | |
| Nassehi: Das sehe ich auch so. Die Unfähigkeit, das zur Kenntnis zu nehmen, | |
| liegt natürlich an den Kategorien. Man kann etwa an der Rate der weiblichen | |
| Partizipation am Wirtschaftsleben manchmal mehr über auch nicht-ökonomische | |
| Bereiche eines Landes erfahren als über die bewährten sozioökonomischen | |
| Kategorien. Diese Kategorien haben sich einfach bewährt, allerdings nicht | |
| in dem Sinne, dass wir die Probleme gelöst haben, sondern als | |
| Ordnungsprinzip. Die Indikatoren, mit denen wir Erfolg messen, liegen nicht | |
| einfach vor, sondern sind selbst das Ergebnis bestimmter gesellschaftlicher | |
| Praktiken und Erfahrungen. Vielleicht muss man anderes messen und käme so | |
| aus dem Teufelskreis, immer nur innerhalb der gewohnten Parameter more of | |
| the same zu produzieren. | |
| taz FUTURZWEI: To wrap things up: Ist jetzt das Problem, dass wir auf einer | |
| falschen Grundlage Lösungen suchen, also die Fakten einfach ignorieren? | |
| Oder ist das Problem, dass wir in die falschen Strukturen immer mehr | |
| reintun, im Wissen oder Unwissen darüber, dass das so nicht funktionieren | |
| kann? | |
| Nassehi: Die Leute wollen ja erfolgreich sein. Alle, wir ja auch. Aber wie | |
| wird man erfolgreich? Wenn man etwa zum Bundeskanzler gewählt werden will, | |
| sind die Möglichkeiten schon total eingeschränkt. Um eine Wahl zu gewinnen, | |
| ist es in einer Demokratie Voraussetzung, den Leuten Dinge zu versprechen, | |
| die so nicht funktionieren. [19][Robert Habeck] hat Reden gehalten, die in | |
| den letzten Wochen immer wieder gezeigt wurden, in denen er sagt, dass das | |
| Finanzierungsmodell des [20][CDU]-Programms 100 Milliarden Euro | |
| Deckungslücke hatte. Das war ziemlich genau berechnet. Das war richtig, | |
| aber für den Wahlkampf offensichtlich untauglich. Ob das stimmt oder nicht, | |
| das interessiert doch überhaupt niemanden. Das können wir jetzt | |
| oberkritisch kritisieren, aber wenn wir in der Situation wären, würden wir | |
| vielleicht nicht das Gleiche, aber so etwas Ähnliches sagen, weil wir ja | |
| gewählt werden wollen. Wir würden auf keinen Fall hingehen und sagen: Passt | |
| mal auf, Leute, wir müssen jetzt erst mal zugeben, dass das, was wir machen | |
| wollen, mit einer höheren Kreditaufnahme verbunden ist, oder ihr müsst erst | |
| mal verzichten, worauf auch immer. Effektiver ist der Satz, die Kritik der | |
| Opposition eben als das abzutun, was sie ist: die Kritik der anderen. Das | |
| ist das Spiel, aus dem schwer zu entkommen ist. Nicht einmal durch Appelle. | |
| Deshalb muss man den Leuten Dinge versprechen, die sie nie kriegen werden, | |
| um dann etwas anderes tun zu können, was nötig wäre. Hört sich das | |
| fatalistisch an? Ein bisschen schon, aber das ist es, was ich damit meinte, | |
| dass wir immer schon eingelassen sind in die Erwartungsstrukturen, die | |
| wirken. | |
| taz FUTURZWEI: Wir sind in einer Phase, in der der temporäre, vielleicht | |
| scheinbare Siegeszug der rationalen Argumente gerade abgeschafft wird. | |
| Offenbar, weil die Lösungskompetenz bis zu einem bestimmten Niveau super | |
| funktioniert hat und nun nicht mehr. Und dann kommen die anderen und sagen, | |
| das interessiert uns ja alles nicht. | |
| Nassehi: [21][Trump] geht ja hin und sagt, wenn wir die Hälfte der | |
| Bürokratie abschaffen, ist alles gut. Das sind ja tatsächlich Lösungen, die | |
| man erreichen kann. Es ist gar nicht so schwer, die Hälfte der Bürokratie | |
| abzuschaffen. Zumindest in den USA geht das. Zu sagen, wir machen jetzt die | |
| Grenzen zu, ist auch eine simple Form von Lösung. Die Leute, die mit | |
| demokratischer Legitimation solche Dinge machen, sind dann erfolgreich, | |
| wenn sie die Erfolgsbedingungen sehr einfach formulieren. Wir würden auf | |
| die Folgeprobleme hinweisen, aber die sagen: Quatsch, ich habe die Lösung. | |
| Und diese Lösungen sind so simpel: Wir machen die Grenze zwischen Frankfurt | |
| und Słubice zu, dann ist das Migrationsproblem gelöst. | |
| taz FUTURZWEI: Das glauben Merz und Dobrindt ja selbst nicht. | |
| Nassehi: Die präsentieren das und sagen, das Problem ist gelöst. Als | |
| Zahlenbeleg gilt dann die gesunkene Antragsquote. Jeder, der ein bisschen | |
| was davon versteht, weiß genau, dass damit das Problem nicht gelöst ist, | |
| denn der Syrer, der den Rechten stört, ist ja immer noch da. | |
| taz FUTURZWEI: Wenn ich politisch etwas erreichen will, darf ich nicht | |
| darüber sprechen. Wenn ich eine Wahl gewinnen will, muss ich unglaubliches | |
| Zeug versprechen, was niemals kommen wird. Und ja nicht auch nur annährend | |
| auf die Realität eingehen wie Robert Habeck. Wenn wir zusammenfassen, was | |
| Sie gesagt haben, Herr Nassehi, dann kann man kaum noch den Eindruck | |
| aufrechterhalten, dass wir im aufgeklärten Zeitalter leben. | |
| Nassehi: Wenn man den alten Königsberger zitiert, müsste man ihn genau | |
| zitieren. [22][Kant] hat gesagt, wir leben nicht in einem aufgeklärten | |
| Zeitalter, sondern in einem Zeitalter der Aufklärung. Es ist alles noch | |
| nicht gut, aber mit vernünftigen Bemühungen wird es dazu kommen, dass es | |
| gut wird. Aber wir diskutieren jetzt auch schon seit einer ganzen | |
| Generation, dass diese Fortschrittserzählung nicht mehr so richtig | |
| funktioniert, oder? | |
| taz FUTURZWEI: Wir haben mit Adorno angefangen und könnten jetzt mit Kant | |
| aufhören? | |
| Nassehi: Eine Bemerkung noch: Was oft übersehen wird, ist, dass in den | |
| kleinen Praktiken diese Fortschrittserzählung weitererzählt wird. Wir haben | |
| nicht die große Lösung, keinen großen Fortschritt, aber die kleinen | |
| Fortschritte, die haben wir. Und die Frage für mich ist, ob es nicht die | |
| kleinen Schritte und Fortschritte sind, die eine List evolutionärer | |
| Veränderungen im Großen entfalten können. Für diesen Gedanken bin ich oft | |
| als kleinmütig gescholten worden, aber nur von denen, die die ganz großen | |
| Sätze machen. Und damit wären wir wieder am Anfang. | |
| 🐾 Lesen Sie weiter: Die neue Ausgabe unseres Magazins taz FUTURZWEI N°34 | |
| mit dem Titelthema „Zahlen des Grauens“ [23][gibt es jetzt im taz Shop]. | |
| 23 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
| Harald Welzer | |
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