# taz.de -- Nobelpreis für chinesischen Häftling Liu: Sanfter Vorkämpfer fü… | |
> Mit Liu Xiaobo wird Pekings Staatsfeind Nummer eins ausgezeichnet. Der | |
> seit 2008 inhaftierte Philosoph kämpft seit mehr als 20 Jahren für mehr | |
> Freiheit in China. | |
Bild: Demonstranten in Hongkong halten das Bild mit Liu Xiaobo und der Nobelpre… | |
PEKING taz | Wann wird Liu Xiaobo erfahren, dass er den Friedensnobelpreis | |
erhalten hat? Zeitung zu lesen, erlauben ihm seine Wärter nicht, | |
ausländische Radiosender darf er nicht hören. Ob seine Frau Liu Xia es ihm | |
bei ihrem nächsten Besuch im Gefängnis erzählt? | |
Vielleicht. Seitdem der 54-jährige Literaturwissenschaftler und Philosoph | |
Liu Xiaobo im vergangenen Dezember wegen "Anstiftung zur Untergrabung der | |
Staatsgewalt und zum Umsturz des sozialistischen Systems" zu elf Jahren | |
Haft verurteilt wurde, darf seine Frau Xia ihn nur einmal im Monat sehen - | |
und dabei nur über Alltägliches und Familienangelegenheiten sprechen. | |
"Ich konnte ihm nie sagen, dass sich so viele Menschen für ihn einsetzen | |
und dass er zu den Favoriten für den Friedensnobelpreis gehörte", sagte die | |
49-jährige Künstlerin der taz vor wenigen Tagen in Peking. Gestern sagte | |
sie nun gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, die Polizei habe ihr | |
mitgeteilt, sie könne in die Provinz Liaoning reisen, um am Samstag ihrem | |
Mann von der Ehrung zu berichten. | |
Die chinesische Regierung reagierte zunächst mit Schweigen auf die | |
Auszeichnung. Die Entscheidung aus Oslo sei "zur Kenntnis" genommen worden. | |
Später verlautete das Außenministerium aber: "Liu Xiaobo ist ein | |
Krimineller, der wegen Verstößen gegen chinesisches Recht verurteilt | |
wurde." Die Internetzensoren hatten Hochbetrieb: Wer bei Google oder dem | |
chinesischen Baidu den Namen Lius eintippte, dessen Bildschirm fror sofort | |
ein. Dennoch verbreitete sich die Nachricht blitzschnell über die | |
Mikroblogs und chinesischsprachige Zeitungen im Ausland. | |
Beharrlicher Kampf | |
Mit der Ehrung Lius erinnert das norwegische Komitee in Zeiten des | |
weltweiten Staunens über das chinesische Wirtschaftswunder an eine einfache | |
Wahrheit: Keine Regierung hat das Recht, ihre Bürger zu unterdrücken und | |
ihnen die elementaren Freiheiten zu nehmen. | |
Liu ist der prominenteste und beharrlichste politische Denker aus der | |
chinesischen Bürgerrechtsbewegung: Seit über zwanzig Jahren setzt er sich | |
für Meinungsfreiheit und den friedlichen Wandel ein - und dafür hat er | |
immer wieder die eigene Freiheit verloren. | |
Als er in jener Dezembernacht vor dem "Internationalen Tag der | |
Menschenrechte" des Jahres 2008 von Polizisten verschleppt wurde, war er | |
vorbereitet: Wenige Stunden später sollte ein von ihm mit verfasster | |
Reformappell "Charta 08" online veröffentlicht werden, den Liu und über 300 | |
Mitstreiter unterzeichnet hatten. Nach dem Vorbild großer | |
Freiheitsmanifeste wie der "Magna Charta" Großbritanniens und der | |
tschechoslowakischen "Charta 77" erschien in China nun erstmals ein | |
Dokument, das nicht nur die bestehende Ordnung kritisiert, sondern eine | |
politische Zukunftsvision für China entwirft. Seine Autoren sprechen sich | |
für einen Mehrparteienstaat aus, in dem die Bürger keine Angst davor haben | |
müssen, ihre Meinung zu äußern, für unabhängige Gerichte und | |
Religionsfreiheit. Die Charta 08 fordert nicht die Abschaffung der | |
Kommunistischen Partei, sondern die Möglichkeit, sie friedlich abzuwählen. | |
Trotz aller Versuche der Behörden, den Appell sofort aus dem Internet | |
verschwinden zu lassen, verbreitete sich das Dokument schnell im Netz. Die | |
Polizei hatte Liu - nach dem bösen alten Motto "das Huhn töten, um die | |
Affen zu erschrecken" - zwar festgenommen und die 303 Erstunterzeichner | |
einzeln verhört und verwarnt. Dennoch: In den Tagen und Wochen darauf | |
unterschrieben tausende Chinesen aus allen Teilen des Landes, bekannte | |
Schriftsteller, Professoren, Anwälte und ehemalige Parteifunktionäre ebenso | |
wie gewöhnliche Bürger. Auf über achttausend Namen soll die Liste | |
inzwischen angewachsen sein. | |
Absolut gewaltfrei | |
Wie gefährlich diese Art des zivilen Widerstands nach Ansicht der Regierung | |
ist, zeigt sich in dem scharfen Urteil, das die Pekinger Richter am zweiten | |
Weihnachtstag 2009 in einem Schnellverfahren verhängten: Bis zum Jahr 2020 | |
soll Liu für das "Verbrechen" büßen, die Allmacht und Willkür der Partei | |
herausgefordert zu haben. | |
Liu wird im Dezember 1955 in eine Militärfamilie in der nordostchinesischen | |
Industriestadt Changchun geboren. Als die Hochschulen nach der | |
Kulturrevolution wieder geöffnet werden, schafft er im Jahr 1978 die | |
Aufnahmeprüfung an die Pädagogische Hochschule der Stadt Jilin. Er gehört | |
zu jener Generation von Bürgerrechtlern, deren Jugend vom Personenkult um | |
den KP-Vorsitzenden Mao Tse-tung, von Fraktionskämpfen und gegenseitigen | |
Denunziationen der Rotgardisten in der "Großen Proletarischen | |
Kulturrevolution" geprägt wurde. | |
Wie viele chinesische Intellektuelle wirft er sich in den achtziger Jahren | |
auf die philosophischen Bücher, die erstmals wieder aus dem Ausland nach | |
China hereinkommen. Liu verschlingt die Werke Nietzsches und anderer | |
deutscher Denker wie Hegel, Kant und Heidegger. Er veröffentlicht bald eine | |
Fülle eigener Artikel in chinesischen Zeitschriften, in denen er kritisch | |
mit den Werken chinesischer Schriftsteller und der Haltung der | |
Intellektuellen gegenüber der Obrigkeit umgeht. | |
Mit seinen radikalen und - damals nicht selten schroff vorgetragenen - | |
Ansichten stößt er in seinen jüngeren Jahren selbst liberal gesinnte | |
Chinesen vor den Kopf: Als Studenten 1989 den Tod des relativ | |
aufgeschlossenen KP-Chefs Hu Yaobang beklagen, schilt er sie als Heuchler | |
und fragt, warum sie nicht um den Dissidenten Wei Jingsheng trauerten. Der | |
sitzt seit 1979 im Gefängnis, weil er es gewagt hat, Demokratie zu fordern | |
und den damaligen starken Mann Deng Xiaoping zu kritisieren. | |
In den folgenden Jahren reist Liu zu kürzeren Forschungsaufenthalten in | |
Ausland, unter anderem nach Oslo und Hawaii. Als im April 1989 Pekinger | |
Studenten auf den Tiananmen-Platz marschieren und für größere Freiheiten | |
demonstrieren, kehrt Liu vorzeitig aus den USA zurück. Er schließt sich der | |
Demokratiebewegung an, organisiert Seminare und ermahnt die Studenten | |
dabei, mit der "Demokratie im Kleinen" zu beginnen. Liu setzt sich für | |
absolut gewaltfreien Widerstand ein - bis Deng und die Hardliner in der | |
Partei die Panzer gegen die Demonstranten rollen lassen. In der Nacht zum | |
4. Juni gelingt es Liu, mit den Militärs zu verhandeln und die Studenten | |
zum Abzug vom Tiananmen-Platz zu überreden. Zwei Tage später wird er | |
verhaftet. Die Behörden werfen ihm vor, "Drahtzieher" der Proteste gewesen | |
zu sein, und werfen ihn für 18 Monate ins Qincheng-Gefängnis in Peking. | |
Aus dem einst scharf argumentierenden Liu ist in diesen Jahren ein | |
versöhnlicher und liebenswürdiger Mann geworden, der trotz aller Schikanen | |
immer wieder bereit ist, gegen Unrecht zu protestieren und für andere | |
einzutreten. Seiner Grundüberzeugung, dass Konflikte friedlich und | |
vernünftig gelöst werden müssen, bleibt er trotz aller Schikanen treu. | |
In seiner Verteidigungsrede vom Dezember 2008, die er vor Gericht nicht | |
halten darf, sagt Liu, er habe "empfinde keinen Hass" - auch nicht gegen | |
die Polizisten und die Richter, die ihm seine Freiheit raubten. Seiner Frau | |
Liu Xia, die, wie sie sagt, "nie etwas mit der Politik zu tun haben, | |
sondern nur ein ruhiges Leben als Künstlerin führen wollte", hat er darin | |
eine der schönsten Liebeserklärungen gemacht: "Auch wenn man mich zu Pulver | |
zermahlt, meine Asche wird dich umarmen." | |
1 Jan 1970 | |
## AUTOREN | |
Jutta Lietsch | |
## TAGS | |
Friedensnobelpreis | |
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